Chilenische Dichter

Auch der neueste, bisher umfangreichste Roman des Chilenen Alejandro Zambra, „Fast ein Vater“, ist, kaum überraschend, ein Meisterwerk

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt eine lange Szene in Alejandro Zambras neuem Roman Fast ein Vater, in der die aufgrund mehrerer misslicher Umstände in Chile gestrandete Amerikanerin Pru Dutzende mehrere (selbsternannte) chilenische Lyriker interviewt. Sie möchte anhand der Gespräche Material für eine geplante Reportage in einem New Yorker Magazin sammeln und gerät dabei an eine ganze Reihe skurriler Gestalten. Einer dieser Dichter erzählt ihr schließlich, die Sache sei ganz einfach: Das Kompositum ‚Chilenischer Dichter‘ sei in etwa das Gleiche wie ‚Brasilianischer Fussballer‘ oder ‚Venezolanisches Model‘. Es sei einfach Teil der chilenischen Identität, denn jeder Chilene – und ein beträchtlicher Teil der Chileninnen – sei nun mal dem Verfassen von Lyrik zugeneigt. Dies weiß auch der europäische Leser spätestens seit den Werken von Roberto Bolaño, auch er Chilene, in denen ja meist auch Lyriker die Hauptrolle spielen, die sich selbst als Nabel der Welt betrachten. Auch aus diesem Grund ist besagter Interviewmarathon stark an die Romane Bolaños angelehnt, es ist als Hommage von Seiten seines Landsmannes (und, wie sich immer mehr herausstellt, legitimen Nachfolgers) Zambra zu lesen.

Hier tauchen die skurrilsten Dichter auf, die allesamt aus einem Bolaño-Roman entflohen zu sein scheinen. Etwa derjenige, der keinen Namen trägt und sich genau aus diesem Grund ein getreues Publikum aufgebaut hat, das ihn als Kultautor verehrt – obwohl die Wahrheit viel banaler ist, hatte er doch einfach bei seinem ersten, selbst gedruckten Gedichtband vor Aufregung vergessen, seinen Namen aufdrucken zu lassen. Oder diejenige, die jeden Morgen ein ihr zuvor unbekanntes Gedicht liest rudimentär auswendig lernt, den ganzen Tag einer beschwerlichen Arbeit nachgeht und dann nachts versucht, dieses Gedicht aus der Erinnerung zu rekonstruieren, was diverse Abweichungen und Sinnverschiebungen mit sich bringt. Am Ende landet Pru auf einer Lyriker-Party, auf der es vermehrt zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt und die im dionysischen Chaos endet.

Dabei ist jene gestrandete Amerikanerin nur eine Nebenfigur in diesem Roman, der im Original den Titel Poeta Chileno, Chilenischer Dichter, trägt und aus vielleicht nicht unerfindlichen, jedoch den Handlungskern deutlich reduzierenden Gründen in Deutschland unter dem Titel Fast ein Vater erscheint. Auch die als Leitmotiv fungierende schwarze Katze auf dem Originalcover wurde durch einen Luftballons verkaufenden Straßenjungen ersetzt, ein Bild, das im Zusammenhang des Romans überhaupt keinen Sinn macht. Vielleicht dachte man, Bücher über die Leiden und Lüste chilenischer Dichter verkauften sich weniger gut als Familiendramen – und zu großen Teilen ist der Roman ja auch ein solches: Nach Jahren trifft der darbende Lyriker Gonzalo, der sein Geld als Literaturdozent verdient, auf seine Jugendliebe Clara, die mittlerweile einen aus einer einmaligen Affäre stammenden sechsjährigen Sohn hat. Gonzalo, der seine erste Liebe Clara niemals hat vergessen können, und die stets etwas berechnende, aber ihren Trieben gehorchende, Ex-Freundin nähern sich wieder an. Da trifft es sich gut, dass der leibliche Vater des Jungen, der auf den Namen Vicente hört, ein desinteressierter Taugenichts ist und Gonzalo quasi über Nacht in die Vaterrolle schlüpfen muss.

Dieser erste Teil des Romans zieht sich über knapp acht Jahre, in denen die beiden – Stiefvater und Stiefsohn – sich langsam annähern, eine innige Beziehung zueinander aufbauen, Gonzalo aber stets das Gefühl hat, wie der deutsche Titel sagt, immer nur ‚fast ein Vater‘ zu sein. Überraschend kommt es jedoch von Claras Seite zum großen Knall und Gonzalo verschwindet über Nacht nicht nur aus dem Leben der Kleinfamilie, sondern für lange Zeit auch aus dem Roman, der sich nun seinem zweiten chilenischen Dichter, dem, es sind vier Jahre vergangen, mittlerweile 18-jährigen Vicente widmet.

