Nur das Motel heißt noch „Paradise“

Serhij Zhadans Roman Internat über den Krieg im Donbass

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine dreitägige Odyssee durch eine kriegsversehrte, apokalyptisch anmutende Stadt: Das ist vordergründig die Geschichte, die Serhij Zhadan in seinem aktuellen Roman Internat erzählt. Damit holt der Schriftsteller den vergessenen Konflikt in der ostukrainischen Donbass-Region schmerzhaft in unser Bewusstsein zurück. Doch Zhadan zielt freilich tiefer: Paschas Reise durch die Hölle konfrontiert diesen mit sich selbst und wirft Fragen auf, denen er sich stellen muss. Kann man in einem Krieg neutral sein? Kann man ohne Schuld bleiben? Wie übernimmt man Verantwortung für sich und seine Nächsten? Kann man durch den Krieg zu sich selber finden? – Wie der Autor sein Vorhaben sprachlich umsetzt, ist schlicht und einfach großartig zu nennen!

Pascha, ein 35-jähriger Lehrer für Ukrainisch, macht sich ­zunächst eher widerwillig auf, seinen Neffen Sascha aus dem Internat zu evakuieren. Paschas lieblose Zwillingsschwester hatte den Dreizehnjährigen dort untergebracht, weil er an einer Krankheit leidet (vermutlich an Epilepsie) und sie sich nicht um ihn kümmern wollte. Doch es herrscht Krieg in der namenlosen Stadt im Osten der Ukraine, und das Internat befindet sich auf der anderen Seite der Front. Was nun folgt, ist ein langer Irrgang durch die Stadt und ihre Vororte. Pascha schlägt sich bis zum Internat durch. Kurze Etappen kann er im Taxi oder Bus absolvieren, doch meistens ist er zu Fuß unterwegs. Mit seinem Neffen begibt er sich anschließend auf den Rückweg. Es ist Januar und kalt, Schnee und Regen wechseln sich ab, Nebelschwaden ziehen herum. Die Hindernisse sind zahlreich, das Vorhaben gefährlich: Straßenpatrouillen, einschlagende Geschoße, zerstörte Infrastruktur, nicht genügend Lebensmittel.

 Paschas Finger an der rechten Hand sind verkümmert. Dafür schämt er sich, aber sie sind zugleich der Grund, warum er nicht zum Dienst eingezogen worden ist. Er wird folglich auch nie den Abzug drücken müssen. Überhaupt hatte sich Pascha eigentlich völlig aus dem Krieg heraushalten wollen. Er wollte bloß Lehrer sein, wie er immer wieder betont. Er wollte für keine Seite Partei ergreifen, habe gar vergessen, für wen er bei den letzten Wahlen gestimmt hat. Diese Strategie schien bis bis dahin zu funktionieren, solange er, sein Haus und seine Schule sich abseits der Front befanden. Doch jetzt wird Pascha mit der Realität konfrontiert und gerät mitten ins Geschehen. Er – und später mit ihm Sascha – begegnet Soldaten, Freischärlern, Banditen, Flüchtigen. Ob diese Gefahr oder Unterstützung bedeuten, ist jeweils nicht sofort klar. Pascha sieht sich gezwungen, Verantwortung für sich und Sascha zu übernehmen. Er muss sich durchkämpfen, um zu überleben. Subtil zeigt Serhij Zhadan auch auf, wie Sascha mit der Situation bisweilen besser zurechtkommt als der etwas naive, unbeholfene, verträumte Pascha. Eine der großen Fragen des Romans lautet, wie die Grenzerfahrung die beiden Protagonisten verändert. Zhadan legt zwar keine eindeutigen Antworten nahe,  aber Pascha und Sascha gehen ihren Weg und sie meistern ihre Aufgabe. Es scheint, als würden sie zu sich finden.

