Eine Anleitung, die Erde zu retten

Edward O. Wilsons fundierter Vorschlag, die Biodiversität zu erhalten

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade sind es 23 Grad. Es ist Ende Oktober. Dass es sich dabei langsam nicht mehr um Wetterkuriositäten handelt, sondern um ein globales Phänomen mit desaströsen Auswirkungen ‒ allgemein als Klimawandel bekannt ‒, dürfte mittlerweile überall angekommen sein. Wenige narzisstische Staatsoberhäupter mögen die gefährliche Ausnahme bilden. Der „Tipping Point“, der Punkt, an dem ein Großteil der Ökosysteme unweigerlich und irreversibel kollabieren werden, ist nicht mehr allzu weit entfernt. Sollte der Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter die zwei Grad tatsächlich erreichen oder überschreiten, wird das sechste Massensterben des Planeten kaum noch aufzuhalten sein. Schon jetzt lässt sich die verheerende Auswirkung des Klimawandels daran ermessen, dass gut 19 Prozent der Korallenriffe weltweit bereits abgestorben sind, bis 2050 dürften es 25 Prozent sein. „Unterdessen leben wir auf schockierende Weise willenlos vor uns hin und haben kein anderes Ziel im Kopf als Wirtschaftswachstum, ungehemmten Konsum, Gesundheit und persönliches Glück.“ So weit, so unangenehm ‒ aber auch so bekannt.

E.O. Wilson leistet als passionierter Feldbiologe in seinem Buch Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben allerdings eine tiefere Grundierung dieses recht allgemeinen Wissens, das weiterhin zu verdrängen nach der Lektüre des Buches weitaus schwerer fallen dürfte. In drei Teilen führt Wilson in die Problem unserer Ökosysteme ein, skizziert deren „Ist-Zustand“ und entwirft zuletzt Lösungsvorschläge. Sehr fundiert, ohne den Leser mit Statistiken zu erschlagen, sehr persönlich, ohne zu emotional zu werden, und nicht zuletzt mit Stilbewusstsein, werden im ersten Teil die Ursachen für die Krise des Ökosystems aufgeführt.

Das geschieht vielseitiger, als die Presse es gemeinhin leistet. Das Kürzel HIPPO vermittelt, welche Problemfelder es gibt. Der Habitatverlust (= H) zeigt sich weltweit unterschiedlich, in Deutschland drastisch durch landwirtschaftliche Monokultur. Die Schäden, die eine einseitige Flora verursacht, wurden lange marginalisiert und noch jetzt gibt es kaum Konzepte, um Lebensräume zurückzugewinnen. Invasive Arten (= I) sind mittlerweile schmerzhaft ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, dass es aber gerade in den unteren Lebensformen zu verheerenden Invasionen gekommen ist, interessiert bisher wenige. Pollution (= P) muss wohl nicht kommentiert werden. Populationswachstum der menschlichen Spezies (= P) ist längst als Problem identifiziert, konsequent dagegen vorgegangen wird wenig, was bei einer Wachstumswirtschaft auch nicht verwundert. Overharvesting (= O) – Überfischung, Überjagung – ist im Großen und Ganzen geläufig, wie zerstörerisch aber etwa die Fischereiunternehmen selbst die Tiefsee zerstören, ist nur schockierend. Das Beifangquoten bis zu 80% in Kauf genommen werden, gleicht einem Krieg gegen das maritime Ökosystem (natürlich kann der Beifang nicht verarbeitet werden und wird „entsorgt“). Dass von über einer Millionen Nashörnern nur noch 27.000 leben und einige Arten sicher als ausgestorben gelten, ist nur die Spitze einer systematischen Ausrottung (hier wegen der vermeintlichen Heilkräfte der Hörner), die auch und besonders weniger populäre Arten betrifft (wen kümmern die Zigtausend Haie, die täglich lebend ins Meer geworfen werden, nachdem man ihre Flossen abgeschnitten hat?).

Der zweite Teil imponiert mit einer umfassenden Schilderung der Struktur unserer Ökosysteme. Im Gegensatz zu dem Wissen, das Schule und Medien verbreiten, macht Wilson deutlich, dass unser Planet in weiten Teilen noch völlig unerforscht ist, dass Millionen Arten ihrer Entdeckung harren. Schon mit seiner Pionierarbeit über Ameisen und auch in Die Hälfte der Erde fordert Wilson vehement eine Sensibilisierung gegenüber den kleinsten Bewohnern des Planeten und ihrem Beitrag zur Stabilisierung unserer Ökosysteme. Neben einer Unzahl an Insekten sind das zum Beispiel Bakterien, die alle einen unerlässlichen Beitrag zur Stabilität ihrer Habitate leisten. Es ist immer noch viel zu wenig im Allgemeinwissen verankert, wie sensibel und radikal Ökosysteme reagieren, wenn Arten darin aussterben.

Dabei leistet Wilson eine gnadenlose Kritik an allen positiven Entwürfen des Anthropozän. Ökosysteme werden eben nicht in kurzer Zeit zu einem neuen Gleichgewicht finden und die menschengemachten Probleme durch invasive Arten, Überzüchtung, Klimawandel oder Overharvesting kompensieren. Viele von ihnen werden schlicht und ergreifend versteppen – also zu Wüsten ohne Leben werden. Die zehn Millionen Jahre, die für die Etablierung eines neuen Ökosystems benötigt werden, haben die Menschen wohl eher nicht im Blick, wenn sie ihre Hoffnung auf Evolution und Kreativität des Lebens setzen. Der zweite Teil verliert seine argumentative Schärfe und seine lebendige Darstellung teilweise durch etwas rührige Erinnerungen an die Jahre im Feld und an die kleinen Träume des Feldbiologen – der Apell für eine lebendige, der Wirklichkeit der Welt im direkten Kontakt begegnenden Feldbiologie erscheint dagegen wichtig, ist die Alternative der Taxonom, der die Vielfältigkeit der Welt am Computer errechnet.

