Bleiwüste der Banalitäten

Volker Weidermanns „Dichter treffen“ dokumentiert unfreiwillig das Elend der deutschen Literaturkritik

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Begegnungen mit Autoren“ untertitelt Volker Weidermann sein DICHTER treffen-Buch, wobei die Schreibweise das Wortspiel illustrieren soll. Konkret sind es 52 sogenannte Treffen plus eine Geschichte über den „Planet Deutschland“ (Schriftsteller in Deutschland, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, darunter auch Maxim Biller). Schon im Vorwort wird deutlich, dass der Begriff der Begegnung bis zur Unkenntlichkeit gedehnt wird. Vier Autoren konnten sich der Umarmung durch Weidermann nicht erwehren: Jakob Arjouni, Günter Grass, Christa Wolf und Marcel Reich-Ranicki erhalten schwärmerische Nachrufe, von denen insbesondere der Text zu Christa Wolf den Tatbestand des verklärenden Kitschs erfüllt. Andere Aufsätze sind Berichte von Veranstaltungen, bei denen Weidermann als eine Art Reporter zu Gast war (Bundespräsident Rau bei Walter Kempowski zum Beispiel oder die Abschiedsfeier von Michael Krüger beim Hanser-Verlag). Bei Herta Müller gehörte er zu denen, die nach der Nobelpreisbekanntgabe vor ihrem Haus in Berlin-Friedenau warteten. Und auch Stieg Larsson hat er nie getroffen, dafür allerdings seine Familie und die Lebensgefährtin, und es geht natürlich um die Erbstreitigkeiten und den ominösen vierten (unvollendeten) Roman.

Die Texte sind zwischen 1998 und 2016 in den Publikationen, für die Weidermann geschrieben hat, erschienen (Die Tageszeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung bzw. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Der Spiegel) und im Buch chronologisch geordnet. Zu jedem Text gibt es ein Foto des jeweiligen Schriftstellers. Fotografen sind bei den Treffen nur manchmal anwesend, daher werden auch Agenturfotos verwendet. Der Reigen beginnt mit Ken Kesey und endet mit Orhan Pamuk. Nur eine Begegnung wird als Interview geführt (mit Michel Houellebecq; zusammen mit Nils Minkmar). Die meisten Autoren sind deutschsprachig (40). Im Durchschnitt nimmt ein Text fünf bis sechs Seiten ein (inklusive Bild); länger sind die Texte über Larsson, zu Peter Handke und Feridun Zaimoglu sowie die Nachrufe auf Reich-Ranicki und Grass.  

Ganz am Ende heißt es „zum Buch“: „Volker Weidermann kennt sehr viele Autoren, trifft aber nur diejenigen, die ihm wirklich gefallen“. Daher also Felicitas Hoppe und Eva-Maria Hagen statt Friederike Mayröcker oder Brigitte Kronauer? Statt Ulrich Peltzer oder Rainald Goetz Ernst-Wilhelm Händler und Clemens Meyer? Natürlich auch keine Esther Kinsky, kein Botho Strauß, Jonathan Littell oder Andrzej Stasiuk. Dafür Klaus Barski und Eva-Maria Hagen. Ist das ein ästhetisches Programm oder doch eher Mangel an Gelegenheit(en)? Dabei wäre es doch gerade interessant, jene Autorinnen und Autoren aufzusuchen, mit deren Werken man wenig anfangen kann. Aber egal. Schließlich kann Weidermann nichts für den Klappentext des Verlags. Der verspricht vollmundig „tiefe Einblicke“ in „Leben und Werk der Porträtierten“.

Wenn es denn so wäre. Der wichtigste Einblick: An diesem Buch zeigt sich exemplarisch das Elend der deutschen Literaturkritik. So viele Texte, die krachend an ihrem Anspruch scheitern. Denn es sind überhaupt keine Porträts, sondern Vorstellungstexte zu Neuerscheinungen garniert mit einigen wenigen Szenen einer Begegnung (Kleidung, konsumiertes Getränk, ein Lachen hier oder da). Der überwiegende Teil eines solchen Texts besteht aus einer ausführlichen Inhaltsangabe und hemmungslosem Lob in mundgerechten Stückchen für die nächste Werbeanzeige. Über die Hintergründe der Begegnungen verliert Weidermann kaum ein Wort. So ist es inzwischen Usus, dass Verlage Kritiker zur Vorstellung eines Buches einladen: Besichtigung des Handlungsorts, Gespräch mit dem Autor, gemütliches Ambiente – ein schönes Wochenende, natürlich alles bezahlt. Einige der Texte im Buch sind auf diese Weise zustande gekommen. Aber welche?

