An der Kulturfront

In „Himmel über Charkiw“ berichtet Serhij Zhadan davon, wie eine Stadt im Krieg zu überleben versucht

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der großangelegte russische Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022 traf Serhij Zhadan in Charkiw an. Von einem Tag auf den anderen wurde sein „Plan für das Jahr“ obsolet. Gewöhnlich war der Schriftsteller und Musiker auf Monate hinaus ausgebucht. Doch nun war nichts mehr wie zuvor: Der Krieg drängte Zhadan und seinen Mitmenschen seine eigene Agenda auf.

Serhij Zhadan beginnt ab dem ersten Kriegstag, kurze Einträge auf Facebook und Twitter zu verfassen. Er und seine Freunde werden als „Volontäre“ aktiv: Sie bringen älteren Menschen Lebensmittel, rüsten Spitäler mit zusätzlichen Medikamenten aus, besuchen Kinder, die in der U-Bahn Schutz gesucht haben, organisieren Konzerte. Später gilt ihre Unterstützung vorwiegend der ukrainischen Armee, für die sie Geld und Ausrüstung sammeln.

Der Suhrkamp Verlag hat nun den Großteil von Zhadans Nachrichten aus den ersten vier Kriegsmonaten unter dem Titel Himmel über Charkiw auf Deutsch veröffentlicht. Bei jedem Post sind Datum und Uhrzeit angegeben. Damit wird bereits auf die wichtigste Eigenschaft von Zhadans Aufzeichnungen hingewiesen: Sie berichten in der Regel ganz unmittelbar von einem Augenblick in Charkiw oder Umgebung, während sich die große Lage im Land von Tag zu Tag verändert. Der Flattersatz und die mitunter etwas verwackelten Fotos unterstreichen auch optisch das Vorläufige und zugleich Prekäre dieser Einträge, die niemals den nächstfolgenden Moment kennen.

Die Notizen entstammen dabei meist der Perspektive des Autors: Zhadan erzählt, was er sieht und erlebt, wie er und seine Freunde im humanitären und im kulturellen Bereich tätig sind. Er blendet zwar die großen Orientierungspunkte des Kriegsgeschehens nicht aus, doch bleiben diese eher im Hintergrund. Ihre knappe Erwähnung ermöglicht es den Leserinnen und Lesern aber dennoch, die „Meilensteine“ des Kriegs während der Lektüre noch einmal nachzuvollziehen: das Massaker in Butscha, die berühmte ukrainische Briefmarke mit dem Stinkefinger, die Bombardierung des Bahnhofs in Kramatorsk, die Versenkung des russischen Kriegsschiffs „Moskwa“, die Belagerung und anschließende Einnahme Mariupols durch russische Truppen …

Serhij Zhadans Aufzeichnungen sind eine Chronik des Alltäglichen im Krieg. Sie sind persönlich, aber nicht intim. Sie beschränken sich fast zur Gänze auf eine Stadt und sind doch nicht unwissend, was die großen Zusammenhänge betrifft. Bei allem Leid und Sterben, das darin zum Ausdruck kommt, sind die Notate in erster Linie ein Zeugnis des Kampf- und Siegeswillens, der Hoffnung, aber auch der Verbundenheit der Menschen untereinander. Das „Wir“, das Gemeinsame, rückt in den Vordergrund. Viele der Einträge enden mit einer Art Refrain, der so oder ähnlich wiederkehrt: „Über der Stadt wehen unsere Flaggen“, oder: „Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher“. In seinem Nachwort betont Serhij Zhadan, die wahren Heldinnen des Buchs seien die Charkiwerinnen und Charkiwer.

Der überzeugendste und bemerkenswerteste Aspekt des Buchs besteht aber in etwas anderem: Es ist ein minutiöses Protokoll darüber, wie sich im Krieg alles – bisweilen zunächst kaum wahrnehmbar – verändert. Man kann hier als Beispiel die Sprache nennen: Wie soll man den Krieg in Worte fassen und ihn sprachlich einordnen? Das zeigt sich etwa daran, wie Zhadan die russischen Aggressoren zu bezeichnen versucht. Er erweitert dabei seinen Wortschatz fortlaufend, tastet sich sprachlich voran: Von „Invasoren“ und einer „Horde“ ist schon früh die Rede. Später gesellen sich Ausdrücke wie „Barbaren“, „Verbrecher“, „Unrat“ oder „Abschaum“ dazu. Zhadan nimmt aber auch wahr, wie immer mehr Menschen zur ukrainischen Sprache wechseln. Erst über die zahlreichen Nachrichten hinweg entwickelt sich allmählich so etwas wie ein Gesamtbild.

Die schleichenden Veränderungen im Leben der Stadt und ihrer Einwohner*innen werden vom Autor angesichts der Momentaufnahme und der Kürze der Einträge zwar registriert, aber noch kaum ausgearbeitet. Sie führen Zhadan eher zu sprachlichen Versuchsballons, die er aus dem Augenblick heraus in den Himmel über Charkiw aufsteigen lässt. Nur ansatzweise beobachtet man darin bereits ein essayistisches Denken, das sich freilich nach dem Krieg durchaus noch konkretere Formen suchen könnte. Denn diese Aufzeichnungen sind gewiss nicht Zhadans letztes Wort zum Krieg.

Serhij Zhadan, der Dichter, Musiker und Organisator von kulturellen Veranstaltungen, fragt stets auch nach der Rolle von Kultur in Zeiten des Kriegs. Er spricht ganz offen von einer „Kulturfront“, an der man sich ebenfalls verteidigen müsse. Mit seiner Band Zhadan i sobaky (Zhadan und die Hunde) gibt er Konzerte, er besucht Ausstellungen und Aufführungen. Er nimmt Lieder auf, die im Anhang des Buchs abgedruckt sind und die mithilfe von QR-Codes im Internet aufgerufen werden können. Damit antwortet Zhadan zugleich seinen Kritikern, die argumentieren, während des Krieges müsse die Kunst hintanstehen. Einer der eindrücklichsten Einträge stammt aus den ersten Tagen nach Kriegsbeginn („7. März 10:31“):

Eine Granate hat ins legendäre Haus „Slowo“ („Wort“) eingeschlagen. Das ist aus Sicht der Russen ganz konsequent: Sie haben schon immer unsere Kultur vernichtet. Aber diesmal werden sie es nicht schaffen. Die Russen sind Barbaren. Und das „Wort“ bauen wir wieder auf.

Am 23. Oktober durfte Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für das Jahr 2022 entgegennehmen – „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft.“

Titelbild

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg.
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot, Sabine Stöhr und Claudia Dathe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
239 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431252

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