Unwiederbringliche Verluste und Fortschrittsgebot

Der Soziologe Andreas Reckwitz versucht sich an der Quadratur des Kreises der Moderne und analysiert die aktuelle gesellschaftliche Krise auf der Basis eines soziologischen Grundproblems

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch international sehr populäre, an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Soziologe Andreas Reckwitz (seine Werke wurden in 20 Sprachen übersetzt), ist vor allem durch sein Buch Die Gesellschaft der Singularitäten bekannt geworden. Mit Verlust. Ein Grundproblem der Moderne legt er ein weiteres, umfangreiches Werk vor. Die Frage, die ihn dabei umtreibt, lautet: In welchem Verhältnis steht die westliche Moderne zu der Erfahrung von Verlusten? Verlust hat dabei immer etwas mit der Wahrnehmung eines solchen (was nicht als solcher wahrgenommen wird, ist maximal Verschwinden oder Schwund) und Emotionalisierung zu tun (es muss etwas gefühlsmäßig mit der eigenen Existenz und Identität machen). Erst wenn wir verstanden haben, auf welch besondere Weise die moderne Gesellschaft generell mit Verlusterfahrungen umgeht, so Reckwitz` These, können wir einschätzen, was sich in der spätmodernen Gegenwart ändert beziehungsweise geändert hat.

Der Soziologe macht gleich zu Beginn klar, dass er auf der einen Seite keiner haltlosen Traumatisierung Vorschub leisten möchte, zugleich aber auch keine kulturpessimistische Schrift vorlegt, bekennt sich aber in diesem Werk dazu, anders als in den vorausgehenden, eher auf der Seite der Verlierer zu stehen. Was ihm aber auffällt, ist, dass wir als moderne Menschen immer wieder von irreversiblen Verlusten sprechen, wenn wir etwa an den Klimawandel denken oder an den Verlust der Artenvielfalt, also von Dingen, Personen, Figuren, Tieren, Leben, Lebewesen, die scheinbar unmittelbar und unwiederbringlich vorbei sind.

Der Autor betritt mit diesem Begriff auf eine gewisse Weise Neuland. Er macht darauf aufmerksam, dass man in den Geschichtlichen Grundbegriffen Verlust vergeblich sucht. Wie er weiter ausführt, scheint Verlust kein etablierter Begriff innerhalb der Moderne beziehungsweise innerhalb von deren Beschreibung zu sein. Auf der anderen Seite weist er darauf hin, dass bestimmte Dinge oder Phänomene auf immer verschwinden. In diesem Zusammenhang zieht er das Beispiel des Inselstaats Tuvalu heran, der aufgrund des Klimawandels verschwinden wird.

Parallel dazu verweist er auf offizielle Statistiken, wonach im Jahr 2022 84% der Deutschen pessimistisch in die Zukunft blickten. In der modernen Welt profitieren nur einige wenige sehr Vermögende von diesen Verlusterfahrungen. Der andere, weitaus größere Teil setzt sich aus Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern zusammen. Man wundert sich dabei immer wieder, wie wenig diese Tatsachen von der Breite der westlichen Gesellschaften oder auch dem Großteil der Presselandschaft wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden will.

Diese Art von Verlust kommt in vielfältigen Facetten zum Ausdruck. Reckwitz zeigt u.a. auf, dass beispielsweise die Buchhandlungen voll mit psychologischen Ratgebern sind, die sich um das Thema Trauer und Verlust drehen. Wie er schreibt hat das Individuum in der spätmodernen Kultur offenbar eine besondere Sensibilität für negative Ereignisse in seiner Biografie entwickelt, die nach einer entsprechenden Bewältigung verlangen. Doch die Bewältigung dieser Revitalisierung von Dingen scheint immer weniger zu funktionieren.

Er bezieht auch literarische Werke mit in seine Überlegungen ein, unter anderem Judith Schalanskys Werk Verzeichnis einiger Verluste oder auch Elizabeth Bishops bekanntes Gedicht One Art, worin es unter anderem heißt: The art of losing isn’t hard to master; so many things seem filled with the intent to be lost that their loss is no disaster.”

