Paradoxaler Antisemitismus

Der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich hat erstmals die gesamten Deutschlandreiseberichte des amerikanischen Autors Thomas Wolfe von 1926 bis 1936 ediert

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reiseberichte über ein rätselhaftes, geradezu exotisiertes Deutschland zu schreiben, hat in der Literaturgeschichte eine lange Tradition. Die Resultate waren meist von berückender Komik. Einer der früheren Klassiker ist Mark Twains 1880 publizierter satirischer Reise-Report A Tramp Abroad (Bummel durch Europa). Darin bestaunte der amerikanische Schriftsteller unter anderem die ergebene Duldungsstarre des lokalen Publikums in einer Mannheimer Wagner-Aufführung. Während ihm selbst die monumentale Musik nur wie ein einziges schrilles Gekreische vorkam, schienen ihm die Deutschen um ihn herum all dies in stiller, ergebener Andacht zu bewundern. Ein weiterer Höhepunkt ihm bizarr vorkommender Rituale, die Twain in Heidelberg beobachtete, waren die blutigen Exzesse schlagender Studentenverbindungen. Twain besuchte eine Mensur und notierte nicht ohne Verwunderung, wie deutsche Studenten in einer Fechtpause ungerührt zu Mittag aßen, während ein Arzt in unmittelbarer Nähe die klaffenden Gesichtswunden eines der Paukanten nähte.

Die spezielle nordamerikanische Faszination für stereotype Imaginationen des Teutonischen, wie sie sich in Twains frühem Reisebericht paradigmatisch ausdrückt und zugleich ironisiert wird, setzte sich bis in die Gegenwart fort. Man findet sie genauso in neueren Büchern wie Tuvia Tenenboms burleskem Bericht Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise (2012) oder auch ganz generell in der an tragikomischen Missverständnissen reichen nordamerikanischen Verehrung für die Band Rammstein.

Das Reiseliteraturgenre generierte im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe aussagekräftiger historischer Dokumente, auf die Historiker, Literaturwissenschaftler und Leser heute zurückgreifen können, um vergangene Zeiten aus ‚erster Hand‘ neu zu hinterfragen. Ein herausragender Fall ist der einst international bekannte Romancier Thomas Wolfe, ein vielbeachteter Nachwuchsautor der 1920er und 1930er Jahre. Wolfe wurde von dem ersten US-Nobelpreisträger Sinclair Lewis in seiner Preisrede im Jahr 1930 als einer der kommenden größten Autoren Amerikas, wenn nicht der Welt gerühmt. Vor seinem frühen Gehirntuberkulose-Tod im Jahr 1938 erzielten Wolfs Veröffentlichungen beachtliche Publikumserfolge. Seine Werke erschienen zeitnah in deutscher Übersetzung im Berliner Rowohlt Verlag, wo Wolfes Debüt Look Homeward, Angel (Schau heimwärts, Engel!) 1932 herauskam.

Der Berner Literaturwissenschaftler und Komparatist Oliver Lubrich hat Wolfes Literarische Zeitbilder 1926-1936 nun erstmals in einer kompletten Zusammenstellung bei Manesse ediert, ins Deutsche übersetzt von Renate Haen, Irma Wehrli und Barbara von Treskow. Bereits 2004 legte Lubrich mit Reisen ins Reich eine überaus lesenswerte Anthologie mit Reiseberichten ausländischer Besucherinnen und Besucher des nationalsozialistischen Deutschlands vor, die mittlerweile ins Englische und ins Französische übersetzt ist, gefolgt von dem Band Berichte aus der Abwurfzone, einer Zusammenstellung internationaler Reisereportagen aus dem Bombenkrieg und über dessen Auswirkungen auf das „Dritte Reich“. Auch Thomas Wolfe kam bereits in Reisen ins Reich vor. Nun jedoch werden seine deutschen Selbstzeugnisse in Lubrichs neuer Publikation erstmals umfassend präsentiert, zusammen mit vielen historischen Foto-Illustrationen, Anmerkungen, einer biographischen Zeittafel und einem ausführlichen Nachwort des Herausgebers.

