Pragmatisch und lebensnah

Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter versammeln 21 Backstage-Geschichten über den Weg eines Werks von der Konzeption bis zur Veröffentlichung

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.“ Anfang der 1950er Jahre prägte Gottfried Benn den bis heute immer wieder zitierten Schlüsselsatz der Produktionsästhetik. Dieser Zugang zur Literatur sollte lange die Ausnahme bleiben. Und bis heute stehen Textkritik und Rezeptionsästhetik im literaturwissenschaftlichen Geschäft weitgehend im Mittelpunkt. Umso aufmerksamer wird man den im Elif Verlag erschienenen Band Die Backstage eines Buches zur Kenntnis nehmen. Die Herausgeber Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter sind selbst Schriftsteller und aus der Innensicht mit der Materie vertraut. Ihr Ansatz ist kein akademischer; er folgt beispielsweise nicht den Spuren der critique génétique, die den Produktionsprozess eines Textes anhand der materialen Spuren seiner Entstehung zu analysieren sucht und sich Manuskripten, Typoskripten, Autorkorrekturen widmet. Der Weg, den der Sammelband zu den Hintergründen des Schreibens eröffnet, ist vielmehr ein pragmatischer, lebensnaher: 21 Autorinnen und Autoren erzählen, wie es vom Entwurf zu der Veröffentlichung eines bestimmten Buches kam, gleich welchen Genres. Entsprechend lebendig und vielfältig sind die Geschichten, die mit überraschender Offenheit alltägliche Widrigkeiten ebenso wie Ausnahmesituationen in ihrer Tragweite für die Realisierung eines Werkes schildern.

„Schreibt sich ein Gedicht, eine Erzählung, ein Roman von selbst?“ fragen die Herausgeber in ihrer Einleitung. Eine spannende Frage, die auch Gottfried Bonn bewusst offenlässt, wenn er die These aufstellt, ein Gedicht entstehe überhaupt sehr selten. Antwort von Marcel Beyer: „Als ich mit der Arbeit an meinem Roman Flughunde beginne, weiß ich nicht, dass ich mit der Arbeit an meinem Roman Flughunde beginne.“ Klarer kann man die Polarität zwischen der Poiesis, dem Machen, und dem Sich-Schreiben eines Textes nicht zum Ausdruck bringen.

Es sind ausschließlich veröffentlichte Werke, in deren Backstagebereich uns die Autorinnen und Autoren mitnehmen. Dabei ist die Veröffentlichung keine Selbstverständlichkeit in der Tätigkeit einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers. Anne Rabes Debutroman Die Möglichkeit von Glück etwa war nicht der erste Roman, den sie geschrieben hatte. Ihm war ein 300 Seiten starkes Manuskript vorangegangen, für das sie keinen Verlag hatte finden können. Auch wenn das Scheitern, wie die Autorin schreibt, „furchtbare Niederlagen“ seien, von denen man sich erholen müsse, seien sie notwendig, sie seien „Teil des Ganzen“. Umgekehrt macht sie aber auch klar, was es bedeutet, eine Verlagszusage schon vor der Schreibarbeit zu haben. „Gerade als Frau und Mutter hatte ich zuvor oft das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen, so viel Zeit und Energie auf das Schreiben zu verwenden. Vor allem vor mir selbst. Den Raum, den dieser Text bräuchte, den würde ich mir nun nehmen können.“

Raum ist ein wesentliches Stichwort. Eine Reihe von Autorinnen betont die Bedeutung eines eigenen Arbeitszimmers, das mit einer größer werdenden Familie oft einem Kinderzimmer weichen muss. Im Hinblick auf den eigenen Schreibraum können Residenzstipendien einen entscheidenden Schub für das Schreiben darstellen, wie Berit Glanz es in der Entstehungsgeschichte ihres Buches Pixeltänzer beschreibt.

Lukas Bärfuss erzählt eine ganz andere Geschichte. Er schreibt über sein Schreibwerkzeug, eine Schreibmaschine. Und was heißt: eine Schreibmaschine. Nein, die Sache ist viel komplizierter. Viele Schreibmaschinen sind Mythen, allen voran die rote Olivetti Valentine, die von dem Mailänder Designer und Architekten Ettore Sottsass entworfene Reiseschreibmaschine. Bekannt ist auch die Vorliebe von Schreibenden für bestimmte Schreibmaschinen. Bei Friederike Mayröcker war es die Hermes Baby. Für Lukas Bärfuss ist es die IBM 6781. Sie habe einen großen Schritt in seiner persönlichen Entwicklung dargestellt, schreibt er. Und hier lohnt es sich, der Begründung des Schriftstellers nachzugehen. Denn es zeigt sich ein Aspekt des Schreibens, der die Tätigkeit der Hand, die Übertragung der Bewegung der Finger in ein Schriftbild in den Vordergrund stellt. Es geht nicht um medientheoretische Überlegungen, es geht nicht darum, digitale Arbeitsprozesse versus analoge, Computer versus Schreibmaschine zu setzen. Es geht um die konkreten Schreiberfahrungen mit einer Typenrad- und einer Kugelkopfschreibmaschine. Bärfuss erzählt:

