Kreatives Schreiben im Studium, Unterricht und in der Gesellschaft

Ein breitgefächerter Sammelband von Weertje Willms und Martina Backes erkundet „Kontexte kreativen Schreibens“

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kreatives Schreiben ist eine wichtige gesellschaftliche Ressource, die verschiedentlich eingesetzt wird: Man denke etwa an die Kreativwirtschaft, insbesondere im Zusammenhang mit der digitalisierten Gesellschaft, in der immer mehr geschrieben wird, aber auch an persönlichkeitsfördernde Potenziale z.B. in Freizeitangeboten, der Schule oder in sozialpädagogischen und therapeutischen Settings. Eigene kreative Texte verfassen zu können oder andere dazu anzuleiten, ist demnach eine Kompetenz, die sich sowohl beruflich nutzen lässt als auch einen vertieften Kontakt mit der Welt und eigenem und fremdem Erleben verspricht. Wie aber kann man sich im kreativen Schreiben professionalisieren und welche Projekte und Ansätze bestehen bereits?

Der von Weertje Willms und Martina Backes herausgegebene Sammelband Kontexte kreativen Schreibens ist vor dem Hintergrund entstanden, dass sich kreatives Schreiben allmählich auch an deutschsprachigen Universitäten zu etablieren beginnt, während es in den USA als ‚Creative Writing‘ schon länger vielfach angeboten wird. Zu verweisen ist auf neuere Möglichkeiten an verschiedenen Berliner Hochschulen sowie an der Kunsthochschule für Medien Köln, der Universität Hildesheim und der Hochschule der Künste Bern sowie auf das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, wo ‚Literarisches Schreiben‘ studiert werden kann. Daher wollen Willms und Backes „die vielfältigen Einsatzbereiche kreativen Schreibens und ihre unterschiedlichen theoretischen und praktischen Ansätze vorstellen und zusammenführen“.

Zurückzuführen ist der Band auf eine gleichnamige Tagung, die vom 5. bis 7. März 2020 in Freiburg i. Br. veranstaltet wurde und die Teil eines zugehörigen Lehr- und Forschungsprojekts war, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gefördert wurde. Die 17 Beiträge des Bandes, in denen ExpertInnen aus Theorie und Praxis ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen, sind aufgeteilt in die vier Sektionen: „Theoretische Grundlegungen und Annäherungen“, „Kreatives Schreiben im Hochschulkontext“, „Kreatives Schreiben an der Schule“ und „Kreatives Schreiben im therapeutischen und sozialen Kontext“. Insgesamt ergibt sich ein vielseitiges Bild, wobei wiederholt auch praktischen Schreibprodukten, Arbeitsaufträgen und Vorgehensweisen aus den unterschiedlichen Projekten Raum gegeben wird, wodurch man einen guten Einblick in die geschilderten Aktivitäten erhält.

Einer der Schwerpunkte des Bandes liegt auf der Darstellung neuerer hochschulischer Angebote, die sich dem kreativen Schreiben widmen. Eingegangen wird insbesondere auf die Konzeptionen an der SRH Berlin University of Applied Sciences, an der Universität Witten/Herdecke und an der Universität Hildesheim. Nadja Sennewald und Katrin Girgensohn, beide Professorinnen für Schreibwissenschaft an der School of Popular Arts der SRH Berlin University of Applied Sciences, stellen in ihrem Beitrag sieben Thesen zum kreativen Schreiben auf, in denen sie Grundsätze für die Gestaltung eines zugehörigen Studiengangs aufzeigen und diese anhand konkreter Beispiele aus dem BA-Studiengang „Kreatives Schreiben und Texten“ illustrieren. Übergeordnetes Ziel ihres Modells ist es, dass die Studierenden „am Ende ihres Studiums kompetent sind, sich verschiedenste Domänen des Schreibens eigenständig anzueignen“.

Auf dem Weg dorthin erlernen sie z.B. die Steuerung von Schreibprozessen durch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Schreibstrategien, sprachliche Kompetenz hinsichtlich der Einhaltung schriftsprachlicher Normen und einen bewussten Wechsel zwischen verschiedenen Sprachstilen, eine Bewertung von Wissen einschließlich eines Erkennens von Fake News, die Nutzung von Storytelling als Marketinginstrument und die Entwicklung eines daran orientierten Marketingkonzepts, digitale Aspekte kreativen Schreibens wie z.B. das Erstellen eigener Podcasts sowie schließlich die Partizipation an kollaborativen Schreibprozessen, wobei es unter anderem um Gesprächstechniken und -haltungen in der Schreibberatung und im Lektorat geht.

Demgegenüber ist die Vorgehensweise an der Universität Witten/Herdecke, wie Julia Genz, dortige Professorin für Literaturwissenschaft, schildert, eingebettet in eine Situation, in der die Studierenden in interdisziplinären B.A.- und M.A.-Studiengängen nur selten literaturwissenschaftlich vorgebildet sind. Als erfolgreich hat sich hier herausgestellt, zunächst anhand theoretischer Texte bestimmte Aspekte von Literatur wie Raum, Stimme oder Zeit zu besprechen, um diese im Anschluss über die eigene Produktion literarischer Texte vertiefend zu erarbeiten. Hinsichtlich eines Kurses zu Zeit wird etwa auf einen Auszug aus Henri Bergsons Dissertation Zeit und Freiheit zurückgegriffen, wobei eine der fortgeschrittenen Schreibaufträge dann z.B. im Erzählen einer Geschichte von hinten besteht. Die entsprechenden Hildesheimer Studiengänge sind, wie Annette Pehnt, dortige Professorin für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, ausführt, angesiedelt „an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis“. Gelehrt wird vor allem ein Erkunden von Schreibprozessen bzw. ein Erforschen der Praxis des Schreibens, was das Erlernen von Schreibstrategien einschließt, dieses aber nicht in den Vordergrund stellt.

