Wie ein Klang aus ferner Zeit
Guntram Vesper erzählt aus einer Region „Nördlich der Liebe und südlich des Hasses“
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Nun kann man freilich ein Bild wesentlich nicht beschreiben; sonst genügte ein Zettel statt des Gemäldes im Rahmen.“ Diese so frappante wie treffliche Beobachtung, geäußert vom Erzähler in Heimito von Doderers Roman Die Merowinger oder die totale Familie, trifft nicht nur auf Gemälde zu, sondern auf jedes Werk gelungener Kunst.
Wir kommen auf Doderers Zettel zu sprechen, weil es auch uns kaum gelingen will, das hier vorzustellende Werk von Guntram Vesper seinem Wesen gemäß zu beschreiben.
So und nicht anders lautet der Titel einer Erzählung aus dem Jahr 1970, enthalten in dem Sammelband Kriegerdenkmal ganz hinten, die knapp sechs Seiten Text ohne jeden Absatz umfasst. Zunächst bleibt unklar, wovon überhaupt die Rede ist: „Bei den Kindern fing ich vor acht Jahren an.“ So lautet der erste Satz. Erst allmählich wird eine Art Erziehungsprojekt sichtbar, um das es der Ich-Erzählerin geht. Gleichzeitig schreibt sie im Gestus absoluter Selbstverständlichkeit: „Auf je zwölf Morgen entfällt ein Mensch. Niemals werden zwölf Mark überschritten.“ So und nicht anders ist es um die Welt bestellt, von der hier die Rede ist. Ein archaisch anmutendes Gemeinwesen, in dem die Herrschaft sich nicht nur um die Kinder, sondern auch um deren Eltern – Knechte, Dienstboten, Tagelöhner und Scharwerkerinnen – kümmern muss: „Wir sind hundertzwanzig Menschen auf einem Gut von tausendzweihundert Morgen.“
Diese Menschen müssen geführt, geleitet und gebildet werden, etwa durch die von der Erzählerin eingerichtete „Volksbücherei“: „Der Bestand setzt sich aus siebzig eigenen alten Kinderbüchern und etwa achtzig aus der Bundeszentrale für Heimatdienst zusammen.“ Neuanfang staatlicher politischer Bildung: Die Bundeszentrale für Heimatdienst 1952–1963, so lautet die Überschrift auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei der Bundeszentrale für Heimatdienst handelt es sich um deren Vorläufer. Maßgeblich beteiligt an ihrer Gründung war der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze Hans Globke:
Die zentralen Akteure in der Gründungsphase waren Bundeskanzler Konrad Adenauer, sein Ministerialdirigent Hans Globke sowie der Staatssekretär im Bundesinnenministerium Hans Ritter von Lex. […] Globkes Wirken umschloss auch die Erarbeitung von Vorlagen und Entwürfen für Gesetze und Verordnungen. In diesem Zusammenhang war er führend beteiligt an der Vorbereitung der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, dem Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 und dem Personenstandsgesetz (3. November 1937). Das „J“, das in Pässe von Juden eingeprägt wurde, hat Globke mit konzipiert.
Schon das Wort „Bundeszentrale“ signalisiert eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Befinden wir uns wirklich im Zeitraum zwischen 1952, der Gründung der Bundeszentrale für Heimatdienst, und 1963, als diese umbenannt wurde in Bundeszentrale für politische Bildung? Und was hat es mit den Liedern auf sich, welche die Erzählerin mit ihren „Gesangszöglingen“ einübt? „Mit Begeisterung jedenfalls wurde gesungen und ein Menge schöner Lieder gelernt, zum Beispiel das Flaggenlied, Morgenrot, Nun leb wohl du kleine Gasse, Als die goldne Abendsonne und vieles andere mehr.“
Beim Flaggenlied handelt es sich um ein Lied aus dem deutschen Kaiserreich, entstanden 1883: „Das Lied diente der Kriegserziehung im Kaiserreich. Es wurde in Preußen vor dem ersten Weltkrieg für den Schulunterricht in der siebten beziehungsweise achten Klasse besonders empfohlen (Zentralblatt der preußischen Regierung von 1912).“ Begibt man sich bei Google auf die Suche nach dem Flaggenlied, landet man im rechtsradikalen Milieu, etwa bei der Band Stahlgewitter. Das Lied Als die goldne Abendsonne beginnt im Original mit den Zeilen „Als die goldne Abendsonne / sandte ihren letzten Schein zogen einst zwei wilde Burschen“. In einer anderen Version, als Kampflied der SA lautet die komplette erste Strophe: „Als die goldne Abendsonne / Sandte ihren letzten Schein / Zog ein Regiment von Hitler / In ein kleines Städtchen ein“.
