Über den richtigen Umgang mit dem kaum Sagbaren

In „W.G. Sebald: Formen des Pathos“ untersucht die französische Germanistin Karine Winkelvoss die Darstellung von Leid und Trauer im Werk des Autors und Literaturwissenschaftlers

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst mag der Titel von Karine Winkelvoss’ auf eine Habilitationsschrift zurückgehende Arbeit W.G. Sebald: Formen des Pathos überraschen. Pathos? Gerade bei Sebald, in dessen Werken die Welt stets mit einem leisen Wimmern untergeht und nicht mit einem lauten Knall? Gerade bei ihm, dessen scheinbar zurückgenommene Texte mit ihrer oft altertümlichen, wie aus der Zeit gefallenen Sprache auf den ersten Blick so unaufgeregt, geradezu distanziert wirken, scheint Pathos ja gerade nicht aufzukommen. Zumal Sebald selbst sich in Essays und Interviews so vehement für „die impassibilité des Stils, die Neutralität des Tons, die Nüchternheit des Ausdrucks, die unpathetische und nicht-melodramatische Diktion“ ausspricht, dass „sein Anliegen, Pathos zu vermeiden, eine Art Evidenz erlangt hat, die selten als solche in Frage gestellt wird.“, so Winkelvoss gleich zu Beginn ihrer Arbeit. Doch schon auf den zweiten Blick merkt man, so abwegig ist ihre bereits im Titel postulierte Grundannahme nicht. Zumindest gelingt es Sebald in seinen Texten, die LeserInnen für seine Figuren und deren Schicksal zu interessieren, im besten Fall sogar einzunehmen, sodass es da tatsächlich etwas zu geben scheint, was man als Pathos bezeichnen könnte. Allerdings nicht unbedingt im Sinne einer gemeinhin abwertenden Definition von Pathos als „Schwulst bzw. die fingierte Erregung“, wie Winkelvoss aus dem Lexikon Literaturwissenschaft zitiert, sondern als „die Fähigkeit, durch die Darstellung des Leids bewegt zu werden und zu bewegen.“ Wenn die Autorin dann noch einige vernichtende Rezensionen bei Erscheinen von Sebalds Hauptwerk Austerlitz 2001 referiert, die in dem Roman ein pathetisches Machwerk sehen, wird klar: Sebalds literarisches Schaffen scheint zwei ganz widersprüchliche Leseeindrücke zu provozieren. Woran das liegt, erläutert Winkelvoss überzeugend und schlüssig in ihrer äußerst lesenswerten Arbeit.

Die theoretische Grundlage in W.G. Sebald: Formen des Pathos bilden die von dem Kunsthistoriker Aby Warburg in seinem Ende der 1920er-Jahre erschienen Bilderatlas Mnemosyne von ihm so bezeichneten Pathosformeln. Es handelt sich dabei um in den Werken der Bildenden Kunst seit der Antike immer wiederkehrende visuelle Formen, Körpergebärden vor allem, in veränderten Kontexten. So finden sich in der Darstellung der Trauer- und Klagegebärden bei Maria Magdalena auf den Kreuzigungsgemälden der italienischen Renaissance „‚vorgeprägte Ausdruckswerte‘ aus der antiken Ikonographie der rasenden Mänaden (…) sodass Maria Magdalena visuell als Mänade unter dem Kreuz erscheint.“ Nach Warburg sei die Pathosformel ein „‚Superlativ[] der Gebärdensprache‘, das den ‚Leidschatz der Menschheit‘ auszudrücken und weiterzutragen vermag.“ Winkelvoss legt schlüssig dar, wie sich diese Herangehensweise aus der Bildenden Kunst auch auf Literatur übertragen lässt, insbesondere auf Sebalds Werk.

Ausgehend von eigenen Äußerungen Sebalds analysiert Winkelvoss, welche stilistischen und formalen Strategien der Autor verfolgt, um Pathos zu vermeiden. Am Anfang steht Sebalds, wie er selbst es nannte, „Angst vor dem Falschen“, also die Schwierigkeiten, die sich ihm bei der Frage stellten, wie man dem Leid und der Mitleidenschaft eine angemessene literarische Form geben könne. Im posthum publizierten Prosastück Campo Santo sei es Sebald tatsächlich nicht gelungen, die Trauerrituale auf Korsika, bei denen sich so genannte Klageweiber in exzessiven Leidbekundungen – in Schreien und Haare raufen – begingen, überzeugend literarisch zu bearbeiten. Für diese seltsame Mischung aus zur Schau gestellter Klage und wenig echter Trauer gelang es nicht, eine adäquate Form zu finden. Winkelvoss zeigt, dass es sich bei allen Strategien, die Sebald in seinen Texten verfolgt, um nicht ins „Melodramatische“, in ein falsches Gefühl zu verfallen, das dem Thema nicht gerecht würde, im Grunde um solche Pathosformeln handelt.

