Im Werden begriffen

Michail Bulgakows Romandebüt „Die Weiße Garde“ in neuer Übersetzung

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seitdem Alexander Nitzberg vor sieben Jahren eine neue Übersetzung von Michail Bulgakows Klassiker Der Meister und Margarita vorgelegt und dem deutschen Publikum den russischen Meister in einem völlig neuen Ton präsentiert hat, veröffentlicht er fast jedes Jahr eine weitere Bulgakow-Übersetzung. Im Fall von Bulgakows Romandebüt Die Weiße Garde könnte man statt von einer weiteren neuen auch von der ersten richtigen Übersetzung sprechen – obwohl seit Ende der 1960er Jahre deutsche Fassungen vorliegen. Dass es so schwer ist, Die Weiße Garde zu übersetzen, liegt nicht zuletzt am Original.

Von dem Roman existieren mindestens zwei Fassungen. Die eine besteht aus 13 Kapiteln, die die Zeitschrift Rossija ab 1924 veröffentlichte. Die andere, deutlich umfassendere erschien in zwei Bänden in Paris mit einem Schluss, den jemand anderes verfasst hatte und der nicht autorisiert war – weswegen Bulgakow ihn in einem eigenen zweiten Band korrigierte. Zur Zeit der Niederschrift des Romans verarbeitete Bulgakow den gleichen Stoff außerdem in dem Theaterstück Die Tage der Turbins, erzählte darin aber eine andere Geschichte. Kleine Randnotiz: Obwohl das Stück, das 1926 in Russland Premiere feierte, wie der Roman von den Feinden der russischen Revolution handelt, soll es übrigens zu Stalins Lieblingsstücken gehört haben. Das hielt den Diktator Ende der 1920er Jahre jedoch nicht davon ab, über den Schriftsteller und Theaterdramaturgen ein Publikationsverbot zu verhängen.

Diese Veröffentlichungsgeschichte macht es schwer, den Roman Die Weiße Garde zu übersetzen, und erst jetzt, mit den ergänzenden Kapiteln und mithilfe von Nitzbergs ausführlichen Anmerkungen, können die deutschen Leserinnen und Leser miterleben, wie Bulgakow aus den historischen Ereignissen aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs, gespiegelt in den Gesichtern seiner Figuren, eine literarische Erzählung entwickelte. Nitzberg erklärt, dass, obwohl als Roman angelegt, Die Weiße Garde „alles andere als narrativ“ aufgebaut ist: „Bulgakow erzählt keine Geschichte, vielmehr entwirft er Räume und Bildsphären, in welchen er einzelne Gegenstände oder Personen allmählich aus dem alles umhüllenden Nebel (dieser zentralen Metapher der Weißen Garde) hervortreten lässt.“ Es erleichtert die heutige Lektüre nicht, dass Bulgakows Debüt an ein zeitgenössisches Publikum adressiert ist, das die kleinen Anspielungen verstehen oder in der Originalfassung an der russischen oder ukrainischen Schreibweise eines Namens die Figur politisch zuordnen konnte. Was das Debüt ohnehin schon prägt, ist der phantastische Realismus und die absurde Erzählperspektive, die zugleich um jedes Ereignis weiß, aber doch befremdet bleibt, eine Perspektive, die das einmalige Werk Der Meister und Margarita ausmacht.

