Pathologisierung des Widerstands

Ein postapokalyptischer Befund aus Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dystopische Erzählungen haben momentan wohl aus gutem Grund Konjunktur. Bei einer Relektüre des 1985 erschienenen Texts The Handmaidʼs Tale von Margaret Atwood, von Aldous Huxleys Brave New World (1932) oder von Ray Bradburys 1953 als Roman publiziertem Fahrenheit 451 drängen sich in puncto bürokratisierter Kontrollgesellschaft, kollektiver Moralisierung und medientechnischer Manipulation Parallelen zur Jetztzeit auf – etwa wenn Bradbury vom pensionierten Professor Faber berichtet, der dem Protagonisten Montag erklärt, wie an den Universitäten die Geisteswissenschaften geschlossen wurden und es zum Zwecke der intellektuellen Nivellierung zum Bücherverbot kam.

Ein bemerkenswerter Beitrag zur literarischen Repräsentation totalitärer Zukunftsgesellschaften entstand drei Jahre nach „Fukushima“ in Japan: Boradobyô, das „Pollersyndrom“ (2014). Nicht lange hat es erfreulicherweise gedauert, bis Yoshimura Manichis Werk unter dem Titel Kein schönerer Ort auf Deutsch vorlag. Mit der Umwandlung des Titels möchte der renommierte Übersetzer Jürgen Stalph auf die Allgemeingültigkeit der Situation hinweisen, die Yoshimura in der Tat äußerst kunstvoll, präzise und in perfider Konsequenz entwirft.

Alles so schön hier

Wir befinden uns in der küstennahen kleinen Stadt Umizuka, in der allem Anschein nach eine glückliche Gemeinschaft lebt. Was man hier auf den Feldern anbaut und im Meer fängt, gilt als schmackhaft und gesund. Das Leben des Kollektivs verläuft in geregelten Bahnen. Stets ist man um Harmonie bemüht, vollführt in der Gruppe Aktivitäten zur Reinhaltung der Umgebung und singt bei jeder Gelegenheit die Hymne des Orts ab: „Umizuka, Umizuka, Our Hyperparadise!“ Wenn Säuberungsaktionen erfolgreich abgeschlossen wurden, wird verkündet: „Block C des Bezirks Kamicho hat den Clean-Index 100 erreicht!“

Im Mittelpunkt der Schilderungen stehen die Schülerin Kyoko Oguri und ihre Mutter, wobei die Geschehnisse in der Schulklasse sowie der schwierige Mutter-Tochter-Alltag aus der Ich-Perspektive Kyokos erzählt werden. Spätestens wenn das Mädchen wieder den Unwillen der Mutter erregt und diese Kyoko mahnt, unbedingt vorsichtiger im Umgang mit den Mitmenschen zu sein, ahnt man, dass hinter der schönen Fassade der nach außen so wohlgeordneten Ansiedlung latente Bedrohungen lauern.

„Kondo war schon tot“

Beunruhigend ist zunächst die Sterberate der Kinder. Schulklassen und Eltern finden sich ein ums andere Mal in der „Umizuka Memorial Hall“ ein, um verstorbener Kinder zu gedenken. Bei der Gedenkfeier für Akemi, einer Klassenkameradin von Kyoko, verlautbart ihr Vater: „Akemi ist nur elf Jahre alt geworden, aber dass sie acht davon während des Wiederaufbaus in dieser Stadt, die sie so liebte, verbringen konnte, hat sie, glaube ich, glücklich gemacht“. Formelhaft bittet er darum, Akemi „als einen Teil von Umizuka auf ewig in diese Stadt einschreiben lassen zu dürfen“. Die Protagonistin merkt kritisch an: „Das war bei Totenwachen und Trauerfeiern das übliche Muster“. Als die Wochen und Monate vergehen, wird Kyoko immer wieder mit schlechten Nachrichten konfrontiert: „In dieser Zeit kamen Kondo-kun und Ai-chan ins Krankenhaus“. In der Schule wird indes neben dem allgegenwärtigen Moralunterricht und der Heimatkunde eine wohlfeile Weltanschauung vom Werden und Vergehen des Lebens gepredigt. Über die Gründe für das frühe Sterben der Kinder spricht man nicht. Als Randbemerkung hält die junge Protagonistin später nur fest, dass der Klassenkamerad Kondo-kun nun schon tot war und schließlich auch das Mädchen Ai-chan verstorben ist.

