Schöne Industrie

Alastair Philip Wiper genießt Formen, Farben und Strukturen als „Unintended Beauty“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fotografie ermöglichte von Beginn an einen besonderen Blick auf Technik und ihre Strukturen. Sie begleitete die Entwicklung der Industrien intensiv und arbeitete sie ästhetisch selbst dort auf, wo sie sich vermeintlich auf dokumentarische Aufgaben beschränkte. Dies erreichte einen ersten Höhepunkt im Neuen Sehen der 1920er und frühen 1930er Jahre, als die Strukturen und Dimensionen von technischen Geräten im Kontext der im Amerikanischen „Machine Age“ genannten Entfaltung der Industriegesellschaften in den Vordergrund rückten und das Interesse auf sich zogen.

Die Industriefotografie des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts knüpfte daran selbstverständlich an, allerdings mit einem anderen Zugriff als noch in den 1950er und -60er Jahren. Statt der kleinteiligen Strukturen und Analogien zwischen Natur und Technik, die eine eigenständige fotografische Tradition eben auch in der Produktfotografie begründeten, standen nun großdimensionierte Objekte im Vordergrund, was nicht zuletzt mit der Fokussierung auf die enorme Größe moderner industrieller Anlagen und Geräte zurückzuführen ist. Sie vermochte die Lücke zu füllen, die der Zerfall von Pathos und Erhabenheit in der Moderne hinterließ. Dies lässt sich an einem Fotografen wie Thomas Struth verdeutlichen, dessen Werkschau 2010 die Vielfalt der Auseinandersetzung der Fotografie mit großformatigen technischen Apparaten zeigte. 

Der britische Fotograf Alastair Philip Wiper, 1980 in Hamburg geboren, gehört offensichtlich einer anderen Fotografengeneration an. Dennoch steht er in der Tradition der Technik-Fotografie, die mit Struth die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts prägte. Deutlich wird dies nicht zuletzt an seinen Fotografien der Daewoo-Werft in Südkorea, die Jahre zuvor auch von Struth besucht worden war. Hier zeigen sich die Gemeinsamkeiten der Fotografen. In den Motiven und im Zugriff, den Wiper in anderen Arbeiten nutzt, scheinen hingegen die Differenzen auf, denn die fast aufdringliche Größe des aufgeschnittenen Schiffsrumpfs steht in einem denkwürdigen Kontrast zu den beinahe beiläufigen, dabei offensichtlich inszenierten Fotografien, in denen die Peripherie der technischen Einrichtungen in den Vordergrund rückt: Der Blick in die Halle einer dänischen Fabrik, in der Käse in großen Regalanlagen reift. Die Maschine, mit der die Belast- und Haltbarkeit von Adidas-Turnschuhen geprüft wird. Die Außenwand eines Gewächshauses in Dänemark, das der Gewinnung von medizinischem Cannabis dient – ein Detail, das wir dem Hinweis auf die wahrnehmungsleitende Funktion der Bildunterschrift verdanken.

Wiper kombiniert in diesen Arbeiten Beiläufigkeit mit Struktur, was dem Titel des Bandes, Unintended Beauty, noch am nächsten kommt. Denn es ist offensichtlich, dass der Zugriff des Fotografen, Standort, Auswahl und Inszenierung (etwa indem Szenerien freigeräumt werden) die Wirkung ausmacht und nicht die Objekte aus sich selbst heraus. So etwa in der Aufnahme der Schneidemaschine in einer Textilfabrik, die isoliert und freigestellt in der Ecke einer ansonsten leer scheinenden Halle steht, bedient von einem Arbeiter, der auf ihr hockt wie in einem Kran-Cockpit. Nicht den Ingenieuren, die diese Maschinen, Apparate und Anlagen errichten, ist ihre Schönheit zuzurechnen, sondern der extraordinären Perspektive, die die Objekte zu- und einrichtet.