Es scheint, dass in diesem Jahrhundert vor allen Dingen von Verlusten die Rede ist, und es immer schwerer fällt, von dialektischem Denken zu reden. So bleibt Frage virulent, ob das Rettende wirklich noch da wächst, wo die Gefahr ist. Denn dieses Rettende ist kaum noch feststellbar oder immer weniger Menschen gehen davon aus, dass überhaupt noch etwas zu retten sein wird, wenn die Entwicklung so weitergeht, wie sie sich seit langem in Form der „Zukunft als Katastrophe” im Sinne Eva Horns andeutet. Dieses nicht mehr Zurückkommene gilt es nun aber nach Reckwitz sich genauer anzusehen.

Wo liegen nun diese Verluste? Und was ist da eigentlich verlustig gegangen, seit die Welt, so Max Weber, entzaubert worden ist? Und was wird überhaupt als ein solcher Verlust wahrgenommen? In jener Moderne, die die ganze Zeit in ihrer Fortschrittsgläubigkeit, nein in ihrem Fortschrittsgebot, nach vorne gerichtet war, und wo Verlusterfahrung kaum Raum hatten? Insofern ist es interessant, dass jetzt immer mehr solche Tendenzen der Verlustinventur auftauchen. Wie etwa auch, dass politisch rechte Parteien wie die AFD, bestimmte Verluste für ihre Zwecke zu nutzen, durch eine verzweifelte Überkompensierung des Vergangenen zu ersetzen versuchen.

Es handelt sich hier also um sehr unterschiedliche Formen der Verlusterfahrung, die immer mehr in das Zentrum der Gesellschaft rücken. Dabei definiert Reckwitz Verlust allgemeinverständlich wie folgt:

Ein Verlust ist ein Verschwinden, das negativ interpretiert und negativ erlebt wird. Ihm kommen die Merkmale der Irreversibilität und Unverfügbarkeit zu: Es läßt sich nicht rückgängig machen, und man ist ihm ausgesetzt. Im Kern stellen sich Verluste als Selbst- und Weltverlust heraus, in denen Subjekte und Gruppen etwas verlieren, an das sie in ihrer Identität emotional positiv gebunden sind. Im Verlust spricht im Extrem eine ganze Welt zusammen - und mit ihr das Selbst.

Bei Reckwitz spielen Verluste als soziale Phänome eine Rolle, die sich in kulturellen Praktiken und Techniken ausdrücken, die wiederum durch Zeitlichkeit, Narrativität und Affektivität bzw. Emotionalität gekennzeichnet sind. Verlusterfahrungen bilden sich neben den Praktiken auch in Diskursen und Arenen ab. Das Werk ist sehr übersichtlich in drei Teile gegliedert: 1. Teil: Was sind und wie wirken Verluste (mit den Untertiteln Verlust als soziales Phänomen, Zeitstruktruren, Emotionen, Arenen), den 2. Teil unter dem Titel Die Verlustparadoxien der Moderne (mit den Untertiteln Der Fortschrittsimperativ und seine Folgen, Zwischen Verlustreduktion und Verlustpotenzierung, Wie die Moderne die Verluste unsichtbar macht und Wie die Moderne die Verluste bearbeitet), und den 3. Teil Verlusteskalation in der Spätmoderne mit den Untertitel Fortschrittsverlust, Verlustschübe und Doing loss. Abschließend schließt sich ein Ausblick unter dem Titel Die Moderne reparieren an.

