Tanz auf begrenztem Raum
Rainer Wieczoreks „Blick auf die Tanzenden“ ist Dokumentation und Zwiegespräch
Von Annette van den Bergh
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Der Tanz braucht eine existentielle Dimension – sonst ist er Getänzel.“ Dieser Satz, gesprochen von der Tänzerin Raimonda Gudaviciute, findet sich mehrmals in Rainer Wieczoreks neuem Buch Blick auf die Tanzenden und erhält so, neben anderen Zitaten, eine herausragende Bedeutsamkeit. Das erste Mal begegnen ihm die Leser des einhundert Seiten zählenden Buchs in einem der Künstlergespräche, das der Autor mit Raimonda führt. Zu diesem Zeitpunkt ist dieser bereits weit in die Privatheit der Tänzerin eingedrungen: Sowohl innerlich, durch die Beschäftigung mit ihrer Person und ihrer Kunst, als auch ganz konkret, als geladener Gast in deren Privatwohnung, in der er zu diesem Zeitpunkt, unmittelbar vor der Unterhaltung von Autor und Tänzerin, ihre Kinder in den Schlaf begleitet hat. Eine Mutter, die ihre Kinder in ihrer Abwesenheit der Obhut eines anderen überlässt, hat Vertrauen zu dieser Person. Rainer Wieczorek und Raimonda Gudaviciute sind sich nah. Sowohl als Künstler als auch als Privatpersonen. Die Verdoppelung des Zitats wiederholt sich in der Verdoppelung durch Zwiegespräche und verdoppelt damit einhergehend die Perspektiven.
Die existentielle Dimension des Tanzes findet seine erste Erwähnung in einem Bericht, in dem die Tänzerin von ihrer durch Gewalt und Armut geprägten Herkunft aus Litauen erzählt. Sie schildert die große Disziplin mitsamt der Entbehrungen die notwendig waren, um im Tanz eine neue Heimat und Ausdrucksform für sich finden zu können. Sie lebte demnach während ihres Studiums in Helsinki (aus Mangel an finanziellen Mitteln) vornehmlich von Reis, ging nicht aus und konzentrierte sich in diesem einsamen Sein vollständig auf die Ausbildung zur professionellen Tänzerin.
Nach einem Jahr Tanz mit Reis hatten sich meine Lebensgewohnheiten geändert: Ich brauchte nicht jeden Abend Leute um mich. Allein zu sein schien mir zu diesem Zeitpunkt das Beste, das mir passieren konnte: als Mensch, als Frau und als Tänzerin. Das Tanzen war eine schweigsame Kunst, aber man musste sich auskennen, vor allem mit sich selbst.
Raimonda wird durch ihre Not auf sich selbst (und damit auf ihren existentiellen Urgrund) zurückgeworfen. Aus dieser Bedrängnis entwickelt sich die Tiefe ihres Ausdrucksvermögens im Tanz.
Später im Buch ist es der Autor, der mit dem eingangs erwähnten Zitat auf eine Frage antwortet. Die Fotografin Helen Radenthein, die in Blick auf die Tanzenden mit dem Autor zusammen eine Werbebroschüre zum Tanzstück M(other) entwickeln soll, fordert von ihm einen Text, der als Überschrift zu einem Foto Raimondas genutzt werden könne.
„Es darf nicht zu direkt sein“, erläuterte sie. „Der Text muss mehr sein als eine Verdoppelung des Bildes.““
Der Autor entscheidet sich daraufhin für eben dieses Zitat, das die „existentielle Dimension“ des Tanzes in den Vordergrund stellt.
Rainer Wieczorek geht es sowohl in seinem neuen Buch, als auch in seinem gesamten Werk, immer um genau diese Auslotungen tiefer Schichten, die der Kunst und dem Künstler-Dasein ihre Besonderheiten in der Gesellschaft sowie im persönlichen Leben (meist in unwägbaren Unsicherheiten befindlich) zugehörig sind. Der Druck materieller Krisen, mangelnder Akzeptanz (wenn nicht gar Ignoranz) und eigener Zweifel im Leben der Kunstschaffenden sind Themen seiner Novellen, seiner literarischen Portraits. Schaut man sich die versammelten Bücher auf der Autorenseite des Dittrich-Verlags an, so fällt auf, dass unter Wieczoreks neuem Buch keine Gattungsbezeichnung zu finden ist, während seine anderen Werke mal als „Novelle“, mal als „Eine Abstraktion“ oder als „Ein literarisches Portrait“ etikettiert werden. Das macht Sinn, denn es ist wahrlich schwierig, eine klare Definition für die Form des vorliegenden Buchs zu finden. Uneindeutigkeiten sind seit jeher eine Art Markenzeichen des Autors, doch bei diesem wilden Genre-Mix verbietet sich in der Tat jede noch so weit gesteckte Festlegung.
