Größenwahnsinnige, aber harmlose Lausbüberei?

Norbert Christian Wolf lässt die literarische Intelligenz in der „Revolution in Wien“ zu Wort kommen

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Spätestens mit dem Jubiläumsjahr 2018“, schreibt der Verfasser, „liegt eine Vielzahl von brauchbaren Darstellungen zur Verfassungs-, Politik-, Kultur-, und Gesellschaftsgeschichte der untergehenden Habsburgermonarchie sowie der (frühen) Ersten Republik vor, nicht aber eine Untersuchung mit spezifischen Fokus auf Literaten und Intellektuelle, wie sie dieses Buch anstrebt.“ Wolf dokumentiert die literarischen und politischen Aktivitäten einiger prominenter Schriftsteller/innen in Wien während des revolutionären Umbruchs vom Herbst 1918 bis zum Frühjahr 1919. Im Mittelpunkt stehen mithin nicht die politischen Kämpfe der Umbruchszeit, sondern die in diese Auseinandersetzungen teils begeistert, teils unfreiwillig involvierten Schriftsteller. Heimlicher Protagonist des Geschehens ist der Kommandant der Roten Garde Egon Erwin Kisch.

Im ersten Teil des Buchs rekonstruiert Wolf die literarischen Aktivitäten der Schriftsteller aus zeitgenössischen Quellen wie Presseberichten, Briefen, Tagebuchnotizen; im zweiten Teil präsentiert er literarische Texte, die aus der Retrospektive dem kontingenten Geschehen Züge eines kollektiven Gedächtnisses verleihen. Hier nun hat sich – nicht ohne Mitwirkung der einstigen Akteure und Memoirenschreiber – ein Narrativ herausgebildet, das den revolutionären Griff der Schriftsteller in die Politik als größenwahnsinnige, aber letztlich doch harmlose Lausbüberei schildert, etwa als die „Verwandlung des Kriegspressequartiers in eine Rote Garde“ (Karl Kraus) oder den „Sieg des Literaturcafés über die Straße“ (Anton Kuh).

Wie unangemessen dieses Gedächtnis den Problemen der Zeit ist, verdeutlichen schon die von Wolf zusammengestellten Tagebuchnotizen Arthur Schnitzlers. Schnitzler fürchtet die Plündereien der heimkehrenden Soldaten. Er ermisst die Probleme, die das hektisch demobilisierte Massenheer in die Stadt Wien hineinträgt, er ahnt die hochexplosive Gemengelage, die durch Rivalität bewaffneter sozialdemokratischer und sozialistischer Einheiten für den sich gerade herausbildenden republikanischen Staat entsteht.

In dieser Situation waren die Aktivitäten von Schriftstellern kaum kalkulierbar, die außer ihrer – nicht in Frage zu stellenden – revolutionären Gesinnung keine Befähigung zu verantwortlichem politischem Handeln besaßen. Wolf lässt die literarischen Akteure in zeitgenössischen Berichten zu Wort kommen: Aktivisten wie Robert Musil und Robert Müller, Expressionisten wie Franz Werfel, sozialrevolutionär Gesinnte unterschiedlichster Provenienz wie Franz Blei und Albert Paris Gütersloh, die sich wie Werfel auf ein neumythisches Urchristentum beriefen. Sie wurden, aus welchen kulturellen Milieus sie auch stammten, von der Idee bewegt, dass, nachdem der Krieg die Erlösung von den gesellschaftlichen Übeln nicht gebracht hatte, die Revolution sie herbeiführen würde und dass sie dabei (wieder) wirksam beteiligt sein müssten. Nüchterne Stimmen wie etwa die des Schriftsteller-Journalisten Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel („Der Friede“, „Der Neue Tag“) fehlen.

Im zweiten Teil lässt Wolf die Schriftsteller auf die Ereignisse nach der Ausrufung der Republik und auf die Eroberung der „Neuen Freien Presse“ zurückblicken. Das geschieht in kurzen Texten aus Tagebüchern (Schnitzler, Leopold von Andrian), Feuilletons (Herrmann Bahr, Joseph Roth), Reportagen (Egon Dietrichstein), Anekdoten (Friedrich Torberg), Possen (Anton Kuh), aber auch in längeren Auszügen aus Memoiren (Franz Blei, Robert Neumann) und überlangen Auszügen aus Werfels Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“, den schon Leo Perutz als „Barbara oder die Langeweile“ etikettiert hatte. Ob es sinnvoll ist, das kollektive Gedächtnis nach literarischen Gattungen zu kartographieren, sei dahingestellt. Den Abschluss der Revue bildet die Polemik von Karl Kraus: Er urteilt Kisch, Blei, Werfel und all die fehlgeleiteten Kriegs- und Revolutionsenthusiasten einzeln und in cumulo ab, alttestamentarische Strenge und der Monopolanspruch auf Gesinnungsreinheit stützen einander.

Am Fuße des Parlaments versammelten sich am 12. November 1918 Zehntausende aus dem Dienst der Monarchie entlassene Soldaten, Politiker aller Parteien, die sozialdemokratische Volkswehr, die Rote Garde, Revolutionäre aller Schattierungen, unter ihnen auch einige Schriftsteller. Die letzteren, untereinander konkurrierend um die angemessene politische Utopie, hatten eine Agenda, die sich von der aller übrigen unterschied, für die sie zu sprechen beanspruchten. Wolfs Buch enthält zweifellos die bislang umfassendste Dokumentation der literarischen Aktivitäten von Schriftstellern aus der revolutionären Umbruchszeit in Wien, erläutert und verständlich gemacht durch eine Fülle sachkundiger Kommentare und Begleittexte. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung von Denkstil, Habitus und Lebensführung dieser Gruppe bleibt jedoch ein Desiderat.

Titelbild

Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19.
Böhlau Verlag, Köln 2018.
320 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783205200772

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch