Zeiten enden
Harald Welzers Antwort auf den Begriff der Zeitenwende in seinem Buch „Zeiten Ende“
Von Stephan Wolting
Harald Welzer gilt neben Richard David Precht als der Medienintellektuelle in Deutschland. Explizit vorstellen muss man ihn nicht, zumal er fast jedes Jahr ein neues Buch vorlegt. So hat er etwa im letzten Jahr zusammen mit Precht das vieldiskutierte und bestens verkaufte Werk über die Medien Die vierte Gewalt veröffentlicht. Sein neues Buch trägt den Titel Zeitenende. Er benutzt den Begriff im Sinne eines symbolischen Wortspiels in Anlehnung an den von Olaf Scholz in die Diskussion gebrachten Begriff der „Zeitenwende“ und spielt darauf an, dass Zeiten sich nicht nur wenden, sondern auch enden.
Kurioser- wie bezeichnenderweise setzt Welzer an den Beginn seines Werks einen Hinweis auf den in Deutschland bekannten, 2022 verstorbenen Fußballspieler Uwe Seeler. Eins der Markenzeichen von „uns Uwe” war es, dass er immer nur in der zweiten Person Plural sprach, nie von „ich“, nie von sich selbst. Zum anderen hat Seeler nicht aufgehört, darauf hinzuweisen, dass es das Schönste sei, „normal zu sein“. Uwe Seeler war nach Harald Welzer einer der letzten gesellschaftlichen Akteure, die in der Welt nicht das Individuum in den Vordergrund stellten. Er wurde so zu einer gesellschaftlichen Ikone, einem der letzten Helden in einem Nachkriegsdeutschland, das vor allen Dingen um Wiederherstellung von Normalität und Zusammenhalt bemüht war.
Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, dass sich Welzer auf die Normalitätserwartung eines Uwe Seelers bezieht, gilt er doch sonst weder als ein Verfechter von Normalität noch eines wie auch immer gelagerten Mainstreams; auf den zweiten Blick wird es jedoch verständlich: Nach Welzers Gesellschaftsanalyse leben die Bürger in der heutigen Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in einer Welt des Wirs mit einem Gemeinsamkeitsempfinden. Welzer fragt sich in seinem Buch, wie es dazu kommen konnte. Daran schließt sich für ihn die Frage an, wie sich im Sinne einer gesellschaftlichen Transformation oder einer Art Zukunftsforschung (ein Begriff, den Welzer ablehnt) etwas an dieser Situation verändern lässt.
Die Gesellschaftskrise analysiert Welzer mit dem Begriff der Zeitenwende. (2021 gab er mit dem Journalisten Michel Friedmann ein Buch mit diesem Titel heraus, allerdings in kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff. Nun spricht Welzer davon, dass Zeiten enden, und dekliniert diese These in den Kapiteln des Buches durch, die solch prägnante Titel haben wie: „Politik ohne Leitbild“, „Gesellschaft in Gefahr“, „Kein Rückzug, nirgends“ oder „The Rest of the West“. Die Überschriften bilden einfache Begriffen, die er in Anführungszeichen setzt, wie „Die Wirtschaft“, „Die Medien“, „Die Politik”, „Die Leute“.
Welzer geht der Frage nach, welches Land „wir“ sein wollen. Dabei stehen „wir“ als Zeitgenossen, in Anbetracht von Klimakatastrophen wie der Endlichkeit von Energien und der nach wie vor zu beobachtenden grenzenlosen Ausbeutung von Resourcen, seiner Ansicht nach vor der entscheidenden Aufgabe der wirklichen Anerkennung jener „Grenzen des Wachstums”, wovon im Bericht des Club of Rome bereits 1972 die Rede war.
Innerhalb dieser Diskurslinie entwickelt der Sozialpsychologe Überlegungen zu einer Konzeption des Einhaltens, des Rückzugs, des „Ver-Siegen-Lernens”. Er ruft dabei Enzensberger und dessen vor 34 Jahren verfassten Essay Helden des Rückzugs auf, der sich nach wie vor durch unglaubliche Aktualität auszeichnet:
So kann eine Energie und Verkehrspolitik, die diesen Namen verdient, nur mit einem strategischen Rückzug eingeleitet werden. Sie erfordert die Zerlegung von Schlüsselindustrien, die auf lange Sicht nicht weniger bedrohlich sind als eine Einheitspartei. Die Zivilcourage, die dazu nötig wäre, steht der kaum nach, die ein kommunistischer Funktionär aufzubringen hat. Wenn es darum geht, das Monopol seiner Partei abzuschaffen. Stattdessen übt sich unsere politische Klasse in albernen Siegerposen und selbstzufriedenen Lügen. Sie triumphiert, indem sie mauert und glaubt, der Zukunft durch Aussitzen Herr zu werden, vom moralischen Imperativ des Verzichts ahnt sie nichts, die Kunst des Rückzugs ist ihr fremd.
Was die Kapitel darüber hinaus miteinander verbindet, ist ein Vorwurf an verschiedene Institutionen, dass sich die Repräsentat*innen der „Systeme” vor allem mit sich selbst beschäftigen würden, zudem durch alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Schichten hindurch weder eine Idee noch eine Utopie oder Vision für das 21. Jahrhundert hätten, und zugleich an einer schier unglaublichen Form der Selbstüberschätzung litten. So schreibt Welzer etwa im Kapitel zur Außenpolitik über die Rolle des Westens:
Die nächste Bredouille, in die sich der Westen selbst hineinmanövriert hat, wird mit seinem Alter, seinen militärischen Niederlagen und Demütigungen aus dem vergangenen halben Jahrhundert in der vorherrschenden politischen und medialen Optik ausgeblendet. Das wiederum kann man als Fortwirken eines Selbstbildes betrachten, das schon länger der historischen Situation nicht mehr angemessen ist.