Die Rezensentin nannte Blick auf die Tanzenden für sich selbst anfangs eine Dokumentation, doch später verlor sie angesichts der vermutlich fiktiven Rahmenhandlung, die wiederum eine Dokumentation (der Entstehung eines Werbe-Booklets) simuliert sowie einer Vielzahl an eingestreuten Reflektionen, Erinnerungen an den eigenen Werdegang als Schriftsteller und tatsächlich literarisch zu nennender Beschreibungen des Tanzes von Raimonda mit ihrem Sohn, zur Gänze den Wunsch nach diesbezüglichen Begrifflichkeiten. So viel sei gesagt: Die in Anführungsstriche gesetzte direkte Rede der Tänzerin Raimonda Gudaviciute nimmt einen großen Teil der einhundert Buchseiten in Anspruch. In einem kurzen Nachwort schreibt Wieczorek, dass Raimondas Ausführungen „mit deren Erlaubnis sprachlich etwas geglättet“ seien.
Um was also geht es konkret in diesem Buch? Damit wären wir wieder bei der Dokumentation, denn Raimonda Gudaviciute ist eine vollkommen real existierende Person, eine litauische Tänzerin, freischaffende Choreographin und Tanzpädagogin, die während des durch Corona bedingten Lockdowns im Jahre 2020, aus der Enge heraus, in ihrem Zuhause auf sehr begrenztem Raum mit ihrem damals siebenjährigen Sohn Elias das Tanzstück M(other) einstudierte und zu umjubelten Aufführungen brachte, nachdem sie den Kurzfilm M(e)&M(other) hatte drehen lassen. In dem Stück geht es um die tänzerische Umsetzung der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Und es geht auch um eine getanzte Reflektion über die Doppelrolle, gleichzeitig eine Mutter und eine Künstlerin zu sein. Insofern steht das in Klammern gesetzte „other“ für die Andere, die dem Kind eine Fremde bliebe, sofern sie diesem mit dieser Choreographie nicht einen Platz in ihrer Tanz-Existenz geschaffen hätte. Dass der Sohn schon damals ein begeisterter Breakdancer und kleiner Vereins-Fußballer war, kam dem Projekt natürlich zugute, denn Elias zeigte von Beginn an große Freude daran, mit seiner Mutter die Enge und Eintönigkeit des Lockdowns im körperbetonten Spiel durchbrechen zu können.
Wir improvisierten, kletterten, spielten mit dem Ball, bewegten ihn mit verschiedenen Körperteilen. Elias war so frei, so ausgeglichen. Für uns war das eine neue Erfahrung, die mich beglückte: Ich konnte meine Freude am Tanz mit meinem Sohn teilen! (…) Es war magisch. Ich kam in diesen Tagen innerlich fliegend nach Hause. Das war das Gegengift gegen Corona!
Da sie in Frankfurt leben, können Raimonda und ihr Sohn ein Studio des Gallus-Theaters für ihre Proben nutzen. Die geplante Video-Produktion wird durch einen Notfallfond der Stadt unterstützt und so kommt eins zum anderen. Durch Matratzen wird auch auf der Studiobühne und später auf den Brettern der Theater der begrenzte Raum der ursprünglichen Übungsfläche in der Familienwohnung beibehalten. Nach dem aufsehenerregenden Video wird M(other) 2021 während des Tanzfestival Rhein-Main in Frankfurt uraufgeführt und vom Hessischen Staatsballett als Gastspiel am Staatstheater Darmstadt gezeigt. Es folgen Aufführungen auf verschiedenen Tanzfestivals in Finnland, der Slowakei, den Niederlanden und in Litauen.
In Blick auf die Tanzenden lässt sich der Autor von Vorstellung zu Vorstellung immer tiefer von diesem getanzten „Gespräch“ zwischen Mutter und Sohn berühren. Die Rahmenhandlung der Dokumentation dieser inneren und äußeren Berührungen und der bereits erwähnten Künstlergespräche, findet Wieczorek in der angeblichen Recherche-Arbeit zu seinem vermeintlichen Werbe-Booklet, das er gemeinsam mit der Fotografin Helen als Texter betreut. Ein vielleicht cleverer Schachzug des Autors, kann er so, neben den Gesprächen mit der Tänzerin, auch noch andere Perspektiven seiner Wahrnehmung durch das Zwiegespräch mit der Fotografin einflechten.
Auch wenn Wieczoreks aktuelles Buch an einigen wenigen Stellen das Prätentiöse streift (zum Beispiel: „ich lebe in der Wahrheit!“), so ist doch die Lektüre insgesamt ein in die Lebenstiefe der Tänzerin ziehendes Zeugnis einer Liebenden, die kraft ihrer Kunst die Liebe zu ihrem Kind mit der Liebe zum Tanz (in einer äußerst prekären Lebenssituation) zu verbinden sucht. Ein gelungener Tanz auf begrenztem Raum entsteht, der sich in dem dünnen Buch mit erstaunlicher Intensität sprachlich verdoppelt. Rainer Wieczorek schafft der Tänzerin Raimonda Gudaviciute mit seinem Blick auf die Tanzenden einen Platz, der im Gegensatz zur Flüchtigkeit einer Tanzaufführung steht und stellt sie ins Licht geschriebener Dauerhaftigkeit.
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