Die Hälfte der Erde, so die plausible Forderung im dritten Teil, müsse der Natur überlassen werden, um wenigstens einen Großteil der Biodiversität zu erhalten. Einerseits liefert Wilson damit beinahe das einzige konkrete Programm, einen Großteil der Arten zu erhalten, und gibt dem menschlichen Handeln eine Perspektive – was auch psychologisch nicht unterschätzt werden sollte. Andererseits klingt sein Konzept im Verhältnis zu den Apellen der Vergangenheit schon nachgerade verzweifelt und flüchtet sich dann doch in etwas eigenartige Hoffnungen. Eine Liste der Hotspots größter Biodiversität, die weltweit gerettet werden sollten, ist noch ein sehr handfester, wenn auch deprimierender Vorschlag, nimmt er doch die fortschreitende Zerstörung der übrigen Habitate ungenannt in Kauf. Dass man die Natur ja dann mit Hilfe hochauflösender Mikrokameras direkt von zu Hause beobachten könnte, klingt beinahe noch entmutigender. Wenn Wilson sich auch über das Treiben am Wasserloch in der Serengeti begeistern kann, das der Nordeuropäer beim Frühstück betrachtet, bleibt das deprimierende Gefühl, dass nur noch die radikale Trennung des Menschen von den verbliebenen, intakten Ökosystemen helfen kann, diese zu bewahren.

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ließen sich erhebliche Zweifel anmelden an dem Optimismus, den Wilson vor dem erforschten Ausmaß der Zerstörung an den Tag legt. Ein etwas konservativer Heroismus hofft auf große, mutige (und zumeist reiche) Männer, die sich der Rettung der Welt verschreiben, was er anhand einiger Beispiele untermauert. Die Fortschritte in „synthetischer Biologie, künstlicher Intelligenz, Gehirnsimulation und anderen mathematisch basierten Disziplinen“ geben ihm Hoffnung, dass der Mensch Techniken für eine vorrausschauende ökologische Wissenschaft entwickelt, die bei der Rettung der Arten helfen wird. Das ist einerseits gut, da konservative Naturschutzgruppen zu häufig eine negative Einstellung zu technischen Innovationen haben, andererseits bleiben diese Fortschritte unwahrscheinlich, wenn sich unser Verhältnis zur Umwelt nicht grundlegend ändert. Wilson plädiert für eine  neue Naturgeschichte, die uns als Teil der dynamischen Entwicklung unseres Planeten sieht – wie diese Einstellung an alle vermittelt werden soll, überlegt er nicht. Wilson setzt eindeutig auf eine finanzstarke Elite und das Einlenken von Staaten. Sein Buch legt allerdings den Schluss nahe, dass es vieler grundsätzlicherer Kurskorrekturen in unseren Gesellschaften bedarf.

Neoliberaler Kapitalismus, der auf Wachstum basiert, kann Natur nur als Ressource, Flora und Fauna nur versachlicht denken. Wir bräuchten neue Wege, Mobilität zu denken, vielleicht eine fundamental andere Struktur des Zusammenlebens – die ungebrochene Herrschaft des Automobils in den Städten zu beenden, wäre ein wichtiger Schritt. Ganz zu schweigen von einer Ernährungsrevolution, die Fleisch und andere Tierprodukte zum Luxusartikel transformiert. Dringend benötigen wir Ökologie als Schulfach. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Rettung von Wilsons Hot-Spots nicht ohne internationale Zusammenarbeit denkbar ist und immer gefährdet bleiben wird durch das politische Tagesgeschäft (nach der Wahl von Donald Trump sind die Karten neu gemischt), erscheint das Konzept Halbe-Erde (das als „Half-Earth Project“ auch über das Buch hinaus aktiv von Wilson gestaltet wird) als gefährdete Utopie.

Zeit für Pessimismus bleibt nicht. Es gibt nur die Alternative, in einen fast aussichtslosen Kampf einzutreten (auch, wenn man keine Helden erwartet) oder die Erde, wie wir sie kennen, preiszugeben. „Es bleibt uns nur noch wenig Zeit für diese Entscheidung“, wie Wilson mit sparsamen Pathos schließt.

Erscheint Wilsons Programm in mancher Hinsicht geradezu rührend naiv (wenn er etwa davon ausgeht, die Menschen würden schon das Richtige tun, da ja jeder die Erde erhalten wolle), so ist das kein Argument, sich nicht für die Realisation seiner Vision einzusetzen, die auf der anderen Seite auf einem beachtlichen Schatz biologischen Wissens aufbaut und Frucht einer Jahrzehnte langen Arbeit in, über und für die Biodiversität ist. Es ist an uns, die Schwächen, was die soziologische oder kulturelle Basis der Argumentation betrifft, selbst aufzuarbeiten. Das Buch erschüttert, da so viele der vergangenen Prophezeiungen offenbar schon bittere Wahrheit geworden sind. Es ist nicht leicht, Wilsons Optimismus zu teilen – aber er ist ohne Alternative. Zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte war das immer wieder drohende Ende der Welt so gut erforscht und schritt so hartnäckig voran. Zu bedenken ist: Es geht nicht darum, die Welt zu retten; es geht darum, eine Welt zu retten, in der wir leben können – und leben möchten. Nichts dürfte der Erde gleichgültiger sein. Homo Sapiens sind für den Planeten mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein kurzer Schnupfen.

Titelbild

E. O. Wilson: Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben.
Übersetzt aus dem Englischen von Elsbeth Ranke.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
256 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697852

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