Thomas Wolfe bereiste Deutschland zuerst während der Zeit der Weimarer Republik. Nach drei teils mehrmonatigen Aufenthalten in den Jahren 1926, 1927, 1928 und 1930 kam es vor seinem Tod in den Jahren 1935 und 1936 noch zu zwei zunehmend prekären Begegnungen mit dem „Dritten Reich“. Allein schon diese historische Koinzidenz macht Wolfes hier chronologisch und nach den jeweiligen Besuchsjahren sortierte Notizen, Briefe, Zeitungsartikel und literarische Texte zu historischen Quellen ersten Ranges. Folgt man den Aufzeichnungen des Autors seit den 1920er Jahren, die Lubrich allzu marktschreierisch als „individuelles Drama einer tragischen Deutschlandliebe in sechs Akten“ anpreist, in ihrer historischen Reihenfolge, so lässt sich ein zeittypischer Wandel von einer tiefen amerikanischen Faszination für alles ‚Deutsche‘ hin zu einem wachsenden Befremden gegenüber der zunächst noch euphorisch gepriesenen Kultur verfolgen.

Dabei muss man wissen, dass der in North Carolina aufgewachsene Thomas Wolfe zunächst beileibe kein Antifaschist war. An einer Stelle der hier versammelten Dokumente machte er in seinem Notizbuch eine „Pro-“ und „Kontra“-Aufstellung demokratischer und faschistischer Gesellschaftsysteme, die eine prinzipielle Offenheit für die ‚Werte‘ einer Diktatur erkennen lassen, darunter „physische Sauberkeit“, ein „gesundes Volk“ und eine ominöse „Konzentration nationaler Energie“. Zudem laborierte Wolfe selbst lange an manifesten judenfeindlichen Einstellungen, wie seine hier versammelten Notizen teils in bedrückender Weise belegen. Er könne Juden nicht leiden, bemerkt Wolfe dort unumwunden, um denjenigen, die dem „Dritten Reich“ vorwürfen, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, entgegenzuhalten, in Deutschland dürfe man diese Reserve gegenüber dem Judentum wenigstens offen äußern, während ihm das in Amerika nicht möglich sei. Wolfe, der einen deutschen Vater hatte, glaubte zudem an die notorische Propaganda-Darstellung der Deutschen als eines „Volks ohne Raum“ und erging sich in obskuren Spekulationen über eine tiefe Verwandtschaft der weißen Amerikaner mit den Deutschen als einem unlöslichen „Gemisch der Rasse“, mit dem er sich vor allem auch seine eigenen spontanen Zugehörigkeits- und „Heimat“-Gefühle in Deutschland zu erklären versuchte.

In der 1934 erstmals erschienenen Erzählung Dark in the Forest, Strange as Time (Dunkel im Walde, seltsam wie Zeit), die, abermals nicht ohne antisemitische Klischees, von einer Zugfahrt eines jungen Amerikaners durch Deutschland handelt, der zufällig mit einem jüdischen Tuberkulosekranken in einem Abteil sitzt, verdichten sich solche gärenden Gedanken über das ‚Wesen des Deutschen‘ zu einem zutiefst ambivalenten Abstammungs-Geraune. Der Erzähler schwadroniert hier von einem „alten, hordenererbten Gehirn und Blut der Menschen“, das über seinen Vater auch auf ihn selbst gekommen sei, um diesen deutschen Charakter zugleich wieder schroff von sich zu weisen: „Und er hasste die große Bestie mit höllischem und mörderischem Hass, weil er sie kannte und in sich spürte und selbst die Beute seiner eigenen reißenden, unstillbaren und obszönen Lüste war.“

Für diese Hassliebe zu allem Deutschen findet man auch in Wolfes persönlichen Notizen viele Belege. Auf seinen Reisen missfallen dem Schriftsteller besonders die meist auffallend specknackigen Einheimischen. Bei der Lektüre kommt man sich vor wie in den zeitgenössischen Gemälden von Geoge Grosz oder Otto Dix – überall Fettwülste und Schmisse. Wie schon Mark Twain wundert sich auch Wolfe wieder über den großen Opern- und Musikhunger der Deutschen und beobachtet die allgegenwärtigen Narben schlagender Studenten mit Argwohn. Auch der exorbitante Fleischkonsum stößt ihn ab: „In ganz Deutschland trinkt man Bier und verzehrt Schweine- und Kalbfleisch in dicken Scheiben, die in fettigen Saucen schwimmen.“ Und doch trinkt auch Wolfe sich 1928 mit acht Maß Bier auf dem Oktoberfest in einen tiefen Rausch, um sich gegen Morgen mit einigen deutschen Gästen beinahe tot zu prügeln.

