Die lachende Thrakerin oder Porträt des Philosophen als Mann

Eva Weissweiler über Dora und Walter Benjamin in „Das Echo deiner Frage“

Von Alexandra RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter jedem großen Mann steht eine starke Frau. Egal, wie stereotyp solche Gemeinplätze daherkommen, der Widerstand, den sie noch immer hervorrufen, mag ein Indiz für den darin enthaltenen Wahrheitskern sein. Eva Weissweiler hat es gewagt, nach der Frau zu fragen, die für Walter Benjamin gekocht, sein Kind großgezogen, seine Wäsche gewaschen und seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt hat. Die Bedeutung Doras für ihren Mann ist kaum zu überschätzen. In einem Brief an Gerhard Scholem, der ihr Benjamins Tod mitteilte, schreibt sie, der Sinn ihres Lebens sei gewesen, „ihn zu schützen und ihn fähig zum Leben zu machen“. Aus diesem Satz spricht ein Auftrag, der seit Menschengedenken Frauen in ihrer Funktion als Gattin zugemutet wird, aber auch eine erschreckende Bedürftigkeit des Mannes, sei er Wissenschaftler, Künstler oder Philosoph.

Schon Hannah Arendt war Benjamins fehlender Pragmatismus aufgefallen. In ihrem Porträt des „Perlentauchers“ berichtet sie, wie er aus Furcht vor einer Bombardierung von Paris nach Meaux geflüchtet war. Blöd nur, dass sich in Meaux das militärische Hauptquartier befand und die Stadt daher im Visier der deutschen Luftangriffe stand. Auch seine Geliebte Asja Lacis hat sich wiederholt an seiner Wirklichkeitsferne gestört. Als sie sich 1924 auf Capri kennenlernten und er ihr von seinem Habilitationsvorhaben über das barocke Trauerspiel erzählte, fragte sie ihn, was denn dieses bitte schön mit den gegenwärtigen politischen Fragen zu tun habe. Und als er danach kurzentschlossen nach Moskau fuhr, um ihr ein Kind zu machen und sie so an sich zu binden, wies sie ihn zurück. Noch ganz zuletzt berichtet Lisa Fittko, die Benjamin durch die Pyrenäen über die französisch-spanische Grenze führte, dass Doktor Benjamin für dieses Unternehmen in Anzug und mit Koffer denkbar schlecht ausgerüstet war. Auch das allerletzte Glied dieser verhängnisvollen Kette, der Selbstmord in Port Bou, kann als fataler Einschätzungsfehler verbucht werden, da nur wenige Stunden nach Einnahme des todbringenden Gifts die Genehmigung zur Weiterreise eintraf.

Dieses von Frauen wiederholt bemerkte Verpeiltsein, das von der Nachwelt gerne als metaphysisch-existentielle Verlorenheit oder geistige Verstiegenheit entschuldigt wird, war Benjamin bewusst und ihm von Kindesbeinen an vertraut. In dem autobiographisch inspirierten Text Berliner Kindheit quittiert die Mutter sein Verhalten regelmäßig mit dem Satz „Ungeschickt lässt grüßen“. Daraus wird in Benjamins philosophischer Reflexion die allegorisch-metaphorische Gestalt des bucklicht Männlein, ein persönliches Leitmotiv, das den Insassen des entstellten Lebens verkörpert. Hilflos-heroisch richtet sich dieses wunderliche Wesen an ein Kind, das für es beten soll. Augenfälliger kann das Ineinsfallen von realer Handlungsunfähigkeit und tatenloser Melancholie kaum in ein Bild gefasst werden.

So scheint im Rückblick Doras Fazit, mit dem Eva Weissweilers Biographie der Paar-Beziehung beginnt und das sie wie ein roter Faden durchzieht, keineswegs übertrieben. Wahrscheinlich hatte Dora Recht, als sie bezüglich ihrer lebensrettenden Rolle im Brief an Scholem anfügte: „Er wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihm gewesen wäre“.

