Wilhelm Genazino, seine Figurenromane und Romanfiguren
Nachruf als wissenschaftliche Nachlese
Von Nils Lehnert
Über den nach menschlichem Ermessen viel zu früh verstorbenen Schriftsteller Wilhelm Genazino war dieser Tage eine Menge zu lesen. Neben dem für die Textgattung ‚Nachruf auf AutorIn‘ konstitutiven Abriss der Lebensdaten – etwa auch der Hinweis darauf, dass Genazino eine Tochter hinterlässt – standen dabei die Verbindungslinien von Werk und Vita im Vordergrund. Generell punkten diejenigen Nachrufe, die auf biografisches Zusatzwissen zugreifen können. Die Autorenbiografie mit dem Romanwerk kurzzuschließen, wird damit bestmöglich plausibilisiert.
Auto(r)biographie und Romanwerk
Wilhelm Genazino selbst hat zeitlebens damit kokettiert – fern von einer fulminanten Selbstpräsentation, die ihm zuwider und höchst suspekt war –, dass es Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen ihm selbst und seinen Roman(figur)en gebe (etwa poetologisch hinsichtlich des mittlerweile in der Genazinoforschung kanonisch gewordenen ‚gedehnten Blicks‘). Ebenso entschieden hat er sich indessen einer Eins-zu-eins-Mimesis verwehrt: Es gehe um die Bearbeitung des Gesehenen und Erlebten, das durchaus ein solches Ausmaß annehmen könne, dass nicht selten „nichts mehr übrig bleibt von der Erstfassung.“
Gleich welcher literaturtheoretischen Schwerpunktsetzung man selbst zuneigt (Autor, Text, Kontext oder Rezipient können im Zentrum stehen) – man sollte diesen Widerspruch ernstnehmen und Genazinos Texte weiterhin als Texte Genazinos, aber nicht ausschließlich als Texte über einen fiktionalisierten Wilhelm Genazino besprechen, analysieren und interpretieren (auch oder gerade dann, wenn die Figuren so ähnlich heißen wie „William Genazino“ in der Liebe zur Einfalt!).
Und obwohl sicherlich zu Wilhelm Genazino selbst und dem Bezug zu seinem Schaffen noch lange nicht alles gesagt ist, scheint diesbezüglich vorerst genug gesagt zu sein, sodass ein dezidiert dem Romanwerk gewidmeter Blick in Form einer kurzen wissenschaftlichen Nachlese angezeigt ist, um den vielen guten, herzlichen und treffenden Nachrufen eine neue Facette hinzuzufügen. Denn immerhin ‚hinterlässt‘ Wilhelm Genazino, dessen Archiv bereits zu Lebzeiten Marbach ‚vorgelassen‘ worden ist, ein mit einundzwanzig Texten nicht schmales Romanwerk. Und das ist – Stand jetzt – alles andere als vollumfänglich wissenschaftlich erschlossen, ja die universitäre Wilhelm-Genazino-Forschung genaugenommen der Kinderstube noch nicht allzu lange entwachsen. Das offenbart sich unter anderem in der bisweilen verkürzenden Sicht auf die Werkgruppen und Schaffensphasen.
