And I live by the river
Andreas Martin Widmanns Zeitroman „Messias“ beschreibt den Alltag der Apokalypse
Von Svenja Frank
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Bücher mit Transzendenz und Bücher ohne Transzendenz. Andreas Martin Widmann schreibt Bücher mit Transzendenz. Auch in seinem neuen Roman Messias gelingt es ihm, die Wirklichkeit durchlässig zu machen und das zumeist ohne ins Symbolische abzugleiten. Wenn die Hauptfigur Paul wie mit Kopfhörern auf den Ohren durch London streift, dann entsteht eine Lücke zwischen ihr und der Welt – und hierin liegt vielleicht der einzige Hoffnungsschimmer in dieser Geschichte, die von unserem Untergang erzählt.
Messias kreist um eine Familie, die am Rande des Taunus lebt. Paul Helmer arbeitet als Kundenbetreuer für eine Werbeagentur in Frankfurt, die ihn für eine Weile nach London versetzt. Seine Frau Inge, ehemals Lehrerin, gibt währenddessen in Deutschland Fitnesskurse für Frauen im mittleren Alter. Und die erwachsene Tochter, Judith, spielt sich als Künstlerin und Kuratorin auf und spricht lieber von den nächsten Karriereschritten, statt an ihrem Werk zu arbeiten. Lustlos hämmert sie im Garten an einem Speckstein herum, ein Projekt, das noch aus der Schulzeit stammt. Bei den Eltern ist sie untergeschlüpft, weil sie in irgendeiner Weise Schuld auf sich geladen hat. Es gehört zum mystischen Zug des Romans, dass sich erst nach und nach enthüllt, worin diese Schuld besteht.
Aber eigentlich handelt es sich bei diesen drei Hauptfiguren nicht um eine Familie. Die Ehe ist gänzlich leidenschaftsbefreit und der Verdacht drängt sich auf, dass das schon immer so gewesen ist: Irgendwann hat man sich entschlossen, ein Kind zu bekommen. Besonders Inge hat sich diese Tochter aber anders vorgestellt – zugewandter, graziler, anders eben. Es sind drei Menschen, die nur halb am Leben sind. Sie befinden sich auf der Suche nach etwas, das noch unbestimmt ist, vielleicht nach einem Erlöser, wie der Titel des Romans nahelegt, einem Retter. Inge besucht regelmäßig einen Heiler, vom dem sie sich verstanden fühlt und der ihr zumindest die Ahnung von einer anderen Welt verschafft. Paul versucht in London ein Treffen mit einem potenziellen Auftraggeber zu arrangieren. Vergeblich – der unsagbar reiche Geschäftsmann Faisal aus dem Oman entzieht sich ihm immer wieder auf mysteriöse Weise.
Die Erlösung bleibt aus – oder bleibt noch aus: Zweimal gewährt der Roman in einer poetisch-traumartigen Sequenz den Blick auf eine Christusgestalt, die mit blutenden Wundmalen aus dem Wasser steigt. Im Kern geht es in Messias um den Menschen, der in seiner ganzen Durchschnittlichkeit verzweifelt Halt sucht. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen klingen am Rande zwar immer wieder an: Armut in der Wohlstandsgesellschaft, der Krieg in Syrien, die Agitation gegen die Geflüchteten, Homophobie. In seiner Zeitdiagnostik legt Widmann den Fokus aber auf die empfundene Orientierungs- und Sinnlosigkeit des Einzelnen und auf die ganz alltäglichen Grausamkeiten, die wir einander zufügen. Hier zeigt sich auch sein größtes erzählerisches Talent, seine ebenso scharfe wie empathische Beobachtungsgabe. Etwa wenn er beschreibt, wie sich zwei Mädchen im Bus unterhalten: Als ein drittes einsteigt, steht eines der beiden Mädchen, die sich gerade noch unterhalten haben, ohne Erklärung auf und setzt sich zu der Neuen: „Sie hat eine bessere Freundin gefunden.“ Die Zurückgelassene reagiert stoisch – sie kennt das bereits. Dass Inge beim Anblick dieser Szene fast das Herz bricht, lässt zumindest hoffen, dass doch noch nicht alles verloren ist. Widmann zeigt unmissverständlich, dass wir in einer real gewordenen Dystopie leben. Immerhin wird dies seinen Figuren aber nach und nach bewusst und darin kündigt sich verhalten eine Chance an. Ganz unterschwellig formt sich in ihnen der Gedanken, dass es vielleicht auch anders gehen könnte.