Klappentexte sind nicht gerade dafür bekannt, wesentliche Urteile über die Bücher zu fällen, die sie als Teil des Schutzumschlags umfassen. „Üblich sind eine kurze, werbende Zusammenfassung des Buchinhalts (meist auf der vorderen Einschlagklappe)“, so die durchaus zutreffende Charakterisierung von Klappentexten bei Wikipedia. „Nördlich der Liebe und südlich des Hasses ist ein Buch über unser Land und unsere Zeit.“ Eine typische Klappentext-These, die wir als Leser dieser annähernd 700 Seiten Text ohne Ausrufezeichen, Fragezeichen oder Anführungszeichen nicht bestätigen können. Dann, nach einer Aufzählung dessen, wovon Vesper in seinem Werk erzählt, das irritierende Resümee, es gehe in diesen Texten um „deutsche Wirklichkeit und Wahrheit unserer Tage.“
Nur zu gerne würden wir aufgeklärt über die deutsche Wirklichkeit, was immer darunter auch zu verstehen ist, und noch lieber über die deutsche Wahrheit „unserer Tage“. Tatsächlich besticht Vespers Prosa vor allen Dingen durch ihren hochgradigen Eigensinn. Das Ergebnis sind Irritationen und ist nicht selten das Gefühl fehlender Orientierung. So will es partout nicht gelingen, die kurze erste Geschichte des Sammelbandes mit dem Titel Revolution stringent und nachvollziehbar zu interpretieren. Sie spielt in der Gegend um Göttingen, zeitlich im März, wird doch gleich im ersten Satz der Hohe Hagen erwähnt, ein Berg vulkanischen Ursprungs, beachtliche 429,5 Meter hoch, gelegen etwa in der Mitte zwischen Hannoversch Münden und Göttingen. Somit gibt es berechtigten Anlass, das erzählte Geschehen im Umfeld der Märzrevolution 1848 zu verorten. Jetzt scheint der Weg frei für einen Interpreten, der sein Handwerk versteht. Die aufmüpfigen Bauern, eine erregte Stimmung im Volk, das Versammlungen abhält. Auch ist die Rede von Ausbeutern sowie von deren Helfershelfern und Lakaien.
Und damit kommen wir zurück auf Doderers Zettel. Denn nur zu oft tauschen die Interpreten das von ihnen malträtierte sprachliche Kunstwerk ein gegen den Zettel, und einer reicht in der Regel nicht, auf den sie ihre Deutung geschrieben haben.
Im Gespräch teilte mir Guntram Vesper mit, er schreibe seine Prosa wie Gedichte. Bereits an dem Roman Nördlich der Liebe und südlich des Hasses, zuerst erschienen 1979, bemerkt Fritz J. Raddatz unverkennbar lyrische Charakterzüge: „Der [gemeint ist der Roman Nördlich der Liebe und südlich des Hasses, K.-J.M] nun, im landläufigen Sinne, gar kein Roman ist. Vielmehr die bildreiche, assoziative Prosa eines hochbegabten Lyrikers. Manche Passagen lesen sich gar wie Gedichte.“
Manche Sätze erinnern wie von Fern her an den germanisch-althochdeutsche Stabreim und geben dem Geschriebenen eine ganz eigene, ans Archaische grenzende Klangfarbe, wie ein Satz aus dem Text Revolution veranschaulicht: „In der folgenden Nacht brannte der Ziegenstall des Lehrers Meseke nieder.“
Ein weiteres Beispiel aus der Erzählung Der Torweg, die zuerst im Jahr 2015 erschien: „, die jedesmal noch wuchs, wenn ich auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule an der Villa der Kreisdienststelle vorbeikam. Nach einer Woche war alles vorbei. Die alte Vorsicht wieder.“ Die Sprache klingt, nicht aufdringlich und nicht jeder Leser muss es bemerken; bemerkt er es nicht, so hinterlässt der bewusst komponierte Klang dennoch eine Wirkung, die kaum zu ergründen ist.