Werkgruppen und Schaffensphasen
Von einem ‚Spätwerk‘ zu sprechen, trauen sich Kritiker wie Wissenschaftler meist erst dann, wenn es durch unumkehrbare Fakten dazu kommt, dass keine neue Entwicklung, keine weitere Zäsur zu erwarten ist. So tragisch es im vorliegenden Fall ist: Just mit dem Tode Genazinos taucht der Begriff gehäuft auf. Doch auch während der letzten Jahre hat sich kaum einer der mit Genazino Befassten des reizvollen Anliegens entziehen können, Schaffensphasen und Werkgruppen zu konstruieren. Besondere Beachtung erfuhr die „kopernikanische Wende“ (Roman Bucheli) bzw. die „Verschiebung“ (Anja Hirsch), welche eine Zäsur zwischen den beiden Romanen Fremde Kämpfe (1984) und Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz (1989) markiert. (En passant: Beiden Texten blieb ob des Vorwurfs mangelnder erzählerischer Geschlossenheit die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ verwehrt, was eigentlich eher für eine Vergleichbarkeit spräche.) Zwar sind in der Tat mit dem Wechsel vom Er- zum Ich-Erzählen, vom Präteritum ins Präsens und hinsichtlich der (Form-)Experimente gute Argumente ins Feld geführt worden, die für einen Umbruch stehen. Doch sind dabei erstens häufig Äpfel mit Birnen verglichen, zweitens fragwürdige teleologische Überlegungen eingeschleust worden, und drittens wurde nicht berücksichtigt – obwohl Genazino selbst hinsichtlich der Sozialkritik in seinen Texten von „Wellenbewegungen“ gesprochen hat –, dass es sich um eine temporäre Phase handelte, die mit dem Sprung von Das Licht brennt ein Loch in den Tag (1996) zu den Kassiererinnen (1998) revidiert worden ist. Diese ‚Wende‘ ließe sich in Analogie zur ,kopernikanischen‘ als ‚ptolemäische‘ verbildlichen und umfasst neben der rückläufigen Experimentalität auch die Tendenz, die Erzähler namenlos werden zu lassen. Mit Melanie Fischer lässt sich darin das Verschwinden des Individuums erkennen.
Außerdem sind die bisherigen Grenzziehungen (am elaboriertesten ist die von Anja Hirsch) nicht konsequent genug gewesen, da etwa Genazinos ungeliebter Erstling Laslinstraße meist ‚stiefväterlich‘ ausgeklammert wurde. Indes gibt es bereits dort einen Ich-Erzähler sowie eine unerhörte Experimentierfreude, sodass die später dann so genannte kopernikanische Wende etwas an Strahlkraft verliert. Eine letzte Zäsur sei kurz angesprochen (die sich möglicherweise tatsächlich als Übergang zum ‚Spätwerk‘ anbietet): Mit der ‚Rückkehr‘ des Präteritums, dem Wegfall bzw. der Unwichtigkeit des Titelbezugs, der Tendenz zu auffälligen Redundanzen, dem Anstrich der Unfertigkeit, dem beginnenden Gedächtnisverlust der Figuren und den vermehrten Todesvorahnungen zieht mit dem Roman Wenn wir Tiere wären (2011) ein ungewohnter Ton ein, der sich bis zum 2018 erschienenen Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (beachtlich: die erstmalige Verneinung im Titel!) weiter auswächst und sich in (bewussten?) Konstruktionsfehlern, Vergesslichkeiten und der Teilnahmslosigkeit der Figuren manifestiert.
Dieser Kleinkariertheit und der Kartierungswut zum Trotz gibt es auch Beständiges, Verbindendes – Kontinuitäten, die dem Œuvre-Gedanken von Wilhelm Genazinos Figurenromanen Kontur geben.
Figurenromane
Alle Romane Genazinos sind auf Hauptfiguren zentriert. Diese sind es, die die mitunter nur lose verknüpften Narrationsfäden aneinanderknüpfen, sie sind das letztlich ordnende Prinzip. Die Romane sind handlungsarm, die erzählten Welten werden nicht selten von unzuverlässigen Erzählern extradiegetisch geschildert, die fünf Erzählungen in der dritten Person sind hetero-, die sechzehn Romane in der Ich-Form autodiegetisch. Genazino pflegt einen unprätentiösen, angenehmen Stil mit häufigen Parataxen („In aller Gutmütigkeit rumpelte […]. Elegant schwebte […]. Eine junge Frau ritzte […]“) und generell kurzen, einfachen, anti-emotionalen Sätzen, insbesondere dann, wenn Körperlichkeit und Sexualität ins Spiel kommen. Die Reflexionen verlangsamen den Textfluss und es geht weit weniger darum, was passiert, als darum, was wer wie und warum wahrnimmt: um den Beobachter (die Hauptfigur), die Beobachteten oder diejenigen, die beim Beobachten mit fremden Blicken beobachtet werden. Dabei geht es auch um die Wiederverzauberung der Welt, um die Aufmerksamkeit für kleine Dinge und die Nischen, die die Stadtläufer und ,Flaneure‘ (hier ist Vorsicht geboten; es gibt sowohl in den Romanen selbst als auch in der Forschung gute Gründe gegen diese Begriffsverwendung) zu ihrem Lebensraum auserkoren haben. Und trotz der erstaunlichen Unterschiede nicht nur in puncto der histoire (Inhaltsseite), sondern auch bezogen auf deren Machart (discours) – bspw. emische vs. etische Textanfänge (Monika Fludernik) – schlagen Genazinos Romane sich auf diejenige Seite, die der Handlung eine nur geringfügige Funktion zuweist, nämlich dass sie „der sukzessiven Entfaltung und Entwicklung einer Figur“ (Christoph Bode) zu dienen habe, sie also „oft nur ein zusätzliches Mittel der Figurenbeschreibung“ (Jost Schneider) ist. Wilhelm Genazino schrieb unverkennbar Romane der Figur: Figurenromane.
