Gedicht und Essay: Ein Meister beider Gattungen

Die posthumen Essays von Adam Zagajewski erscheinen in deutscher Übersetzung

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

[…]

Du solltest die verstümmelte Welt besingen. 
Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart 
in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte. 
Erinnere dich an das Konzert, als die Musik 
explodierte. Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park 
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde. Besinge die verstümmelte Welt 
und die graue Feder, die die Drossel verlor, 
und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet und wiederkehrt.

„Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ – so hat Karl Dedecius dieses Gedicht Adam Zagajewskis mit dem Titel „Spróbuj opiewać okaleczony świat“ aus dem Polnischen übersetzt, das im renommierten New Yorker nach den Anschlägen vom 11. September 2001 abgedruckt worden ist und wodurch der polnische Schriftsteller eine weltweite Bekanntheit erlangt hat. Gedicht und Essay waren in der polnischen Literatur schon seit jeher diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprachen und den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts einen universellen Ausdruck gaben. Ein Meister beider Gattungen war Adam Zagajewski. Nun ist Zagajewski, der von vielen zu den verdienten Anwärtern auf den Literaturnobelpreis zählte, am 17. März 2021 völlig unerwartet verstorben.

So wie in den letzten Zeilen des eingangs zitierten Gedichts mischte Zagajewski in seiner reimlosen Lyrik Augenblickseindrücke mit Erinnerungen aus seiner Kindheit in den ehemaligen Ostgebieten Polens, aus denen er mit seiner Familie einst vertrieben worden ist. 1963 studierte er in Krakau und schloss sich dort der Dissidentenbewegung an. Nach dem Verbot seiner Bücher in Polen emigrierte er über Berlin und Paris in die USA. Seit 1984 erschienen erste Gedichte von ihm auch in Deutschland in der Übersetzung von Karl Dedecius, und seit 1989 wurde sein Werk von Renate Schmidgall für den Münchener Carl Hanser Verlag übersetzt und auch dort publiziert, so die Erinnerungsbilder Ich schwebe über Krakau, der Gedichtband Unsichtbare Hand in der Edition Lyrik Kabinett und das „Tagebuch ohne Datum“ Die kleine Ewigkeit der Kunst.

Auch in der letzten, nun posthum vorgelegten Gedichtsammlung Asymmetrie – die Originalausgabe erschien bereits 2014 in Polen – versammelte Zagajewski Erinnerungen an seine Kindheit, die von seinen Jahren im Exil überlagert wurden, z.B. im Eingangsgedicht „Nirgendwo“:

Es war ein Tag nirgendwo nach der Rückkehr von Vaters Begräbnis, 
ein Tag zwischen den Kontinenten; verloren ging ich durch die 
Straßen 
von Hyde Park und erhaschte Fetzen amerikanischer Stimmen, 
ich gehörte nirgendwohin, ich war frei, […]

Zagajewskis Gedichte resümieren seine Generationenerfahrung, gestalten psychologisch eindrucksvoll die Verquickung Lebens- und Zeitgeschichte und reflektieren die Rolle der Dichter in der Gesellschaft:

Dichter sind Vorsokratiker. Sie verstehen nichts. 
Aufmerksam lauschen sie, was die breiten Flüsse der Ebenen flüstern. 
Sie bewundern den Flug der Vögel, die Ruhe der Vorstadtgärten 
und die Schnellzüge, die atemlos dahinjagen.
(aus dem Gedicht „Dichter sind Vorsokratiker)

Die neuen Gedichte scheinen geprägt von einer tiefen Melancholie, wie im Text „Die Koffer“:

Ich bin nur ein Tourist in der sichtbaren Welt, 
einer von tausend Schatten, die durch 
die großen Hallen der Flughäfen ziehen – 
und hinter mir fährt wie ein treuer Hund auf kleinen Rädern 
mein grüner Koffer.
Ich bin nur ein unachtsamer Tourist, 
doch ich liebe das Licht.

Zagajewski glaubte an die Kraft der Sprache und der Poesie, wie in den Anfangszeilen des Gedichts „Erblühendes Poem“:

Jedes Gedicht, selbst das kürzeste, 
kann sich in ein erblühendes Poem verwandeln, 
wahrscheinlich könnte es sogar explodieren, 
denn überall verbergen sich unermessliche 
Vorräte an Herrlichkeit und Grausamkeit und warten 
geduldig auf unseren Blick, der sie befreien kann 
und entfalten, wie sich die Schleife der Straße im Sommer entfaltet –