Dieser hat, ein typischer Zambra-Stoff, nachdem Gonzalo ausgezogen ist, nach außen hin mit dem Stiefvater gebrochen, doch überkommt ihn eine für ihn nicht erklärbare Melancholie und er eifert ihm unbewusst nach – indem er, der zuvor ein notorischer Nicht-Leser war, selbst beginnt eine umfassende Lyrik-Bibliothek aufzubauen und später, wie sein völlig unbekannt gebliebener Stiefvater, zum Dichter wird. Als solcher lernt er schließlich die eingangs erwähnte Amerikanerin kennen und lieben. Und irgendwann taucht Gonzalo wieder auf.

Anders als die vorhergehenden Werke Zambras, bei denen sein Humor eher hintergründig ist und sich meist hinter einer bedrückenden Form von Melancholie versteckt, die mitunter zu Tränen rühren kann, ist Fast ein Vater teilweise ein regelrechter Slapstick-Roman. Vor allem seine expliziten, betont komischen Darstellungen von Sexualität lassen die Protagonisten in ihrer ungezähmten Triebhaftigkeit oft lächerlich erscheinen. Aber auch die chilenische Vorstellung davon, wie ein (männlicher) Dichter zu sein habe, wie er zu leben und zu denken habe, wird durch den Kakao gezogen. Daran müssen sich begeisterte Leser*innen dieses Autors, der unbedingt zu den größten der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur gezählt werden muss, erst einmal gewöhnen. Auch die Formexperimente, die noch seinen letzten Roman Multiple Choice ausgemacht haben, sind zugunsten eines (vor allem in der langen Pru-Episode) fast schon nach amerikanischer Creative-Writing-Schule konstruierten und erzählten Plot abwesend.

Und trotzdem findet man sie, die großen Zambra-Momente, jene Beschreibung von Kreuzungen, an denen sich das Leben der Protagonisten zweigt und an die sie oft voller Melancholie zurückblicken. Gonzalos erster und lange Zeit einziger Gedichtband trägt den Titel „Parque del recuerdo“ (Park des Erinnerns), es ist der Name des Parks/Friedhofs, den er auf dem Weg zu Claras Haus durchschreiten musste, es ist auch der Titel des letzten Kapitels von Fast ein Vater. Und viel in diesem Buch handelt von Erinnerung, aber auch davon, wie wir sie uns retrospektiv zurechtlegen, und wie ein Lyriker sie ästhetisiert.

Wie Gonzalo versucht auch Vicente die Erinnerung zunächst auszulöschen, um sie dann scheinbar unbewusst wieder zuzulassen. Nachdem Gonzalo das Haus der Familie verlassen und dabei auch seine unzähligen Bücher aus dem Arbeitszimmer mitgenommen hat, sind sie immer noch schemenhaft als eingebrannte Schatten an der Wand erkennbar, sodass Vicente zu dem Entschluss kommt, das Zimmer zu beziehen und hier eine eigene Bibliothek aufzubauen, um die Schatten zu überdecken. Doch sind die Grundsteine der Bibliothek genau die beiden Lyrikbände, die Gonzalo vergessen hat.

Es sind solche bewegenden Szenen, die das Herz dieses meisterhaften Romans ausmachen, denn hinter der manchmal enervierenden, weil überdrehten Satire auf das Selbstbild des ‚chilenischen Dichters‘ (das selbstredend gleichzeitig auch ein satirisches Bildnis des Autors Alejandro Zambra darstellt) steckt ein tieftrauriger Kern, den vielleicht ein weiterer der von Pru interviewten Lyriker am Besten erklärt: Er habe sich nach der Machtergreifung Pinochets im Jahr 1973 geschworen, nie wieder ein Gedicht zu schreiben, solange das Militär regiert. Und er habe das tatsächlich die ganzen siebzehn Jahre durchgehalten. Doch kaum zurück aus dem Exil, sprudelten die Gedichtbände nur so aus ihm heraus, obwohl ihm schon klar war, dass man es eigentlich mit Paul Celan halten müsste, und im Angesicht des unfassbaren Grauens nie wieder ein Gedicht schreiben sollte. Aber man kann eben nicht anders, als chilenischer Dichter.

Titelbild

Alejandro Zambra: Fast ein Vater.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429716

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