Nun muss sich die vorliegende Nachlese den Vorwurf gefallen lassen, diese Verbindung überzubetonen: Unvergleichliches wird immer dann homogen, wenn man von sehr weit weg darauf schaut (oder die Augen zukneift, um vermeintlich besser sehen zu können). Allerdings dominierte dieser einseitige Blick auf Genazino lange Zeit die Berichterstattung, sodass eine Klärung des Begriffspaars der „variierten Wiederholung“ (Andrea Bartl / Friedhelm Marx) ansteht, mit dem das Gesamtwerk Genazinos zu kennzeichnen versucht wird.
Wiederholung vs. Variation: Zum Einheitsbreivorwurf
Innerhalb der unlängst erschienenen Nachrufe wird erfreulicherweise die Einschätzung aufgegeben, nach der Genazino Zeit seines Lebens ‚nur ein Buch‘ immer und immer wieder geschrieben hat (hier wird dann zwangsläufig sein Diktum der „nie richtig erzählten Geschichte“ zitiert).
Denn trotz der „Wiederholungen“ der „Motive und Themen, Erlebniswelten und Empfindungen“, die „im Romanschaffen Genazinos leicht auszumachen“ sind (Thomas Reschke), ist das korrespondierende Schlagwort ,Variation‘ nicht zu unterschätzen. Zwar sind alle Themen in allen Romanen irgendwie randständig „immer enthalten“ (Anja Hirsch), aber – einem Mischpultverfahren nicht unähnlich – werden individuelle Bausteine stets neu arrangiert und das vorliegende Klangmaterial neuartig gefügt, sodass einerseits – aufgrund der Beschaffenheit des Materials – der „Genazino-Sound“ (Susanne Kunckel) nie ganz zu überhören ist, andererseits aber niemals lediglich bereits verarbeitete Themen und Hintergrundgeräusche zusammengemixt werden, sondern beim ‚Umgraben‘ des „Äckerchen[s]“, aus dessen „Monokultur“ der „Ich-Substanz“ Genazino seine Texte speiste, immer ein „tatsächlich neues Buch“ (Burkhard Müller) entstand.
Ähnlich global wurden und werden der Autor und seine Figurenromane auf unterschiedliche ‚gleiche Nenner‘ gesetzt. Genazino wird verschlagwortet, sein Romanwerk dabei über einen Kamm geschoren: Eine Gesellschaftsskizze der Nachkriegsgeneration respektive Adenauerära zeichnen demnach seine Romane, ein Porträt des ‚kleinen Angestellten‘ haben Interpreten darin zu entdecken geglaubt, auch Psychogramme ein und derselben Hauptfigur – im Extrem: derjenigen des Autors – oder eine selbstreflexive Poetologie, bei der alle fiktionalen Handlungen immer auch außerfiktionales Schreiben und Schriftstellerei meinen (Jonas Fansa). Darin mögen einige Körnchen Wahrheit stecken. Problematisch wird es aber dann, wenn man ihn auf eine Rolle festlegt: etwa auf diejenige als „Psychohistoriker der alten Bundesrepublik“ (Helmut Böttiger). Denn obwohl Genazino dieser Zeit und der psychischen Befindlichkeiten seismografisch nachzuspüren in der Lage war, passiert mit dieser Setzung zweierlei: Seine Romane werden einerseits an die reale Welt rückgebunden – was aus mehreren Gründen, etwa der Irrelevanz des Zeitkolorits oder der nur nebensächlichen Thematisierung des Weltbewegenden (Studentenrevolten etc.), anzuzweifeln ist –, seine Figuren andrerseits als Ausformungen eines Typus gebrandmarkt.