Zusammen mit Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert und Czesław Miłosz gehört Zagajewski unstrittig zu den bedeutendsten polnischen Dichtern des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und wie letztere beide vor ihm hat sich auch Zagajewski nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen für das Exil entschieden, aus dem er nach Aufenthalten in Frankreich und den USA erst 2002 zurückkehrte. Zagajewski zählte zu den Vertretern einer liberalen Studentenkultur in Krakau, und wie viele seiner Freunde war er zu einem Regimekritiker geworden. Das geistige und literarische Leben in Krakau ist indes stets der Fluchtpunkt seiner dichterischen Welt geblieben, auch und gerade für den überzeugten Europäer und Kosmopoliten. Auch in seinen neuen, nun posthum veröffentlichten Essays Poesie für Anfänger werden die Stationen seines unruhigen Lebenswegs sichtbar und zeigen einen Autor, der zugleich stets auf der Suche nach seinen literarischen Vorbildern war – vor allen anderen Rainer Maria Rilke (dem er sich in zwei langen Essays zuwendet), aber auch Guillaume Apollinaire, Robert Musil, Heinrich und Thomas Mann und Gottfried Benn. Besonders sein Rilke-Porträt im einleitenden und längsten literarischen Essay des Bandes dürfte mit zum Besten zählen, was außerhalb der einschlägigen Forschung über diesen Dichter der Moderne geschrieben worden ist.

Im Essay Fragte mich jemand positioniert sich Zagajewski als moderner Intellektueller und reiht sich ein in die „Geistesarbeiter“, einer Mischung – oder wie es bei ihm heißt „Transgression“ – aus Dichterpersönlichkeit und Wissenschaftler im weitesten Sinne. Für Zagajewski wurde dies am reinsten verkörpert durch Czeslaw Milosz, den Dichter und Verfasser des Werks Verführtes Denken; der jüngere Zbigniew Herbert war, „mit dem Talent des poetischen Wortes und einem außergewöhnlichen Beobachtungssinn begabt“. Ein ebenfalls längerer Essay über die Brüder Mann rundet diesen ersten Abschnitt des Bandes ab.

Deutlich wird auch Zagajewskis Verehrung für den schon früh nach London emigrierten Schriftsteller Aleksander Wat, dessen Erinnerungsbuch Jenseits von Wahrheit und Lüge Zagajewski schon 2014 in der Übersetzung von Bernhard Hartmann in der Zeitschrift Sinn und Form gewürdigt hatte. Der Text wurde nun mit dem neuen Titel Mein Jahrhundert, nach Jahren gelesen (Aleksander Wat) erneut in die Essaysammlung aufgenommen, die anderen Texte erschienen 2017 erstmals als polnische Originalausgabe in Warschau. Darunter viele kürzere Porträts international bekannt gewordener Lyriker wie C. K. Williams, Tomas Tranströmer oder seines ehemaligen Verlegers Michael Krüger. In einem thematischen Essay definiert Zagajewski in der ihm eigenen Sprache das Feld der Poesie:

Inspiration und Hindernis – hier steckt der Anfang der Poesie, im Zusammenstoß und im Kampf zwischen der seltsamen, von innen kommenden Kraft, über die wir keine Kontrolle haben, und unseren Lebensumständen, die wir nicht einfach wegschieben und denen wir uns nicht widersetzen können – wir können nur auf sie reagieren; wir können nur versuchen, die stummen, beharrlichen Ereignisse mit unserer eigenen Musik zu sättigen.

Die Quellen der Poesie liegen für Zagajewski in der Kontemplation, und die Rolle der Dichtung sieht er als Stimme „in einem universellen, unaufhörlichen Gespräch der Menschheit“, deren Früchte man in Gedichten erkennen könne, wie auf einer „grundierten Leinwand, auf der einmal konkretere Formen erscheinen werden – vielleicht.“ Hier beruft er sich auf das Vorbild Apollinaires, dessen „inspirierte Verwirrung“ im Zusammenhang mit dem Zögern des Dichters stehe:

Das Zögern unterscheidet sich grundlegend vom Skeptizismus: Zögern bedeutet, zwei Möglichkeiten in Besitz zu nehmen, die sich im Prinzip gegenseitig ausschließen sollten; es ist ein belebtes, glückliches Oxymoron, ein Oxymoron in den Flitterwochen. Um T. S. Eliot zu paraphrasieren: Zweitrangige Dichter sprechen sich für eine der beiden Seiten aus; große Dichter zögern. (Übrigens ist das Zögern auch eine gegen die Ideologie gerichtete Geste.)

In einem Nachwort liefert Zagajewski dann noch einmal ein großes Plädoyer für den Essay als Ausdrucksform auch der Dichter und Schriftsteller, als Versuch und als ein „ewiges Irren“ gleichermaßen:

„Irren“ bedeutet sowohl im Polnischen als auch im Lateinischen und in anderen Sprachen nicht nur „sich täuschen“, sondern auch in Bewegung sein, wandern, umhergehen, ohne zu wissen, wohin man gelangt. Jedoch irren in der Hoffnung, dass man am Ende der Reise der Wahrheit etwas näher gekommen sein wird als man es im Augenblick des Aufbruchs war.

Zagajewskis Stimme wird uns in Zukunft fehlen.

Titelbild

Adam Zagajewski: Asymmetrie. Gedichte.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
80 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256569

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Adam Zagajewski: Poesie für Anfänger. Essays.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
280 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267671

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