Die Umgebung schlittert indes weitgehend unbehelligt in den Abgrund. Wir sehen Frauen, die Frauen spielen und Männer, die Männer spielen. Diese Frauen fahren wie auf Schienen ihre Kinder mit wippenden Pferdeschwänzen im Londoner Nobelviertel Holland Park spazieren und begrüßen sich gegenseitig mit einem exaltierten „Hauaiüüüü!“. Ihre „Buggys unterscheiden sich deutlicher als die Frauen“, denkt Paul. Sie haben die Rolle perfektioniert und darüber vergessen, dass sie noch mehr sind als das. Und dann sind da Männer, die einem eigentlich auch nur leidtun können, wie Pauls ehemaliger Kollege Gerd, der permanent Sprüche klopft und beim Griechen mit „Hombre“ nach dem Kellner ruft. Paul nimmt das alles wie hinter einer Glaswand wahr. Nur in seltenen Momenten tritt so etwas wie die echte Welt mit ihm in Berührung, etwa wenn er aus seinen Gedanken geholt wird und auf seinen Schuh blickt, gegen den ein Junge schon mehrmals mit seinem Roller angefahren ist.
Obwohl die Songs von The Clash im Text mehrmals erwähnt und zitiert werden, ist Widmanns Endzeitstimmung weit von deren Galgenhumor entfernt. Auch die Versuche, eine alternative Gesellschaft aufzubauen, verkommen bei ihm zum Klischee ihrer selbst und sind zum Scheitern verurteilt. Judith – und das hängt, so ahnt man, irgendwie mit ihrem rätselhaften Vergehen zusammen – schließt sich zeitweise einer Kommune in Dänemark an. Hier lebt eine Gruppe junger Menschen auf einem Hof auf dem Land zusammen, den sie das Wooden Ship nennen. In dieser symbolischen Arche bereiten sie sich auf die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus vor. Ihre Ziele sind weitgehender Konsumverzicht, Schonung von Umwelt und Ressourcen und Solidarität. Jedes Mitglied bringt seine individuellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft ein. Es herrscht Gleichberechtigung – solange, wie sich alle an die Regeln halten, die Jesper aufstellt, der die Kommune patriarchal führt. In seinem Despotismus kündigt sich an, dass das Ideal einer neuen Gesellschaft, das man sich gesetzt hat, so nicht erreicht werden wird. Der Traum von einer besseren Welt zerstiebt schließlich, als es zu einem Brand im Wooden Ship kommt. Beim späteren Gang durch den verlassenen Hof finden sich Graffiti aus der rechten Szene an den Wänden.
Wie sollen große gesellschaftliche Veränderungen auch gelingen, so scheint der Text zu fragen, solange ein respektvolles Zusammenleben schon auf der minimalen zwischenmenschlichen Ebene unmöglich ist? In seinen Alltagsbeschreibungen führt uns Widmann eine Welt vor Augen, die völlig aus den Fugen geraten ist. Besonders eindrücklich ist beispielsweise eine Szene, die sich zwischen Inge und einer Nachbarin ereignet. Inge bemerkt einen Kuchen auf der Terrasse ihrer Nachbarn und möchte ihn vor dem drohenden Gewitter unter dem Gartentisch in Sicherheit bringen. Die Nachbarin, die zur selben Zeit nach Hause kommt, erschrickt, sie reagiert ungehalten und voller Misstrauen. Inges Erklärungsversuche laufen sämtlich ins Leere – so abwegig erscheint offenbar der Gedanke, dass sie nur helfen wollte. Die grundlose Eskalation lassen Inge und die Leserin verstört zurück.
So ist Messias sehr viel düsterer geraten als Widmanns erster Roman Die Glücksparade. Dessen Grundzüge waren zwar die der Traurigkeit und Melancholie, aber die Welt war dennoch aufgehoben in einem größeren Zusammenhang. Die formale Geschlossenheit des Textes spiegelte dies meisterhaft – völlig zu Recht wurde der Autor mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchstdotierten Preis für ein Romandebüt. Eine solche Geschlossenheit würde der Welt, die Widmann nun schildert, wohl nicht entsprechen. Dennoch erreicht Messias nicht die erzählerische Perfektion des Erstlings. Einige Bildvergleiche wirken gewollt; die Wahl der Handlungsorte Frankfurt und London als Zentren des Finanzkapitalismus und die Werbebranche als Triebwerk der Konsumgesellschaft wirken allzu plakativ. Irritierend ist auch, dass in den Dialogen das Englisch ethnischer Minderheiten, der Araber und Schwarzen, mit starkem Akzent wiedergegeben wird, wohingegen sich die englischsprechenden Deutschen durch Normsprache auszeichnen. Das mag der Perspektive der deutschen Hauptfigur geschuldet sein, die ihren eigenen Akzent nicht wahrnimmt, bleibt aber fragwürdig.
Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Widmann mit Messias ein bestechend scharfes Stimmungsbild unserer Zeit gelungen ist. Er forscht nach den Ursachen der Missstände und findet sie im Individuum. Es ist ein Roman, dessen Größe in der Subtilität der Wahrnehmung liegt und der voller Poetik und Schlichtheit erzählt. Ohne großes Aufheben beschreibt er in seinen Alltagsszenen Menschen, die alle kurz vor dem Ertrinken sind, aber zu wenig am Leben, um das auch nur zu bemerken.
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