Romanfiguren
Virulent, mithin schwerer zu bekämpfen, ist der angesprochene ‚Einheitsbrei‘-Vorwurf nämlich hinsichtlich Genazinos Romanfiguren. Beispiel: Gemeinhin spricht man über durchschnittliche (Anti-)Helden männlichen Geschlechts. Sehr selten liest man davon, dass es auch eine Protagonistin in den Romanen gibt, dann gewöhnlich aber in Formulierungen wie: ‚seltene Frauenfiguren‘. Interessanterweise gibt es exakt eine weibliche Hauptfigur, deren Ausgestaltung jedoch einem männlichen Blick geschuldet zu sein scheint. Und auch wenn die fatale Fehleinschätzung, wie sie im Jahr 2004 noch häufiger zu lesen war, dass nämlich nur Männerfiguren das Romanwerk bevölkerten, mittlerweile (zumindest nicht mehr so) geäußert wird, sind proklamierte Generalcharakterisierungen noch immer an der Tagesordnung: Sobald ein neuer Protagonist im „Genazino-Mikrokosmos“ (Ulrich Rüdenauer) begrüßt wurde, taucht die Leugnung auf, es mit Figuren zu tun zu haben, die den früheren nicht gleichen. Sogar mit Hinblick auf ein und dieselbe Romanfigur finden sich die folgenden Einschätzungen, die von der Einzelfigur illegitim auf alle schließen: flanierende Sonderlinge mit neurotischem Reflexionszwang (Samuel Moser), Kultivierte mit intellektueller Überlegen- und Überheblichkeit (Roman Bucheli), auffällig-unangepasste Verweigerer (Werner Jung), trostlose und weltverlorene Trotzige (Ulrich Rüdenauer), Antriebslose mit Erfolg bei Frauen (Burkhard Müller), Passiv-Lebenszugewandte mit problematischem Verhältnis zur eigenen Mutter (Judith von Sternburg). Und zu guter Letzt, so befindet Claus-Ulrich Bielefeld, sei Reinhard aus Genazinos Roman Bei Regen im Saal, „ein schrulliger Protagonist – gescheitert natürlich“, der „versehen mit allerlei Neurosen, Komplexen und Marotten durch eine sich im Verfall befindliche Welt“ taumelt. Zusammengenommen ist das Beliebigkeit mit Anstrich der Universalität.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die Genazinos Figurenromanen gerecht werden will, muss bei seinen Romanfiguren ansetzen: Sie sind der Schlüssel. Und solange nicht ein common sense hergestellt ist, der diese mitunter inkommensurablen und widersprüchlichen Figurencharakterisierungen betrifft, bleibt der Blick auf das Romanwerk verstellt.
Bei der Analyse seiner äußerst menschenähnlichen, realistisch gezeichneten und letztlich in hohem Maße mit Psychizität ausgestatteten Romanfiguren – weshalb es bei Genazino eher als sonst nicht nur erlaubt, sondern nachgerade geboten erscheint, auch literarischen Figuren Personenstatus zuzuerkennen, obwohl es gute Gründe gibt, das kritisch zu sehen – wird schnell sinnfällig, dass Wilhelm Genazino viel Mühe darauf verwendet hat (zumindest bis zur oben angesprochenen Phase vor Wenn wir Tiere wären), sie zu porträtieren. Nun muss man gar nicht unbedingt ins Gedächtnis rufen, dass Genazino selbst als Beiträger psychologischer Fachpublikationen aufgetreten ist, um zu erkennen, dass er ein feines Sensorium auch für die Figurenpsychologie hatte, dass kein psychologischer Laie die mechanische Schreibmaschine bedient hat, wenn sich der Ich-Erzähler der Liebesblödigkeit eingesteht: „In einem meiner Nebenberufe bin ich auch Laienpsychologe“, oder wenn andere Figuren behände von Psychosen, bipolaren Störungen, Angstneurosen und einer ganzen Batterie an Psychopharmaka sprechen.