Aus einigen Rückblenden und verschiedenen Anmerkungen kann man rekonstruieren, dass Umizuka vor etwa acht Jahren von einem katastrophalen Geschehen heimgesucht wurde – die „Heimat“ war danach „völlig verändert“ und galt als „verloren“. Man kann vermuten, dass es sich bei dem Unglücksfall um eine atomare Havarie handelte, verursacht möglicherweise vom Industriebetreiber „Mitsuba“. Eventuell betrifft diese nicht nur die Küstenstadt, sondern das ganze Land. Nach einer längeren Evakuierung gelang ein Wiederaufbau, die ehemaligen Bewohner kehrten zurück. Offenbar kam ungeachtet aller gesundheitlichen Gefahren der Rücksiedlung von staatlicher Seite aus große Priorität zu. Strenge Regeln untersagen es den Menschen, ihre Situation zu hinterfragen. Auch die „Zehn Regeln der Klasse“ verlangen, „nie jammern“ zu dürfen und beim Schulessen nichts zurückgehen zu lassen. Das Gebot, die belasteten Lebensmittel, die zwar „Unbedenklichkeitssiegel“ tragen, in gemeinschaftlicher Anstrengung bis hin zum Selbstopfer verspeisen zu müssen, kommt einer toxischen Eucharistie gleich: das grausame Ritual eines semi-religiösen Glaubens an Umizuka, der seinerseits nicht nur mit Sprechverboten und dem subtilen Zwang zum Kollektiv, sondern mittels einer geheimen Gesinnungspolizei durchgesetzt wird.

Die Anzugmänner kommen

Wer nicht im Sinn der Heimatideologie funktioniert, gerät ins Blickfeld von Spitzeln. Dann kommen die „Anzugmänner“ und verschleppen die denunzierte Person. Vermutlich existieren Gefängnisinseln, auf denen man unliebsame Elemente inhaftiert und damit ausschaltet. Kyokos Mutter lehnt die Umerziehung und die erzwungenen Lebensbedingungen ab, wobei sie – um die Tochter zu schützen – versucht, keinerlei Verdacht hinsichtlich ihrer Einstellung aufkommen zu lassen. Ihr Ehemann, der Vater Kyokos, hatte offenen Widerstand geleistet und wurde deshalb entfernt. Kyoko übernimmt die Haltung der Mutter, sperrt sich aber auch instinktiv gegen die Zumutungen des Regimes. Sie gilt in ihrer Klasse als dummes Kind. Ihr mangelndes Verstehen stellt eventuell mehr eine Verweigerung dar, als dass es auf Minderbegabung schließen lässt. Kyoko besitzt eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Ihr Drang, die Gesetzmäßigkeiten der sie umgebenden rätselhaften, bedrohlichen Welt zu erkennen, veranlasst sie, neben dem schulischen „Selbstlernheft“ ein eigenes, geheimes Heft anzulegen. Der engagierte Lehrer Fujimura, der die Kinder zu Selbständigkeit und Kreativität anregen will, wird im Laufe der Geschichte ebenfalls an einen unbekannten Ort gebracht.

Kyokos Krankheit

Als man die Mutter aufgrund ihres sich verschlechternden Gesundheitszustands ins Hospital einliefert, muss sich gerade ein Aufstand ereignet haben. Das Mädchen bemerkt, wie bedrückend die Atmosphäre ist und dass sich „ein paar Polizisten und Anzugmänner“ mit „feindlichen Blicken“ umsehen, später die Leute im Gang ausfragen. Ein junger Mann vergeht sich gegen das System, indem er „Das ist doch nicht wahr!“ ruft. Sofort knüppeln ihn die Polizisten brutal nieder, und er wird fortgeschleppt. Auch andere begehren mit den Worten „Alles erstunken und erlogen!“ auf, was ihnen die Beschimpfung „kranke Arschlöcher“ einträgt und weitere Prügel der Ordnungsmacht. Kyoko wird plötzlich klar, dass sie im Grunde an der gleichen „Krankheit“ leidet, die wohl die Einlieferung der verhörten „Verbrecher“ bedingt hat: Es ist das Syndrom der Standhaftigkeit, der widerständigen Unbeeinflussbarkeit durch die Manipulationen des Systems, das auf Gruppenpsychologie und Gewalt abhebt. Insofern hatte sich dem Mädchen auch das Wort eines alten Mannes am Hafen eingeprägt, der von den „Pollern“ gesprochen hat, die ungeachtet aller Widrigkeiten die Stellung hielten.

Die Mutter spürt jedoch, dass die pubertierende Kyoko gefährdet ist, gleichgeschaltet zu werden. Und so nehmen die Dinge ihren unheilvollen Lauf, bis Kyoko – viele Jahre später an einem Gesinnungsbericht schreibend – erkennt, dass sie wohl niemals mehr in jener „wunderbaren Welt“ Aufnahme finden wird.

Titelbild

Manichi Yoshimura: Kein schönerer Ort.
Übersetzt aus dem Japanischen von Jürgen Stalph.
Cass Verlag, Löhne 2018.
158 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783944751191

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