Dass kreatives Schreiben insbesondere auch in der Lehramtsausbildung stärker verankert werden sollte, betont Nicola König. Vernachlässigt werde im Rahmen des Lehramtsstudiums „die Möglichkeit, eigene Schreiberfahrungen zu sammeln, die über das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten hinausreichen. Sollen aber Lehrkräfte […] Schreibkompetenzen vermitteln, setzt das voraus, dass die Vermittelnden in diesen Bereichen selbst kompetent sind“. Abgehalten wurden an der Philipps-Universität Marburg daher bisher Blockseminare zum erzählenden, lyrischen und journalistischen Schreiben. Weiterhin, führt König aus, könne in schulischer Hinsicht zwischen drei Arten kreativen Schreibens unterschieden werden, nämlich dem Creative Writing, dem Literarischem Schreiben und dem Handlungs- und produktionsorientierten Unterricht. Speziell letzteren in der gymnasialen Oberstufe betrachtet Christian Heigel. Nach dessen literaturdidaktischer Einordnung und Vorstellung gibt er konkrete Beispiele aus der eigenen Unterrichtspraxis, einschließlich einer ausführlichen Wiedergabe entstandener SchülerInnenprodukte. Gearbeitet wurde unter anderem mit einem Auszug aus Thomas Manns Buddenbrooks, der von den Schwierigkeiten des Schülers Hanno Buddenbrook beim morgendlichen Aufstehen handelt.

In gesellschaftlicher Hinsicht berücksichtigt der Band verstärkt die Vorteile kreativen Schreibens im Kontext von Fluchterfahrungen, was sich im Beitrag von José F. A. Oliver zu Schreibwerkstätten mit geflüchteten Menschen und demjenigen von Theresa Rüger zum Berliner Projekt The Poetry Project für minderjährige Geflüchtete zeigt. Oliver, ein 1961 im Schwarzwald geborener Dichter andalusischer Herkunft, plädiert dafür, dass für Geflüchtete neben dem üblichen deutschen Sprachunterricht zusätzlich Schreibwerkstätten-Angebote gemacht werden sollten. Ihm geht es um eine andere Sichtweise auf die deutsche Sprache: Oft werde „das ‚Defizitäre‘ im Umgang mit ihr betont“. Er jedoch konstatiert: „Jede (scheinbar) noch so ‚defizitäre‘ Sprache birgt Schönheit“. Auch geben die kreativen Texte Geflüchteten eine Stimme, etwa wenn Farshid aus Syrien (10 Jahre alt) im Sommer 2019 schreibt: „Es war hart nach Deutschland zu reisen. Wir mussten mit nackten Füßen auf Steinen laufen, und es war heiß. Wir sind zuerst nach Pakistan (Sindh) gegangen. Dann in den Iran.“

Im Berliner Poetry Project wurden demgegenüber seit 2015 primär Gedichte von allein nach Europa geflüchteten Jugendlichen geschrieben. Dank einer Förderung der Bundesregierung im Programmbereich „Demokratie leben!“ und einer Ko-Finanzierung der Bundezentrale für politische Bildung ist das Projekt mittlerweile deutschlandweit verbreitet. Exemplarische Produkte können ausführlicher als im Beitrag in der Gedicht-Anthologie Ich wollte bleiben. Ich ging nachgelesen werden. Dass Selbstermächtigungsprozesse im Sinne eines Empowerment auch jenseits des Flüchtlingskontexts mittels kreativen Schreibens initiiert werden können, belegt überdies z.B. Silke Martins Beitrag zu einem universitären Lehr- und Forschungsprojekt im Altenheim. Im Rahmen eines ihrer Seminare an der Universität Erfurt im Studiengang Kommunikationswissenschaft (BA) haben ihre Studierenden einen halbtägigen Film-Bildungsworkshop in einer SeniorInnenwohnanlage erfolgreich konzipiert und durchgeführt, was auch Anteile autobiografischen Schreibens einschloss.

Insgesamt behandelt der Sammelband Kontexte kreativen Schreibens ein vielversprechendes Thema, das im deutschsprachigen Raum bisher noch wenig erforscht ist, sich mittlerweile aber gesamtgesellschaftlich breit zu etablieren beginnt. Es werden unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt, die neugierig darauf machen, eigenständig weiter zu recherchieren und zu lesen. Für Interessierte am kreativen Schreiben ist der Band mit seinen vielfältigen Anregungen daher sicherlich empfehlenswert.

Titelbild

Weertje Willms / Martina Backes (Hg.): Kontexte kreativen Schreibens. Eine Standortbestimmung in Theorie und Praxis.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2021.
401 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-13: 9783732906291

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