Schaut man sich Wilhelm Genazinos Figuren soziologisch und psychologisch an, so scheinen sie übrigens durchaus die Vorstellung einer invariablen Schicht der Figurenzeichnung zu bestätigen. Hinsichtlich der ‚Big Five‘ zeichnen sich nämlich tatsächlich alle durch ihre introvertierte (eher ungesellig, wenig Durchsetzungsvermögen), sozialverträgliche (aufrichtig, bescheiden, freundlich), gewissenhafte (zuverlässig, vorsichtig), neurotische (instabil, verletzbar, depressiv, ängstlich) sowie offene (fantasievoll, tiefsinnig) Grunddisposition aus.
Um den gordischen Knoten zwischen Wiederholung und Variation zu lösen, böte es sich an, in drei Dimensionen zu denken: Es gibt gleichbleibende Anteile in einem als harten Kern zu bezeichnenden Rahmen, der von einem breiten Gürtel aus ‚familienähnlichen‘ Merkmalen (Wittgenstein) umschlossen wird und nach außen hin in einen romanspezifisch-individuellen Bereich ausufert. Für den mittleren Distrikt ließe sich etwa der Begriff ‚Genazinobasistypus‘ etablieren, um zu verdeutlichen, dass es sich um wiederkehrende, aber eben nicht alle Figuren betreffende Facetten handelt. Denn Genazinos Figuren sind mitnichten Ausformungen nur einer Figurenblaupause. Dagegen sprechen Berufe, Lebensumwelten oder auch das biologische Geschlecht. Genauso wenig sind es gänzlich voneinander abtrennbare Einzelfiguren: Im ‚Hardcore‘ teilen sie sich (alle!) etwa aus externer Analyseperspektive die Konzeption als runde, komplexe, transparente, offene Figuren und die graduelle Unzuverlässigkeit, aus interner Perspektive neben den feststehenden Persönlichkeitsmerkmalen auch wiederkehrende Handlungsstrategien.
Wenn man diese Unterteilung ernstnimmt und jeweils klar benennt, auf welche Kategorie man sich bezieht, dann ist es halb so wild, wenn man von durchweg männlichen Protagonisten spricht. Für die Kategorie der fast alle Figuren verbindenden Familienähnlichkeiten stimmt das ja. Dieser Dreiteilung eingedenk lässt sich insbesondere eine für Genazino rekurrente und alle Figuren, also wirklich den ‚harten Kern‘, betreffende Beobachtung anstellen: Alle leiden an einem fragilen Selbst.
Das fragile Selbst …
Unlängst veröffentlichte Genazino in der FAZ einen Artikel mit dem Titel „Sehnsucht nach der Auswechslung des Ichs“ und thematisiert damit nichtliterarisch ein auch in seinen Romanen flächig auffindbares und vielleicht das charakteristische Alleinstellungsmerkmal.
Die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert markiert mit der psychologischen Kränkung durch Freud, die das zuvor als Hausherr empfundene Ich zum bloßen ‚Mitbewohner‘ im psychodynamischen Gebäude degradiert, eine neue Qualität in der Geschichte des gebeutelten, zerrütteten, zerstückelten, fragilen Selbst. Weder die kopernikanische noch die darwinistische Kränkung sind ansatzweise verdaut und schon wird das Subjekt (mit Peter Václav Zima gesprochen) als „Unterworfenes oder Zerfallendes“ weiter in die Zange genommen: „als Produkt von Machtkonstellationen oder Ideologien, als Spielball von unbewußten, libidinösen Impulsen, als Opfer von Diskontinuität und Kontingenz.“ Es scheint, als seien Genazinos Figuren weder über die erste (‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ etc.) noch über die zweite (Multioptionalität etc.) moderne Selbst-Krise hinweggekommen – und Genazino selbst zeigt sich unter dem Eindruck der Nachkriegsgeneration noch um die Milleniumswende davon überzeugt, dass „das Subjekt am Ende des Jahrhunderts einfach ein durch und durch neurotisches Subjekt“ sei.