Gleichzeitig geht es in der oben zitierten Textpassage um ein welthistorisches Ereignis. Denn was damals, im Jahr 1956, wuchs, war die Hochstimmung angesichts des Aufstandes in Ungarn, an die sich die Ernüchterung nach seiner blutigen Niederschlagung anschloss. Im Text folgt eine Bemerkung, die nun doch, wie der Klappentext es nahelegt, von deutscher Wirklichkeit berichtet. Es handelt sich um den Zeitraum „Ende Oktober, Anfang November sechsundfünfzig“: „Zur gleichen Zeit malte im siebenunddreißig Kilometer entfernten Leipzig der Maler Tübke, elf Jahre älter, ich wußte nichts von ihm, das Tafelbild Weißer Terror in Ungarn.“
Gemeint ist Werner Tübke, bekannt geworden auch durch sein Monumentalgemälde Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen. Das Bild, eine Vorstudie zu dem Gemälde, von dem Vesper berichtet, wurde im Jahr 2006 aus einer Ausstellung im thüringischen Landtag entfernt:
Hildigund Neubert, die 1989 der DDR-Bürgerrechtsbewegung angehörte, sagte am Freitag im Deutschlandfunk, die Bildunterschrift ‚Faschistischer Terror in Ungarn‘, sei nicht nur eine Lüge, sondern verhöhne auch die Kämpfer und Opfer dieser Revolution. Neubert wörtlich: ‚Wie immer, wenn die Kommunisten einen Aufstand niederschlugen, haben sie hinterher davon gesprochen, das sei ein faschistischer Putschversuch gewesen.‘
Vesper belässt es bei der kurzen Erwähnung des Bildes, und doch wird die tiefe Resignation angesichts einer Kunst spürbar, welche die Wirklichkeit, die deutsche wie die der kommunistischen Herrschaft, zur Unkenntlichkeit verfälscht. Um es mit Franz Kafka zu sagen: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“
Und dann ein Text wie Stomps in Gießen:
Das Café war die Zufluchtsstätte von alternden Schauspielern, von ausgedienten alleingelassenen Kommunisten in der Wüste des Verbots, von Studenten ohne Stipendium und Wechsel und von vier fünf Zeichenlehrern und Redakteuren, die an mehr gedacht hatten und dachten; Refugium, über dessen Schwelle das monotone Rasseln des Landes, der trostlose Anhauch der öden Provinz nicht kamen.
Das Zitat verdeutlicht, dass es kaum Sinn macht, Vespers Texte einer schlüssigen Interpretation zuführen zu wollen.
In der Kunst-Monografie Picassos Guernica beharrt der Kunsthistoriker Max Imdahl auf der Eigenständigkeit der Kunst: „Der besondere, moderne Darstellungsstil ist eine Funktion und Leistung des Bildes, nämlich einer Botschaft, die ohne das Bild unformuliert bliebe und über die ohne das Bild auch gar nicht zu sprechen wäre.“
Damit sind wir erneut bei Doderers Zettel im Bilderrahmen und bei dem, was die Lektüre von Vespers Literatur so lohnenswert macht. Denn wo, wenn nicht in der Kunst, gibt es eine Region Nördlich der Liebe und südlich des Hasses? Vesper erzählt eben nicht von „deutscher Wirklichkeit und Wahrheit unserer Tage“, denn erst indem seine Kunst sich von dem Anspruch entfernt, diese Wirklichkeit abbilden zu können, gibt sie zu erkennen, wie zweifelhaft es schon immer war und noch immer ist, zu meinen, man könne die Welt einer sinnvollen Deutung zuführen. Indem er seinen Lesern etwas mitteilt, von dem sie ohne die oftmals verstörende Lektüre seiner Texte keine Kenntnis hätten, eröffnet er einen neuen, erstaunlichen Blick auf die Welt, und auch auf Deutschland; einen Blick, der allerdings die uns vertraut scheinende Wirklichkeit nicht abbildet oder deutet.
Der Band „bietet vollständig die Texte der Bände Kriegerdenkmal ganz hinten und Nördlich der Liebe und südliche des Hasses sowie in größtmöglicher Vollständigkeit die verstreut veröffentlichte Prosa eines der großen Autoren unserer Zeit.“ Dieser Information des Klappentextes wollen wir gerne zustimmen. Eine kritische Anmerkung zum Nachwort von Helmut Böttiger sei erlaubt. Dort heißt es zum Abschluss: „Mitte der achtziger Jahre registrierte ein Interviewer verblüfft, wie es auf dem kleinen Schreibtisch von Guntram Vesper aussah: Ausschließlich Stahlfedern lagen dort und farbige Tinte. Er fragte nach, wo man denn solche Geräte noch bekäme, und Vesper versetzte: ‚In jedem Schreibwarenladen.‘“ Der Interviewer war Fritz J. Raddatz: „Guntram Vesper spießt Erinnerungsfetzen geradezu auf; übrigens fast wörtlich – er schreibt (und zeichnet) an seinem winzigen Schreibtisch mit altmodischen Stahlfedern und farbiger Tinte. Auf meine verblüffte Frage, wo man solches Gerät denn noch bekäme, sagt er: ‚Sie werden lachen – in jedem Schreibwarenladen.‘“
Weiterhin bleibt unklar, wann genau die einzelnen Texte aus Kriegerdenkmal ganz hinten entstanden sind: „Abdruck hier nach der revidierten und erweiterten Fassung: München. Wilhelm Heyne Verlag 1982.“ Immerhin zwölf Jahre liegen zwischen der Erstausgabe (Carl Hanser Verlag 1970) und der dem hier besprochenen Sammelband zugrunde liegenden Ausgabe. Was wurde revidiert, gibt es Texte, die erst 1982 hinzugefügt wurden? Offene Fragen, deren Antworten der Verlag leider schuldig bleibt.
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