Reckwitz hat, wie das bei ihm immer der Fall ist, ein sehr übersichtliches und für die Leser*innen sehr gut nachvollziehbares Buch geschrieben, das durch seine präzise und prägnante Sprache besticht. Es ist durchaus auch für einen Leserkreis geeignet, der sich in der Soziologie nicht so auskennt. Wie in seinen vorherigen Büchern, wo er die Begriffe der Praxistheorie beziehungsweise Grundelemente sozialer Praktiken und der Singularität neu in den gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs einführt und diskutiert, hat er hier mit dem Verlust wieder ein Problem aufgegriffen, das so noch nicht in seiner ganzen Virulenz begriffen worden ist. Auf diese Weise werden der Leserschaft neue interessante Gedankenanregungen präsentiert. Denn das ist eines der Hauptaspekte und Besonderheiten von Reckwitzʼ Werk, dass er Leser*innen an seinem Denken teilhaben lässt, also genau das verfolgt, was er für die Praxistheorie in dem to do practice“ gefordert hat; hier ließe sich von einem to do loss sprechen. Zum Abschuss doch noch ein bisschen Wasser in den Wein: Was man sich als Leser*in vielleicht noch gewünscht hätte, wäre, dass die zum Teil zwar gut verständlichen, aber doch langen theoretischen Passagen noch stärker mit konkreten Beispielen unterlegt worden wären, was allerdings den Umfang des Werkes, der ja jetzt schon bei 424 Seiten (ohne Bibliographie und Anhang, Dank et cetera) liegt, noch einmal vergrößert hätte. Vielleicht hätte inhaltlich noch der Aspekt nur vermeintlicher Verluste, weil Reckwitz ja den Punkt des subjektiven Empfindens beziehungsweise der Wahrnehmung stark macht, noch etwas weiter ausgebreitet werden können oder überhaupt größere Berücksichtigung finden können. Dennoch oder auch deshalb hat Reckwitz insgesamt ein wichtiges Werk geschrieben, dem man eine große Leserschaft wünschen möchte, wovon aber insgesamt sicherlich, schon aufgrund des Bekanntheitsgrads des Autors, auszugehen ist.

Abschließend kommt Reckwitz auf die eigentliche Spannung zu sprechen, von der schon im ganzen Buch die Rede ist, die aber dann zum Schluss als Konklusion ausgebreitet wird, und worin der Rezensent ihm sehr gut folgen kann: Es ist nicht der Verlust oder die Verlusterfahrung an sich, sondern es ist die Spannung zwischen dem Fortschrittsgebot der Moderne und der Verlusterfahrung, die es im Sinne einer Progression eigentlich gar nicht geben dürfte und die entweder unsichtbar gemacht, verschwiegen oder verarbeitet wird. Außerdem muss man eine emotionale Bindung an das haben, was verschwindet. Sonst bleibt es bei einem objektivierbaren Verlust.

Das Ungleichgewicht des modernen und nachmodernen Menschen besteht genau darin, dass diese Spannung beispielsweise in Hinblick auf Todesverarbeitung, aber auch auf irreversible Prozesse insgesamt, nicht wahrgenommen werden kann und soll. Es gibt seiner Meinung nach drei zu beobachtbare Haltungen weltweit, die versuchen auf diese unlösbare Spannung einzugehen: Die erste ist das Weiter-so, diese Spannung nicht wahrhaben zu wollen, und weitermachen wie zuvor, die zweite eine Form des Katastrophisierens, wonach spätestens morgen die Welt untergeht, und die dritte besteht in einer vorsichtigen Reparatur der Moderne, zu der Reckwitz tendiert, wozu aber zunächst diese Spannung überhaupt erst einmal wahrgenommen werden muss. Und dann ließe sich den vier Kantʼschen Fragen der Philosophie für die Zukunft noch eine hinzuzufügen, nämlich, was müssen wir für die Zukunft befürchten.

Allein schon wegen dieses besonderen Turns zum Schluss, dieser „Pointe“, hat Reckwitz ein ungemein wichtiges Buch geschrieben, das in der Tat als Augenöffner dienen kann, und dem man schon aus eigenen Überlebens- und Überlegungsgründen und des Verdeutlichens von Lebensbewältigungsstrategien viele Leser wünschen möchte, so viele wie irgendwie möglich, weil es einen wichtigen Impuls zum Umgang mit der Zukunft bieten kann.

Titelbild

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
463 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518588222

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