Wie es nun den Figuren gelingt, „in einer keinerlei Gewissheiten mehr liefernden modernen Gesellschaft […] ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten, die Kontinuität ihres Selbstkonzeptes, ihres Bildes von sich selbst, zu wahren und gegen alle vorgeblichen Zwänge zur ‚Selbstauflösung‘ zu behaupten“ (Ernst-Dieter Lantermann), ist eine alle Figuren Genazinos umtreibende, existenzielle Frage. Um dieses Selbst zu sichern, entbindet Genazinos Figurenbasistypus mannigfaltige Verhaltensstrategien, die sich mit dem sozialpsychologischen Modell der Eindruckssteuerung (Impression Management) gut beschreiben lassen und Genazinos Figuren als häufig um protektiven Eindruck bemühte ausweist (also um die Sicherung und Stabilisierung eines Status Quo). Denn obgleich es Genazinos Figuren zuwider ist, sich selbstdarstellend und berechnend zu verhalten, tun sie es zwangläufig und permanent mit Kalkül, um der „Zerbröckelung“, „Zerfaserung“ und „Ausfransung“ der eigenen Person Einhalt zu gebieten und immerhin nach außen eine intakte Hülle zu präsentieren, ein überzeitlich stabiles Selbstkonzept zu gewährleisten. Konkret resultieren daraus unzählige, zumeist im Bereich der basistypischen Verhaltensstrategien wiederzufindende Figurenfacetten und Routinen, von denen abschließend einige ausgewählte kurz angerissen werden sollen. In diesem Bereich liegen bei Genazino etliche ungeborgene Schätze.
… und selbstbehauptende Verhaltensstrategien
Um Diskrepanzen zwischen Selbst- und Idealbild, aber auch (gemutmaßte) Inkongruenzen von Selbst- und Fremdbild zu minimieren, oder schlicht, um seine Ruhe zu haben, kultivieren Genazinos Figuren – seit Laslinstraße – die mehr oder minder ‚kleine Lüge‘: „Als Kind hatte Abschaffel überhaupt nur durch Lügen weiterkommen können. Es war nichts zu kriegen, noch nicht einmal bloße Ruhe, wenn er nicht etwas vorzulügen in der Lage war.“ Dass die Figuren dabei nicht nur gesellschaftlich akzeptierte Schmiermittel in Form geduldeten Verhaltens an den Tag legen, sondern auch in deviante und delinquente Fahrwasser geraten, ist mit dem hier eingenommen Blick immer noch im Dienste der Selbstsicherung zu werten. ‚Borderline‘-ähnlich findet der namenlose Ich-Erzähler aus der Liebesblödigkeit zu sich selbst: „In angegriffenen Situationen hilft mir das Mitnehmen von kleinen oder nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner Überforderung auszuhalten“, gibt der Protagonist unumwunden zu.
Auch alle mit Flucht, Versteck(en) und Verschwinden in Beziehung stehenden Verhaltensstrategien lassen sich lesen als das Selbst sichernde Maßnahmen, gibt es doch keine Figur Genazinos, die nicht aus dem Fokus der Fremdbeobachtung herauszutreten bestrebt ist. Es sind dies wichtige Faktoren in einer Gleichung, an deren Ende ein Minimum an Aufmerksamkeit stehen soll. Gesteigert finden sich Auflösung und Unsichtbarkeit als postulierte Wunschzustände, die Ausdruck des protektiven ‚Nicht-geschaut-werden-Wollens‘ sind. Allesamt stehen diese Verhaltensweisen im Zeichen des Selbstschutzes. Sinnverwandt ist die ‚innere Zensur‘, ein Wirkmechanismus der Vermeidungshaltung, des „Nicht(s)tun[s]“ (Leonhard Fuest): Sei es in Form der Prokrastination oder aus übertriebener Rücksichtnahme – Genazinos Basistypus versagt sich Handlungen und Kommunikationen, weil vielleicht irgendwann ja Sanktionen eintreten könnten, die ein Zuviel an Rückgrat erfordern würden, obwohl diese zuvor als durchaus desiderabel imaginiert worden waren.