„Als junger Mensch war ich wochenlang aus Mangel an einer erschwinglichen Alternative an eine Brother gezwungen. Fürchterliche, unrhythmische Tage waren es, denn im Gegensatz zu Kugelköpfen, zu denen ich danach gewechselt bin, verharren Typenräder nach dem Anschlag in ihrer Position. Zwischen zwei Buchstaben liegt niemals dieselbe Distanz und deshalb nie dieselbe Zeitspanne, und jedes Wort auf dieser Brother hat einen anderen Beat, Wort für Wort ein chaotisches Stakkato, das in keine Verbindung mit meinen Händen zu bringen war. Und da ich der Musik verfallen bin, in allem die Melodie suche, litt ich in diesen Wochen grässlich. Seither bin ich Typenrädern aus dem Weg gegangen.“

Nun handelt es sich bei der IBM 6781 um eine Typenradschreibmaschine. Sie schlage jedoch, wie der Händler Herr Tschudi dem Schriftsteller versichert hatte, präzis und rhythmisch, Anschlagverzögerungen gebe es keine – „und in diesem Augenblick, Dinçer, jetzt gerade, tippe ich mit einer Geschwindigkeit von sechzig Anschlägen pro Minute, andante, gehend. Ich lüge nicht! Es ist der Rhythmus meiner Silben, und wenn du magst, dann ziehe ich ein wenig das Tempo an, schreite aus mit dir, ewig jung und frisch und allegro, hinaus in den Sommermorgen kurz vor sechs Uhr früh.“ Mit diesem Satz wird aber auch klar, dass Bärfuss nicht wie die anderen Autorinnen und Autoren über die Entstehung eines seiner Bücher schreibt, er schreibt über die Backstage seines Beitrags für die Anthologie: „Wenn du mich sehen könntest, Dinçer, an meiner Schreibmaschine frühmorgens im Juni! Ich schwöre: eine Schreibmaschine!“ Gleichzeitig hebelt er in seinem Text, der „Backstage“ heißt, das Konzept der Anthologie mit fröhlicher Leidenschaft aus: „Du fragst nach der Hinterbühne, Dinçer, aber mach dir keinen Kopf. Das Leben kennt keinen Backstagebereich. […] Ein Tanz ohne Schrittfehler, dazu möchte ich dich einladen, eine präzise Allemande oder Polka in den Abgrund oder in die Rettung.“

Der Begierde der Leserschaft, die darauf hofft, das vermeintliche Geheimnis der Genese eines Textes werde enthüllt, wissen viele Autorinnen und Autoren ihren Humor entgegenzusetzen: „[…] lass die Backstage im Dunkeln, es sei denn, man fordert dich explizit dazu auf. Aber muss ich dann die Wahrheit sagen? Wird sich zeigen. Ein Gerichtshof ist es nicht.“, schreibt Monika Rinck in ihrem Beitrag über ihr Buch Honigprotokolle. Ralph Tharayil fragt nach der Öffnung zur fünften Wand, zur Hinterbühne. „Wenn niemand zuschauen würde, wenn niemand da wäre im Publikum, würde er sich trauen, die ersten, also banalsten Gedanken zu äußern“. Karin Peschka erzählt im Kontext der Entstehung ihres Romans Dschomba eine Anekdote über das Eigenleben von Geschichten. Sie seien nicht still, wenn der Stift weggelegt und das Notizbuch zugeklappt werde für den Tag. Geschichten würden sich von selbst weiterdenken. „Und dann kommt die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des großen, grauen Regenschirms, der schon im zweiten Kapitel eine Rolle spielt. Sie kommt, nachdem der Roman fast fertiggeschrieben ist. Beim Duschen. Deswegen. Natürlich!“

Jeder Textbeitrag wird einleitend von einem Foto begleitet. In der Regel sind sie von den Autorinnen und Autoren selbst aufgenommen und fügen dem Text damit ein visuelles Dokument der Arbeitssituation hinzu. Oft ist es der Blick auf den Schreibtisch und auch auf den Stuhl oder der Blick ins Archiv, seien es Disketten, Screenshots, Manuskriptseiten oder Arbeitsmaterialien. Es können aber auch das Erinnerungsfoto der Mutter oder die Zeichnung der Tochter oder die verlassene Stadtlandschaft im Lockdown sein, die Zeugnis von persönlichen Begleitumständen des Schreibens geben.

Die Wahl der Erzählperspektive, der Nachhall abgelegter Notizen, die schwierige Entscheidung für einen Titel, aber auch der Einfluss von Lektorinnen und Lektoren, der Druck der Öffentlichkeit, die Kraft, nein zu sagen und dann, wie Anne Weber mit ihrem Buch Annette, ein Heldinnenepos an einem Roman in freien Versen festzuhalten, ihn in einem anderen Verlag zu veröffentlichen und 2020 den deutschen Buchpreis für eben diesen Roman zu erhalten – die Geschichten sind spannend, und die Texte in ihrer Fokussierung auf ein einzelnes Buch oder einen einzelnen Text konzentriert und oft unterhaltsam. Fast möchte man diesen gelungenen Band als Ferienlektüre empfehlen.

Titelbild

Dinçer Güçyeter / Wolfgang Schiffer: Die Backstage eines Buches. Wege und Irrwege literarischen Arbeitens.
Elif Verlag, Nettetal 2025.
204 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783946989905

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