Wenn etwa Sebald in seine Texte immer wieder Fotos einbaut, dann ginge es nicht um historische Authentizität, sondern um eine Inszenierung von Dokumentarischem, nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Wahrheit:

Das ‚Dokument‘ als ‚Fremdkörper innerhalb des Fließtextes‘ (…) bewirkt eine Verfremdung, die den Gegenstand zugleich auf Distanz hält und dessen Ausdrucksintensität steigert – ganz in der Art einer Pathosformel.

Dasselbe gilt für Sebalds Erzählverfahren, das er bei Thomas Bernhard ausmachte und dort als „periskopisches“ Verfahren bezeichnete, also als geschachteltes Erzählen mit „mehrere(n), zwischengeschaltete(n) Erzähler(n)“, wie etwa in dem von Winkelvoss angeführten Beispiel aus Austerlitz: „Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Věra, sagte Austerlitz (…)“. Vordergründig wird so eine größere Distanz zum Erzählten erzeugt, doch auch dazu bemerkt Winkelvoss:

Die Inszenierung des Erzählers als Empfänger oder als Zuhörer ist selbst eine Pathos-Figur: Eine Figur der Empfänglichkeit, der Sensibilität, der Affizierbarkeit, der Passibilität, bzw. Passivität.

Auch andere Stilmittel Sebalds lassen sich mit dem Begriff der Pathosformel auf ihren pathetischen Gehalt hin untersuchen, und was einerseits Distanz erzeugt, erzeugt gleichzeitig auch Pathos – nicht in einem abwertenden Sinne wohlgemerkt. Sei es die Sprache, die manchmal künstlich, wie aus einem anderen Jahrhundert wirkt, oder sich durch eine umständliche Syntax auszeichnet, seien es der Einsatz von Zitaten und Intertextualität.

Dass Sebalds Werk in Bezug auf das Pathos so widersprüchlich rezipiert wird, liegt nach Winkelvoss also daran, dass Sebald, indem er Pathos um jeden Preis vermeiden will, ein ganzes Register an Techniken auffährt, um vordergründig allzu große und damit letztlich falsche emotionale Nähe zum erzählten Gegenstand zu vermeiden. Und doch kehren gerade in diesen Vermeidungsstrategien Pathosformen wieder, die aber selbst noch, obwohl Sebald sie – oder gerade indem er sie – in einen neuen Kontext versetzt, wieder mit Pathos aufgeladen werden.

Winkelvoss hatte ihre hier vorliegende Arbeit zunächst auf Französisch verfasst und nun selbst ins Deutsche übertragen. Dass die Autorin zahlreiche französischsprachige Quellen nutzt, gewährt indirekt auch einen Einblick in die französische Forschung. An einer Stelle weist Winkelvoss auf länderspezifische Strömungen in der französischen, englischen und deutschen Sebald-Forschung hin, wobei der Autor gerade in letztgenannter besonders kritisch gesehen werde. Vor allem in Deutschland wird ihm zum Teil eine „ahistorische Interpretation von Geschichte“ vorgeworfen, die den Opfern des deutschen Nationalsozialismus nicht gerecht werde, indem er das Leid zu einer Leidensgeschichte der Menschheit verallgemeinere. Fast schlimmer noch: Sebald thematisiere Leid vornehmlich, um sich selbst als „Schmerzensmann“ zu stilisieren.

Winkelvoss‘ Ton ist einerseits sachlich und um Objektivität bemüht, andererseits vermittelt er überzeugend ihr Interesse und den Enthusiasmus am Forschungsgegenstand in einer klaren und verständlichen Sprache. Wie Sebald selbst scheint Winkelvoss einen möglichst objektiven Standpunkt einnehmen zu wollen, verteidigt sein Werk einerseits gegen allzu heftige Anfeindungen, relativiert oder widerspricht andererseits Sebalds eigenen Aussagen, etwa seiner recht harschen Kritik an Alfred Andersch in einem in Luftkrieg und Literatur abgedruckten Aufsatz. Und doch ist ihr letztes Kapitel am Ende eine vehemente Sebald-Verteidigung, für die sie die geschlossene Form ihrer Arbeit opfert. Hatte das Buch mit einer Episode über die kretischen Klageweiber begonnen, so kommt Winkelvoss zwar auf diese zurück, doch eben schon im vorletzten Kapitel, während sie im Schlusskapitel noch einmal ausholt, um mit Brechts epischem Theater Sebald vom Vorwurf des Unpolitischen freizusprechen.

Natürlich ist W.G. Sebald: Formen des Pathos ein literaturwissenschaftliches Fachbuch. Trotzdem wäre es schade, würde man sich mit der Arbeit nur auszugsweise als Zitate-Steinbruch für akademische Arbeiten befassen. Nach der Lektüre hat man nämlich wirklich den Eindruck, etwas Neues, durchaus Essenzielles über W.G. Sebalds literarisches Werk erfahren zu haben.

Titelbild

Karine Winkelvoss: W. G. Sebald. Formen des Pathos.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2022.
380 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770566181

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