Boulevard statt Feuilleton, Reisebericht statt Rezension. Dröhnendes Marketing-Pathos mit knackigen Superlativen, die, wenn sie derart inflationär eingesetzt werden, zur Phrase verkommen. Da ist schnell etwas „meisterhaft“, „phänomenal“ oder einfach nur „unglaublich“. Die Mahlzeiten sind „köstlich“. Tom Wolfes Empfangszimmer ist ein „fantastischer Raum“. Überall entdeckt Weidermann „Meisterwerke“ und/oder „Legenden“. Einer Autorin wird „Authentizität“ attestiert, einem anderen Autor eine „authentische Körperlichkeit“. Was man nicht wusste: Feridun Zaimoglu ist „einer der großartigsten, die wir haben“. Und Jan Peter Bremer „[u]nser genialer Mikro-Romancier“. „Wir“ und „Unser“. Umberto Eco war derjenige, „der nur in Büchern lebt“, während Paul Nizon der Mann ist, „der auf Buchstaben durchs Leben geht“. Irgendwann wird da jemand zum „Gala“-Reporter. Krügers Abschiedsfeier war „würdevoll“. Und Christoph Ransmayr hatte kurz vor dem Treffen 2006 geheiratet und „ein silberner Ring leuchtet, wie zum Beweis, an seiner Hand“. Damit wäre das geklärt.  

Immerhin hat der Autor seine rhetorischen Gymnastikübungen à la „Natürlich nicht. Und natürlich ja. “ oder, noch knapper, „Nein. Und ja. “ irgendwann eingestellt. Es gibt inzwischen auch lange Sätze, insbesondere bei Inhaltsangaben. Aber manche Bilder sind so schief wie bei Loriot. Und leider ist das Resultat am Ende eines Texts manchmal ähnlich wie im Sketch und der Leser sitzt vor den Trümmern der Volker-Weidermann-Lobpreisung. Ist denn nun die Hauptfigur in Orhan Pamuks Roman Diese Fremdheit in mir ein Hans im Glück oder eher Hans Castorp? Sitzt Weidermann mit Pamuk am „Regierungsschreibtisch“ oder „Weltschreibtisch“? Und wie war das mit Oskar Pastiors Haar gewesen, welches doch angeblich „in den Himmel“ wuchs? Und Weidermanns kindliche Freude, als er mit Jonathan Franzen auf einer Vogelwanderung im Berliner Umland erstmalig einen Kleinspecht gesehen hatte: „und ich bin dabei gewesen“. Spätestens hier stellt sich die Frage: Liest das wirklich niemand mehr vor der Veröffentlichung?

Aber gemach. Es gibt auch Texte, die vom Strickmuster abweichen und berühren. Das ist sehr oft der Fall, wenn Weidermann keine Neuerscheinungen vorstellt, sondern anlasslos sich zum Beispiel dem Werk eines vielleicht vergessenen oder eher kritisch beäugten Schriftstellers widmet, wenn er von der Begegnung mehr als nur über die Pulloverfarbe berichtet, sondern Fragen und Antworten rekapituliert. Dann bekommen diese Texte plötzlich Tiefe und Spannung. Etwa sein Besuch beim einst so erfolgreichen wie vom Feuilleton verschmähten Johannes Mario Simmel 2007, anderthalb Jahre vor dessen Tod. Oder mit Peter Handke 2006 in Madrid, als dieser in den Feuilletons als Unperson galt. Naturgemäß kann Weidermann mit Handkes vehementer Journalismus-Kritik nichts anfangen – aber er denunziert sie wenigstens nicht. Der Besuch bei Gabriele und Reiner Wohmann und die Frage, warum eine Dichterin wie Gabriele Wohmann plötzlich vergessen ist, bewegt ebenso. Oder das Treffen mit Paul Nizon, dem Siegfried Unseld einst eine Weltkarriere voraussagte und der heute nicht mehr als einer der geheimsten Geheimtipps ist, animiert mich, den Leser, das einst ruckartig aufgegebene Nizon-Lesen neu aufzunehmen.

Man erfährt vom inzwischen verstorbenen Interviewkünstler André Müller, dass er in Wirklichkeit kein Interesse an seinen Gesprächspartnern hatte und stattdessen lieber Selbstgespräche geführt hätte. Siegfried Lenz, der „deutsche Däne“ (Lenz lebte zeitweise auf einer kleinen dänischen Insel), bat Weidermann, die Kartoffeln mit „Andacht“ zu essen. Bei Karl Ove Knausgård ist es Weidermann plötzlich peinlich, „im Roman zu sitzen“ (er fürchtet die „Verarbeitung“ des Treffens in dessen autobiographisch geprägter Prosa). Schade ist nur, dass Weidermann nicht mindestens einmal nach den fiktionalen Stellen in Knausgårds Min Kamp-Büchern fragt sondern alles Gelesene im Sinne des Autors als dokumentarisch liest.

Es gibt sie also, die kleinen Oasen des Leseglücks inmitten der Bleiwüste der Banalitäten. Aber am Ende überwiegt der Eindruck, dass die Publikation dieser Textsammlung neben der Moderation im Literarischen Quartett ein weiterer Baustein in die Installation der Kritikermarke Volker Weidermann sein soll.

Titelbild

Volker Weidermann: Dichter treffen. Begegnungen mit Autoren von Arjouni bis Zaimoglu.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
349 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462048964

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