Die Obsession der 3225 Toten. Addieren und subtrahieren, wie geht man mit ihnen um?

Alia Trabucco Zerán schreibt in ihrem Debütroman „Die Differenz“ über die Toten von Chile

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lateinamerika sorgt zuverlässig für neue literarische Stimmen, auch wenn es in Deutschland immer schwerer wird, ihnen Gehör, d. h. Leser zu verschaffen. Überraschend ist der hohe Anteil an jungen Autorinnen – aus Argentinien und Mexiko, aus Uruguay, Kolumbien, Venezuela  oder Chile –, die in den letzten Jahren auch alle übersetzt wurden.  Ich nenne nur einige Namen: Samanta Schweblin, Maria Gainza, Selva Almada, Claudia Piñeiro, Fernanda Melchor, Mercedes Rosende, Pilar Quintana, Karina Sainz Borgo, Lina Meruana, Nona Fernández, Maria José Ferrada und jetzt Alía Trabucco Zerán. Publiziert werden sie vorwiegend in kleinen oder mittleren Verlagen – Berenberg, Wagenbach,  Unionsverlag, Septime, Aufbau. Andere Unbekannte warten weiter darauf, übersetzt zu werden, und einige aufregende Werke kommen außerdem aus traditionell eher ‚buchfernen‘ Ländern wie Bolivien, Ecuador oder Mittelamerika. Überall gibt es großartige Debüts und es werden auch alle Genres, vom Krimi bis zur Kurzgeschichte, bedient. Da drängt sich die Frage auf: was ist los, warum bringen die Deutschen so wenig Interesse für die neue lateinamerikanische Literatur auf? 

Die Politik und die Medien sorgen sich um Afrika, den Nahen Osten, China… aber wo bleibt die regelmäßige Berichterstattung über den uns kulturell doch nahestehenden Kontinent? Immerhin teilen wir europäische Sprachen und historische Gemeinsamkeiten und müssten uns eigentlich intensiv darum bemühen, dass Lateinamerika mit Europa eng verbunden bleibt (auch im eigenen ökonomischen Interesse). Oder soll der Kontinent sich nach der allmählichen Befreiung vom US-Imperium jetzt (noch stärker) in chinesische Abhängigkeit begeben? Die Literatur bot immer die Chance, Lateinamerikas Geschichte und Probleme, seine Vitalität und Kreativität besser kennen zu lernen. Das hat Leser während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts weltweit fasziniert. Und jetzt?

Nehmen wir Chile, wo gerade ein junger Präsident, Gabriel Boric, im März die Macht übernimmt und zugleich eine neue Verfassung erarbeitet wird, die die letzten arbiträren Gesetze der Pinochet Diktatur beseitigen und für mehr Gerechtigkeit für alle im Land, auch für die Indigenen, sorgen soll. Wie tief die Traumata reichen, wie viel Aufarbeitung nötig ist, lässt sich anhand der jüngeren Literatur leicht feststellen. Kindheitserinnerungen steigen auf, die nicht bewältigt werden konnten, es gibt Familienschicksale, die zunächst verschwiegen oder nur bruchstückhaft erläutert wurden, dann die ‚Verschollenen‘, deren Verbleib noch immer nicht geklärt ist bzw. deren Gräber nicht gefunden wurden.

Im vorliegenden Roman ist dies das zentrale Thema: Felipe, dessen Eltern unter dem Regime ‚verschwanden‘, zählt obsessiv die Toten, die er überall aufspürt oder sie zu sehen vermeint. Es sind ja mehr als dreitausend.

Am Anfang kamen sie dann und wann, den einen Sonntag tauchten sie auf, den anderen wieder nicht, dann war mal ein Wochenende Pause und dann kamen sie Schlag auf Schlag. Disziplin ging ihnen nämlich ab, meinen Toten. Sie überraschten mich immer an den merkwürdigsten Orten: sie lagen an der Bushaltestelle, im Rinnstein, im Park, sie hingen an den Brücken und Ampeln, sie rauschten den Mapocho hinab […].

Felipe kam als Waise zu einer befreundeten Familie, denn auch sie hatten im Untergrund gearbeitet, konnten aber überleben. Er wächst mit der nahezu gleichaltrigen Tochter  Iquela auf, und wie Geschwister leben sie jetzt zusammen. Eine dritte Familie aus der Gruppe konnte mit der Tochter Paloma im letzten Moment in die deutsche Botschaft fliehen.

Als Palomas Mutter Ingrid Jahre später in Deutschland stirbt, möchte die Tochter sie in der Heimat beerdigen. Daher benachrichtigt sie Iquelas Mutter Consuelo von ihrer Ankunft in Santiago, damit sie abgeholt wird. Aber alles verkompliziert sich, denn wegen eines Vulkanausbruchs kann das Flugzeug mit dem Sarg nicht landen und wird nach Mendoza in Argentinien umgeleitet. Die Hauptstadt liegt nämlich – mal wieder – unter einer dicken Ascheschicht. Felipe, Iquela und Paloma suchen nach einer Lösung, und so beginnen sie einen makabren Roadtrip mit einem Leichenwagen über die Anden. Das Ende wird natürlich nicht erzählt … aber diese abenteuerliche Reise hält den Leser in Atem.

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus zwei Perspektiven: zum einen gibt es die inneren Monologe von Felipe, der mit den Kindheitserinnerungen und dem Zählen der  „Toten“ kämpft, sie addiert oder subtrahiert, und die ‚Differenz‘ herauszufinden versucht.  Zum anderen berichtet Iquela  das chronologische Geschehen, und natürlich teilt sie in Rückblenden einzelne Bruchstücke aus der Kindheit mit, die Treffen mit der Großmutter, wie ihr Vater verstarb, welche Probleme sie mit ihrer Mutter hat, die das Haus kaum verlässt und immer nur Angst hat, vor Erdbeben wie vor Menschen. Auch das Verhältnis der drei Freunde ist komplex, und Erotik und Drogen machen nichts leichter. Der Aufenthalt in Mendoza, um den Sarg auf dem Hangar zu finden, gerät zur schwarzen und doch bitterernsten Komödie. 

Dieser Erstlingsroman einer bislang unbekannten Autorin, Quereinsteigerin aus der Jurisprudenz, schaffte sogleich den Sprung auf die Shortlist des Internationalen Booker Preises 2019. Eine verdiente Nominierung, denn Alía Trabucco Zerán ist zweifellos eine literarische Entdeckung. Wir sollten sie unbedingt  lesen und können uns dabei über die geschmeidige Übersetzung von Benjamin Loy freuen.

Titelbild

Alia Trabucco Zerán: Die Differenz.
Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy.
bahoe books, Wien 2021.
220 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783903290556

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