Dabei wird zugleich auch der Blick auf eine Kultur gerichtet, in der vitale Bedürfnisse industriell befriedigt und dabei aus ihren Ursprungskontexten vollständig herausgelöst werden. Die gereihten, geschlachteten und ausgenommenen Schweine sind dafür noch das konventionellste Exempel; sie knüpfen offensichtlich an die Schlachthofberichte der späten 1920er und frühen 1930er Jahre an. Allerdings haftet diesen Motiven noch ein bisschen der geschickte Blick auf die morbiden Techniken einer zivilisierten Gesellschaft an. Wipers Aufnahmen der Würste, die ihrer Weiterverarbeitung harren, die Transportbänder, auf denen Schweinefleischmasse zur Verfüllung transportiert wird, oder die gefrorenen Schweinefettquader, die zu Wurst weiterverarbeitet werden sollen, verstellen aber bereits den Blick auf den Tötungsakt. Hier sind nur noch Materialien zu sehen. Das gleiche gilt für die industrielle Wodka-Destille, gegen die das Bild des Schnapsbrenners gestellt ist, der sich noch selbst an die Produktion seines Stoffes macht. Wiper weiß, wie man eine industrielle Anlage angemessen darstellt, nämlich groß, und so, dass deutlich wird, dass sie nur einem Zweck dient: ein gäniges Genussmittel herzustellen.

Geradezu liebevoll hingegen der Produktionsprozess von Niederegger Glücksschweinen: Echte Menschen sind zu sehen, die konzentriert die immer gleichen Marzipanfiguren formen. Freilich haben gerade diese Bilder aber auch fast unheimliche Interferenzen, denn die Arbeiterinnen bei Niederegger zeigen dieselben konzentrierten und ernsthaften Gesichter wie ihre Kolleginnen in einer amerikanischen Dildofabrik. Im Produktionsprozess kümmert der Gegenstand nicht mehr, der Prozess und seine gleichförmige Qualität stehen im Vordergrund. Daran kann auch die triumphierende Parade der Dildos und Fäuste nichts ändern, die Wiper neben die Aufnahme von der Fertigungshalle stellt.

Und auch hier macht der Fotograf nicht Halt, denn die oben erwähnte Aufnahme aus dem Schlachthaus verweist ebenso auf die Arbeiten, die Wiper in einer Sexpuppenfabrik aufgenommen hat. Hier sind weibliche Kunstkörper in verschiedenen Fertigungsstadien aufgehängt zu sehen, kaum anders als die ausgenommenen Schweine im dänischen Schlachthaus. Schließlich kann auch das sexuelle Bedürfnis mittlerweile industriell befriedigt werden, wenngleich das Muster, das hier anscheinend bedient wird, die immer gleiche Pose und Ausstattung verlangt. Was die Sexpuppen von den Fertigungsrobotern unterscheidet, die Wiper auf der nachfolgenden Seite zeigt, ist lediglich, dass sie noch Menschsein zu simulieren haben.

Auch wenn man sich vor einer allzu voreiligen zivilisationskritischen Melancholie hüten sollte, bleibt doch im Rückblick die Differenz zu einer der Ikonen des Neuen Sehens, nämlich der in Zusammenarbeit von Umbo und Franz Hessel entstandenen Reportage Eine gefährliche Straße von 1929, offensichtlich. Wenn Hessel seinerzeit in Bezug auf die Umbo-Fotografien der Schaufensterpuppen von den Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander schrieb, lassen sich angesichts der Eindeutigkeit, welches Geschlecht hier bedient werden soll, ganz andere Schlüsse ziehen. Allerdings weisen die auf einer der Fotografien abgebildeten Männerköpfe darauf hin, dass nicht nur weibliche Körper objektisiert werden. Mit nur einem kleinen Unterschied: von den männlichen Lustobjekten sind bloß Köpfe zu sehen, von den weiblichen nur die Körper.

Wipers Band zeigt mithin, dass die Auseinandersetzung der Fotografie mit der Gesellschaft und der Kultur, in der sie sich bewegt, bis heute nicht abgeschlossen ist. Sie taucht in Abgründe, die unsichtbar geworden sind, sie erkundet die Basis der industriellen Kultur, in der alles von Natur aus künstlich ist und sein muss.

Titelbild

Alastair Philip Wiper: Unintended beauty.
Text(e) von Marcelo Gleiser, Ian Chillag. Englisch.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2020.
208 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783775746779

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