Diese tiefe Ambivalenz, die bei Wolfe bis zum Schluss mit einer suchtartigen Begeisterung für jene teutonische Dumpfheit gekoppelt bleibt, die der Autor so polemisch von sich weist, kulminiert schließlich in seiner Bekanntschaft mit der Alltagskultur des „Dritten Reichs“. Der zu diesem Zeitpunkt nach wie vor weitgehend überzeugte Deutschlandfan Wolfe wird zunächst von seinem ebenso trinkfesten Verleger Ernst Rowohlt, aber auch von der durch die Reichskulturkammer ‚gleichgeschalteten‘ Presse Mitte der 1930er Jahre und während der Olympiade 1936 in Berlin als willkommener deutschfreundlicher Weltstar hofiert. Man lotst den beglückten Autor durch eine endlose Serie feuchtfröhlicher Partys und Besäufnisse. Das Ende dieser kräftezehrenden Odyssee, in welcher Wolfe auf die US-Botschaftertochter Martha Dodd und amerikanische NS-Widerständlerin Mildred Harnack trifft, die ihm kritisch ins Gewissen zu reden beginnen, beschreibt das Herzstück dieser Edition, die literarisch ausgeformte Geschichte einer Wandlung vom Saulus zum Paulus.

In seiner autobiographischen Novelle I Have a Thing to Tell You (Nun will ich Ihnen was sagen) schildert Wolfe seine letzte Ausreise aus Nazi-Deutschland, in einem Zug von Berlin an die deutsch-belgische Grenze bei Aachen. Sein Erzähler schildert einen ihm zunächst besonders unsympathischen Passagier, um erst ganz am Ende zu begreifen, dass es sich dabei um einen jüdischen Deutschen handelt, der verzweifelt nach Paris zu fliehen versucht und an der Grenze verhaftet wird, weil er versucht, mehr Geld als erlaubt auszuführen. Der Text funktioniert wie ein Kammerspiel oder eine langsame Kamerafahrt, die dem Publikum zunächst einen implizit nahegelegten antisemitischen Blick auf den nervösen Mitreisenden offeriert, um am Ende jäh die Perspektive zu wechseln und die maliziösen Projektionen des Protagonisten schockhaft zu entlarven, die einem lähmenden Entsetzen über die Realität der NS-Judenverfolgung und der eigenen Ahnungslosigkeit und Tatenlosigkeit gegenüber dieser Wahrheit zu weichen. Allein aufgrund dieses Texts und Lubrichs Interpretation, welche die Novelle mit William Shakespeares „paradoxalem Antisemitismus“ im Kaufmann von Venedig vergleicht, um zu schlussfolgern, dass auch in Wolfes Fall gerade die judenfeindliche Figurenzeichnung des Erzählers in eine Desavouierung des Judenhasses umschlage, lohnt sich die Lektüre dieser Edition.

Kurz: Thomas Wolfes Zeitbilder von 1926 bis 1936 haben mehr mit unserer Gegenwart in den USA und in Deutschland zu tun, als manchem lieb sein wird. Gerade deshalb sollte man diesen Band nicht versäumen. Nicht nur zu Zeiten der aktuellen Corona-Krise, die das globale Reisen seit Monaten so gut wie zum Erliegen gebracht hat, sondern auch angesichts einer weltweiten wachsenden Gefährdung der Demokratie, die von vielen Bürgern in beiden Ländern als solche kaum erkannt oder sogar unterstützt wird, und nicht zuletzt aufgrund des auch in Deutschland und den USA wieder neu eskalierenden Antisemitismus ist Wolfes langer Weg zur Erkenntnis über die Realität des deutschen Grauens der 1930er Jahre eine erhellende Lektüre.

Anm. der Red.: Eine zu großen Teilen variierte Version dieses Artikels erschien bereits am 28. Juni 2020 bei ZEIT Online.  

Titelbild

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise. Literarische Zeitbilder 1926–1936 – mit 16 historischen Fotos und Illustrationen.
Hg. von Oliver Lubrich.
Aus dem Englischen übersetzt von Renate Haen, Irma Wehrli und Barbara von Treskow.
Manesse Verlag, München 2020.
416 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783717524243

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