In dieser Darstellung geht es nicht um den Philosophen Benjamin und sein Denken, sondern darum, was es bedeutete, in der Weimarer Republik die Gattin eines Intellektuellen zu sein. Für diese Generation von Männern war der Bordellbesuch genauso selbstverständlich wie das Ausblenden weiblicher Leistung und Lebenswelt: Schwangerschaften, Geburten, Abtreibungen treten nicht ins Bewusstsein dieser denkenden Köpfe, genauso wenig wie publizistische Arbeiten, denen nur als “Frauenfragen und Frauensorgen” – so der Name einer von Dora produzierten Radiosendung – eine gewisse Existenzberechtigung zugestanden wird. Dabei hat sich auch Walter mit der Ehe beispielsweise intensiv auseinandergesetzt, allerdings in ihrer geschichtsphilosophischen Dimension. In einem seiner Geliebten Jula Cohn gewidmeten Aufsatz zu Goethes Wahlverwandtschaften zeigt er, wie der Bund zwischen Mann und Frau bisher missverstanden wurde als rechtliches Verhältnis (ein Vertrag zur gegenseitigen Nutzung der Geschlechtsteile wie Kants Metaphysik der Sitten ihn in seiner ganzen Absurdität offenbart), bzw. als natürliche Anziehung in Analogie zu den chemischen Affinitäten in Goethes Roman, der die Menschen wie die Moleküle hilflos ausgesetzt sind. Nur wer sich wie die Nachbarskinder der Binnennovelle durch die Tat für die Liebe entscheide, könne gerettet werden – so in etwa die von Walter angedeutete metaphysische Überwindung dieser Aporie.

Inzwischen wird gevögelt, was der Schwanz hergibt. Dora kommt es manchmal vor, als bestünde ihr Mann nur aus „Kopf und Geschlecht“, wie sie in einem Brief an Scholem schreibt. Ähnliche Situationen sind auch aus anderen Intellektuellenbiographien der damaligen Zeit bekannt: Adorno ließ sich von seiner Frau Gretel das Liebesnest herrichten, Heidegger rechtfertigte seinem “Seelchen” gegenüber seine Sexkapaden durch den heiligen, den Denker beflügelnden “Eros”, Brecht benutzte Frauen als unerschöpfliche Quelle sexuell-intellektueller Energie. In Benjamins Briefwechsel mit Freunden werden öfter ärztliche “Behandlungen” erwähnt und Erkundigungen und Tipps eingeholt, bei wem man die eingefangene “Gelbsucht” wohl diskret behandeln lassen könne. Spätestens hier wird klar, dass etwas faul oder zumindest zu kurz gedacht ist an den hochtrabenden Theorien zur Liebe, und dass vielleicht Dora, die sich in ihren Artikeln mit konkreten Problemen der modernen Paarbeziehung auseinandersetzt, in ihrem Ansatz kohärenter ist.

Die Ehe der Benjamins war bei weitem kein Einzelfall und zeigt exemplarisch, wie eine hochgebildete, kreative und progressiv denkende Frau sich dieser Form der Anpassung und Ausbeutung nicht entziehen konnte. Eva Weissweiler erstrebt keine Anklage Walters als König Blaubart, dessen Weg von weiblichen Leichen gepflastert war. Vielmehr geht es um ein Plädoyer für Dora und den Wunsch, ihre Arbeit als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin wieder zugänglich zu machen und nachträglich zu würdigen. Ihre Korrespondenz mit Scholem oder ihrem Mann ist nicht veröffentlicht und ihr Werk – die vorläufige Schriftenliste am Ende der Biografie verzeichnet zwei Romane, sechs Buchübersetzungen und zweiundzwanzig Artikel — nicht ediert. Dass es da vielleicht etwas zu entdecken gibt, zeigt exemplarisch der Text Die Waffen von morgen, der in Benjamins Gesammelte Schriften aufgenommen und unter seinem Namen bereits in andere Sprache übersetzt wurde, obwohl der Herausgeber Tillman Rexroth gewissenhaft vermerkt hatte, dass der Artikel 1925 in der Vossischen Zeitung unter dem Kürzel “dsb”, das für Dora Sophie Benjamin steht, abgedruckt worden war. Doras Autorschaft fiel in der Rezeptionsgeschichte einfach unter den Tisch, nachdem Benjamin den Text in einem Verzeichnis seiner gedruckten Arbeiten aufgelistet und in einer Mappe mit seinen Veröffentlichungen abgelegt hatte.

Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um ein weiteres Beispiel für seine bekannte und von der Forschung eingehend untersuchte Art der “Entwendung”. Für Benjamin war es üblich, Gedanken und Ideen anderer in seine Texte einzubauen und sie in denkerische Konstellationen zu montieren. Sein Kafka-Essay von 1934 zum Beispiel enthält wörtliche, nicht gekennzeichnete Zitate aus Briefen von Adorno und Scholem, notierten Gesprächen mit Brecht, unveröffentlichten Texten von Werner Kraft und publizierten Arbeiten von Willy Haas. Die Korrespondenz mit Ernst Bloch zeugt von einem regelrechten Plagiatswettstreit, wobei sich die beiden offensichtlich nichts schuldig blieben. Auch ist bekannt, dass die enge Freundschaft mit Werner Kraft zerbrach, nachdem Benjamin dessen Entdeckung von Carl Gustav Jochmann, einem bedeutenden Publizisten des Vormärz, als seine eigene ausgegeben und der Veröffentlichung der Schriften durch Kraft vorgegriffen hatte.

Angesichts der oft fahrlässigen oder zumindest sehr lockeren Handhabung der Quellenangaben mag es wie Hohn klingen, wenn Benjamin in seinem Begleittext für die Zeitschrift für Sozialforschung einleitend Jochmanns Rezeption reflektiert. Das “Gedächtnis der Völker” benötige Vermittler, da, was nicht in die Überlieferung eingehe, der “Vergessenheit überantwortet” sei. Diesen Gedanken der “rettenden Kritik” (wie es so schön bei Habermas heißt), den Benjamin wiederholt und in unterschiedlichen Zusammenhängen (so auch in seinem Text zu Bachofen) entwickelte, kommt allerdings weder bei seiner Frau noch gegenüber anderen Autorinnen (man könnte Elisabeth Rottens Dissertation zum Urphänomen bei Goethe oder Charlotte Pingouds Doktorarbeit zur ästhetischen Doktrin Friedrich Schlegels anführen) zum Tragen. Eva Weissweiler lässt gewissermaßen Dora Gerechtigkeit widerfahren, dadurch, dass sie besagte Vermittlerrolle übernimmt und für sie eine Brücke ins Gedächtnis der Nachwelt schlägt.

Doras Texte verdienen durchaus Interesse. Die Impressionen aus New York bestechen durch präzise Beobachtungen und detailreichen Schilderungen wie das urkomische Prosastück Bräute auf Bestellung, das die Ankunft von per Foto ausgesuchten Ehefrauen in Ellis Island beschreibt. Der Reporterin entgeht keine Geste der jungen, heiratswilligen Emigranten, die auf das Anlegen des Schiffes mit seiner teuren Fracht – den bei den heimischen Priestern und ihren Gemeinden in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei angeworbenen Bräuten – warten. Sie gibt mehrere aufgeschnappte Gesprächsfetzen wieder und versetzt sich auch in die Lage und Köpfe der reich ausgestatteten Mädchen, von denen einige in Tracht angereist sind:

Ob viele Heiraten glücklich ausgehen? Warum nicht? Manche sind vielleicht enttäuscht, wenn sie statt des erträumten Helden Janosch mit Schnurrbart nur einen o-beinigen, kahlköpfigen Mikosch erblicken. Aber sie sind tapfer und fassen sich. Hauptsache: sie sind in Amerika. Jedenfalls hat noch keine Jammerbriefe nach Hause geschrieben. Denn die Bräute auf Bestellung treffen weiterhin pünktlich ein. Im vergangenen Jahr waren es 2000 aus allen Ländern Europas.

Dieser konkrete, klare Stil zeichnet auch den Text Die Waffen von morgen von 1925 aus. Der Artikel ist “direkt” politisch, einfach in seiner Argumentation und Aussage und unterscheidet sich deutlich von dem späteren, 1930 nur von Walter verfassten Text zum gleichen Thema. Seine Rezension der von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelschrift Krieg und Krieger, in die drei Passagen aus Die Waffen von morgen Eingang gefunden haben, versucht sich in einer geschichtsphilosophischen Analyse. Wie schon beim Thema der Ehe lässt sich auch beim Thema des “kommenden Krieges” ein Unterschied in der Behandlungsart erkennen. Der höchstwahrscheinlich von Dora verfasste Artikel von 1925 arbeitet mit drei Schlüsselargumenten und endet in einem humanistisch-pazifistischen Appell: Der Gaskrieg verstößt gegen das Völkerrecht, da er auch die zivile Bevölkerung betrifft. Er ist ein reiner Angriffskrieg, da Kampf und Verteidigung nicht möglich sind. Und er verursacht unmenschliche Leiden (Verbrennungen, Verätzungen, qualvolles Ersticken), die nicht zu rechtfertigen sind. Der Einsatz von Giftgasen setze “die Verabschiedung aller menschlichen Regungen voraus”.

Ganz anders wirkt Walters Rezension mit der Überschrift Theorien des deutschen Faschismus, die 1930 in der Zeitschrift „Die Gesellschaft“ erschien. Zwar werden die drei zentralen Argumente aus Die Waffen von morgen erwähnt, jedoch nur am Rande. Im Zentrum steht eine ideengeschichtliche Analyse der Rolle des Krieges im Dispositiv der faschistischen Ideologien und ein Aufzeigen der Gefahren, die von den mystischen Idealisierungen der konservativen rechten Autoren (darunter der Herausgeber der rezensierten Sammelschrift Ernst Jünger) ausgeht.

Dora war promovierte Chemikerin und verfügte über eine klare Vorstellung der irreversiblen Folgen eines Einsatzes von Giftgas für die Menschen: Senfgas “frisst das Fleisch an” und führt Verbrennungen herbei, Lewisit dringt ins Blut und tötet unwiderruflich. Sie kannte Fritz Haber, den “Vater des Giftgaskrieges”, und auch das tragische Engagement seiner Frau Clara war ihr bekannt, die, ebenfalls Chemikerin, wie Dora vor dem Einsatz von Giftgas gewarnt und verschiedene Artikel dazu verfasst hatte. Als 1915 bei Ypern zum ersten Mal Giftgas eingesetzt wurde und ihr Mann dies in seiner Dienstvilla in Dahlem feierte, schoss Clara Haber sich im Garten ihres Hauses mit seiner Dienstwaffe ins Herz. Die Parallele verdeutlicht anschaulich, um was es Dora ging: die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und das Herbeiführen einer konkreten Lösung. So soll etwa in ihrem 1930 erschienenen Roman Gas gegen Gas ein Schutzgas entwickelt werden, das sauerstoffhaltig und gleichzeitig schwerer als das aus der Luft abgeworfene Kampfgas ist.

Dass Doras Texte anders sind, konkreter, engagierter, lässt sich in den zahlreichen ausführlichen Auszügen in Weissweilers Biografie überprüfen und nachlesen. Familienpolitische Themen werden mit spitzer Feder unter die Lupe genommen, wobei die Analysen meistens in einer geistreichen Pointe gipfeln. Dabei entbehren die klaren Stellungnahmen nicht des Humors. Die Kritik ist witzig, oft bis zur Satire gesteigert, so dass man nicht umhinkann, in Dora die lachende Thrakerin des Thales wiederzuerkennen: Während Walter versucht, die großen, mythischen Zusammenhänge der himmlischen Konstellationen zu erfassen, übersieht er den Brunnen vor seinen Füßen, der ihn zu Fall bringt. Und bei aller Bewunderung für seine geistige Leistung ist man als Leserin geneigt, in Doras Lachen einzustimmen.

Titelbild

Eva Weissweiler: Das Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin – Biographie einer Beziehung.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
365 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455006438

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