Auch die Selbstaufwertung in Form des abwärtsgerichteten sozialen Vergleichs steht im Zeichen der Selbstbehauptung: Im Handlungsrepertoire der Figuren findet sich der Hang zu Hohn, Hochmut, Spott und Häme, um selbst positiver dastehen zu können. Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass es die an sich selbst unliebsam festgestellten Aspekte sind, die von den Romanfiguren stellvertretend an den brüchigen Lebensentwürfen anderer herabgewürdigt, verurteilt, ja auch verdammt werden. Bis zur Pöbellaune, bis zu Wut, Zorn und Hass können sich die Figuren versteigen, um in Gewaltfantasien und rassistisch, misogyn oder homophob zu nennenden Entgleisungen zu gipfeln.
Wilhelm Genazinos Antihelden haben Ecken und Kanten, strotzen vor (psychischen) Makeln, Marotten und Merkwürdigkeiten. Aber genau das hat sie immer liebenswürdig, nahbar gemacht. Außerdem zeichnen sie sich natürlich hauptsächlich durch unverwechselbare und weniger ‚bedenkliche‘ Details aus, die sie auf immer unvergesslich machen. Etwa wenn sich die Figuren an der Konversationskultur des achtzehnten Jahrhunderts orientieren und – wie seinerzeit per Konversationslexika für Salongespräche – für erwartbare Kommunikationssituationen durch „Spickzettel“ rüsten: „Isolde durfte auf keinen Fall bemerken, daß ich zum Sprechen kleine Spickzettel benötigte. Denn ich wollte direkt und spontan und vor allem unerschöpflich sein“, sagt ‚William‘ Genazino (immer noch eine Romanfigur!) in der Liebe zur Einfalt (1990). Ein Anachronismus im an Anachronismen reichen Werk, das neben dem Genuss feinster Komik auch tiefe Einblicke in ein gebeuteltes Individuum erlaubt, das auf die überlebensgroßen Anforderungen einer unerbittlichen Postmoderne mit eindruckssteuernden Verhaltensstrategien antworten muss.
Was bleibt
Es bleibt nicht nur das verfrühte Ableben von Wilhelm Genazino zu bedauern, sondern auch für einen adäquaten Umgang mit seinem Romannachlass einen Wunsch zu äußern: Genazino hat nicht immer wieder den gleichen Roman geschrieben, nicht immer den gleichen Protagonisten gestaltet. Auch die Autor-Werk-Bezüge sowie die Text-Gegenwarts-Mimetik seiner Figurenromane sollte hinterfragt oder zumindest kritisch reflektiert werden. Hat Genazino doch in Gestalt vieler vollgültiger Individuen zeitlos das postmoderne, multiple Selbst gezeichnet und – möglicherweise ohne es zu wissen – just dadurch die geläufige Einschätzung der Rezensenten, es handle sich um glückliche oder versöhnliche Romanausgänge, dadurch befördert, dass er seismografisch die psychischen Mechanismen einer gekonnten, resilienten Beherrschung der Eindruckssteuerung als Trickkiste und letzte Reserve eines kaputten Subjekts im 20. und 21. Jahrhundert dargestellt hat. Mindestens in dieser Hinsicht hat er sich dadurch jetzt schon unsterblich geschrieben.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf der kürzlich veröffentlichten Dissertation des Verfassers mit dem Titel „Wilhelm Genazinos Romanfiguren. Erzähltheoretische und (literatur–)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung“ (De Gruyter, Berlin 2018). Ein Hinweis mit weiteren Informationen zu dem Buch erscheint zeitgleich mit diesem Beitrag ebenfalls in der Dezember-Ausgabe 2018 von literaturkritik.de.