Zudem verbindet die Vertreter*innen der unterschiedlichen Bereiche von Politik, Bildung, Journalismus, Wirtschaft etc., dass sie umso stärker an althergebrachten Vorstellungen und Konzepten festhalten, je länger und deutlicher diese sich überlebt hätten. So heißt es zu den meisten Vertreter*innen gegenwärtiger Politik und deren grassierender Hilflosigkeit, dass sie kein Leitbild für das 21. Jahrhundert hätten, was gerade in Krisenzeiten besonders virulent wird:
Und in aller Dialektik ist dies zu beobachten, wie die Fortschrittsansprüche von den Taten in die Worte wandern. Eindrucksvoll zu sehen an den Gas-Shoppingtouren von Kanzler und Vizekanzler zu den antidemokratischen Potentaten der Welt bei gleichzeitiger verbaler Hochrüstung in Sachen Wertebasierte, Regelbasierte, gar feministische Außenpolitik. Je weniger etwas Wünschenswertes in der Wirklichkeit realisiert ist, desto größer wird der verbale Aufwand. Deshalb ist zu viel von Innovation und Transformation, von europäischen Werten, von Wertegemeinschaft, Verantwortung und Nachhaltigkeit die Rede.
Sich von jeglicher Art von Verschwörungstheorien oder Lügen-Presse-Positionen abgrenzend scheint es sich nach Welzer darüber hinaus so zu verhalten, dass Meinungen etwa zu Waffen- und Panzerlieferungen an die Ukraine, die innerhalb der Bevölkerung zumindest kontrovers diskutiert werden, sich in den Positionen der demokratischen Parteien kaum oder gar nicht abbilden, weshalb diese am Volk vorbei regierten, wie beispielweise bei der Diskussion um die Wärmepumpe bzw. das Energieeffizienzgesetz deutlich wurde.
Noch schlechter sieht es wohl innerhalb des Systems der Medien aus, inzwischen hinsichtlich der Meinungshoheit die eigentlichen Herrscher des Landes – an manchen Stellen wird bereits von der Moderatorengesellschaft gesprochen –, die, statt ihrer differenzierten Berichterstattungspflicht nachzukommen, „knallharte Positionspolitik” betreiben würden. Zudem lässt sich bei immer stärker sinkenden Auflagezahlen der Printmedien von einer RTLisierung einstmals wichtiger und traditionsreicher Medienhäuser wie Gruner und Jahr bei gleichzeitigem Aufstieg anderer medialer Formate wie Podcasts, Youtube Videos etc. sprechen, weshalb Welzer zu dem Schluss kommt:
[…] und vieles andere mehr deuten an, dass die Bedeutung der Leitmedien für die politische Meinungsbildung stark im Sinkflug begriffen ist. Sie sind allem Anschein nach nicht mehr so wichtig, wie sie sich selbst nehmen. Gleichwohl würde ich es für einen Fehler halten, auf die Funktion einer ausdifferenzierten Medienlandschaft sowohl privat als auch öffentlich rechtlich für eine vitale Demokratie verzichten zu wollen.
Am Schluss schlägt Welzer durchaus überlegenswert fünf „Orte der Verbesserung” vor: eine Schule des Zusammenhalts, weil die Schule heutzutage nach dem Versagen der Kirchen u. a. als einzige Institution verblieben ist, die theoretisch eine Vergemeinschaftung herstellen könnte, das 80/20-Prinzip – 80 % Lohn für berufliche und 20 % für soziale Tätigkeiten oder Ehrenämter, eine anlasslose Vergemeinschaftung jenseits von Kommerz oder gute Orte im architektonischen Sinne, „wo man sich wohl fühlt”, und ein Leitbild, wo es in der Zukunft überhaupt hingehen soll.
Insgesamt handelt es sich um ein weiteres wichtiges Buch Welzers, dem man viele Leser*innen wünschen möchte. Der Einwand mancher Kritiker, etwa Jan Heidtmann in der SZ oder Arno Orzessek im Deutschlandradio Kultur, dass Welzer Bereiche wie Ukraine-Krieg und Klimakrise miteinander in Verbindung bringt, die nichts miteinander zu tun haben, verfängt nicht wirklich. Kritikwürdiger erscheint vielmehr, dass wichtige andere Alternativen wie die Postwachstumsökonomie oder Degrowthwachstum einfach mit einem Satz oder noch besser mit zwei Begriffen abgetan werden. Da hätte man sich dann doch gewünscht, dass auf mögliche andere ernstzunehmende Transformationsansätze näher und expliziter eingegangen worden wäre.
Aber letztendlich liegt der Verdienst des Autors darin, auf mögliche Lösungsansätze hingewiesen zu haben an der Stelle, wo „Zeiten enden”. Er schränkt im Epilog selbst ein, dass es heute fast unmöglich ist, ein zeitdiagnostisches Buch zu schreiben, weil sich die Welt im Minutentakt ändert. Seit Erscheinen des Buchs und dieser Besprechung hat es den Angriff der Hamas auf Israel, den Eröffnungsvortrag der Frankfurter Buchmesse von Slavoj Zizek, die antisemitischen Bemerkungen und den Rückzug von Richard David Precht als Honoraprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg, die „historische Rede” Robert Habecks usw. gegeben. Gerade jetzt ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, nicht nur auf die Katastrophen der Welt hinzuweisen, sondern konkrete Lösungsschritte zu einer Welt der Hoffnung aufzuzeigen.
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