Die historische Epoche, von der Bulgakows Debüt handelt, ist in Deutschland heute nur einem Fachpublikum bekannt – obwohl sich aktuelle Konflikte vor diesem historischen Hintergrund besser erschließen ließen. Der Roman spielt in der Ukraine, die sich nach der Revolution 1917 zunächst von Russland abspalten wollte; am 19. November rief der Zentrale Rat die Ukrainische Volksrepublik aus. Ab diesem Zeitpunkt ging es hin und her: Die Bolschewiki eroberten Anfang 1918 Kiew, die alte nationalistische Regierung kehrte im Frühjahr mit deutscher Unterstützung zurück. Der General Pawel Skoropadski – beziehungsweise auf Ukrainisch Pavlo Skoropadskyj – übernahm die Staatsführung, sah sich aber alten und neuen Feinden gegenüber: russischen Nationalisten, Revolutionären, Mitgliedern der alten ukrainischen Regierung usw. Sein berühmtester Gegenspieler war Symon Petljura, Mitbegründer der Ukrainischen Arbeiterpartei, den Skoropadski/Skoropadskyj zunächst verhaften ließ, aber auf Druck der Deutschen, die die ukrainischen Nationalisten beruhigen wollten, wieder freiließ. (1926 wurde wiederum Petljura im Pariser Exil von Scholem Schwarzbard erschossen, als Rache für die von seinen Einheiten verübten Pogrome.) Von dieser Umbruchszeit handelt Die Weiße Garde, und der Roman schildert sie aus Sicht der Revolutionsgegnerinnen und -gegner. So klagt Turbin: „Wir haben jetzt etwas ganz anderes, etwas viel Schlimmeres als den Krieg, als die Deutschen, als – ach – einfach alles. Wir haben jetzt Trotzki.“

Doch auch wer Revolutionen und die Bolschewiki hasste, musste sich nach 1917 fragen, auf welcher Seite die Mehrheit der Bevölkerung stehen würde, um sich ein Bild davon machen zu können, welche Regierung die größten Chancen habe, längerfristig zu bestehen. „Versteh doch“, sagt eine der Figuren im Flüsterton, es sei „sogar sehr, sehr gut möglich, dass Petljura hier einmarschiert. Petljura hat an sich ja gute Wurzeln. Innerhalb der Bewegung sind auf seiner Seite die Volksmassen, und das wäre, du weißt schon …“ Menschen handeln nicht immer rational, und gerade verwirrende Zeiten sorgen für verwirrtes Verhalten. Gerüchte beherrschen das öffentliche Leben. Aus einer Unterhaltung während einer Droschkenfahrt: „– Es kommt zu einem Judenpogrom. – Nein, im Gegenteil: Die tragen rote Bänder. – Lauft mir lieber nach Hause. – Bolbotun ist gegen Petljura. – Nein, im Gegenteil: Er ist für die Bolschewiken. – Nein, ganz im Gegenteil: Er ist für den Zaren, aber ohne die Offiziere.“

Isaak Babel hat in der Erzählungensammlung Die Reiterarmee, die auf seinen Erfahrungen als Soldat basiert, darauf hingewiesen, dass sich die Kosaken der Roten Armee in der Ukraine, was den Judenhass angeht, kaum von den Weißen Garden unterschieden. In ihrer Autobiografie Gelebtes Leben gibt die US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman, die 1920 nach Russland ausgewiesen wurde, die Sichtweise eines für die Ukraine zuständigen Kommunisten wieder, der sogar behauptete, die Ukrainer würden die Arbeit Moskaus sabotieren, weil sie Antisemiten seien und „besessen von der Vorstellung, dass fast die ganze kommunistische Partei im Norden aus Juden bestände“. Bulgakow schildert in Die Weiße Garde ein Milieu, für das die Autorität der Bibel ebenso selbstverständlich ist wie eine Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden. „– Sie meinen wohl Trotzki? – Dies ist der Name, den jener angenommen hat. Doch sein wahrer Name ist auf Hebräisch Abaddon, auf Griechisch aber Apollyon, was da heißt der Verheerer.“ Ein verkürztes Zitat aus der Offenbarung. Die Gesellschaft, von der Die Weiße Garde handelt, so Nitzberg in seinem Nachwort, „erlebt eine Apokalypse“.

In den zurückliegenden zwei Jahren wurde wiederholt an die Revolution in Russland und die Revolutionsversuche im Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg erinnert. Revolutionen ereignen sich allerdings nicht an einem Tag, sondern es sind langfristige Umbruchsprozesse, verwirrend für die Menschen, die in ihnen leben. Bulgakows Debüt Die Weiße Garde macht diese Perspektive nachvollziehbar, die Perspektive eines Milieus, das eigentlich vor allem möchte, dass alles so bleibt, wie es war. Oder wie es die Vorhersehung sagt. Oder doch ganz anders.

Titelbild

Michail Bulgakow: Die weiße Garde. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Galiani Verlag, Berlin 2018.
300 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711591

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