Serhij Zhadans Leistung liegt vor allem in der sprachlichen Bewältigung seines Materials. In der Regel wird im Präsens erzählt – abgesehen von einigen Rückblenden in die Vergangenheit. Die Perspektive ist meist an Pascha angelehnt. Aus dieser sprachlichen Grundsatzentscheidung holt Zhadan das Maximum heraus: Das Geschehen ist auf diese Weise in einer Art völliger Zeitlosigkeit angesiedelt. Der jeweils nächstfolgende Moment bleibt stets im Dunklen. Die Sprache geht der Odyssee nicht voran, sondern sie tastet sich genauso durch den Nebel und das verminte Gelände vorwärts wie Pascha und Sascha. Außerdem beeindruckt die ausgeprägte Metaphorik des Romans, die das Geschehen auf eine allgemeinere Ebene hebt. Manches erinnert an die Unterwelt: die kaum einsehbaren Schluchten, durch die man irrt, oder die finsteren Keller, in denen man vor Granateneinschlägen Schutz sucht. Das Bahnhofsgebäude, in das Zivilisten geflüchtet sind, bedeutet nun nicht mehr den Anfang einer Reise. Es gibt für die Menschen keinen Ausweg. Der Bahnhof wird zur Endstation und zum Sinnbild für einen Wartesaal ganz anderer Art: Jederzeit muss mit tödlichem Beschuss gerechnet werden. Die Menschen sind ihrer Zeit ausgeliefert. Auch das Internat selbst funktioniert als Metapher: Es steht für das Unbehaustsein, das Abgeschobensein, es ist Provisorium und Zwischenwelt. Ganz anders hingegen das Haus, das Zuhause, zu dem Sascha und Pascha unterwegs sind: Es verkörpert Geborgenheit, Licht und Wärme.

 Spätestens seit seinem letzten Roman Mesopotamien haben in Serhij Zhadans literarischem Schaffen die religiösen und biblischen Motive an Bedeutung gewonnen. Neben den Verweisen auf die Apokalypse schlägt sich das in Internat auch anderswo nieder: Flüchtlingszüge und Fahrzeugkolonnen werden mehrfach als „Prozessionen“ bezeichnet. In Pascha, dessen voller Name Pawlo lautet, kann man eine Anspielung auf Paulus sehen, der auf dem Weg nach Damaskus durch ein Berufungserlebnis vom Christenverfolger zum Apostel wurde. Pascha ist aber auch ein Zwilling, womit eine weitere Assoziation ermöglicht wird: Der biblische Zweifler Thomas wird erst gläubig, als er Christi Wundmale sehen und berühren kann – Thomas bedeutet im Aramäischen „der Zwilling“. Pascha ist Brillenträger, das heißt er sieht schlecht, und seine Finger sind bezeichnenderweise verkümmert. Statt Christus zu begegnen, ihn zu sehen und zu spüren, bleibt Pascha also offensichtlich nur ein Gang durch die Hölle, damit er zu sich selbst finden kann. Es klingt beinahe schon ironisch: „Paradise“ ist im Roman nur noch der Name eines Motels, an dem Pascha auf seiner Odyssee durch den Krieg vorbeikommt. Es ist beschädigt, seine Fenster von einer Explosionswelle zerschlagen: „Oben auf dem Dach erhebt sich eine Satellitenschüssel, an einer Stelle von einem Granatsplitter durchbohrt, sie gleicht einer Sonnenblume am Morgen, ausgerichtet nach Osten.“ Die Verbindung zum Himmel ist unterbrochen.

Das wichtigste sprachliche Charakteristikum des Romans Internat sind jedoch die überaus zahlreichen Vergleiche mit „wie“, „als ob“, „gleicht“ und ähnlichen. Auf jeder Seite finden sich gleich mehrere von ihnen. Sie deuten darauf hin, dass die von Pascha wahrgenommene Welt nicht mehr normal ist, dass man sie mit den geläufigen Begriffen sprachlich nicht mehr in den Griff bekommt. Die Vergleiche stellen Versuche dar, das Unbekannte mithilfe des Bekannten zu beschreiben: „Regen und Nebel füllen die Erde mit Wasser, und der Himmel gleicht bei dieser Feuchtigkeit einem Ertrunken im Ufergewässer – aufgedunsen, blaue Schimmer vor grauem Hintergrund.“ Selbst Pascha, der als Sprachlehrer die Welt eigentlich müsste „lesen“ können, ist dazu kaum in der Lage. Die Umgebung, die Natur, die Geschehnisse sind ihm fremd. Und doch muss er sich auf sie einlassen.

 Mit Internat hat Serhij Zhadan zweifellos einen wichtigen Roman über den Krieg vorgelegt, und zwar nicht nur über denjenigen in der Ostukraine. Wie man unter widrigsten Umständen zu sich selbst kommen und nach Hause finden kann, das ist eines der großen Themen dieses Romans. Es herrscht eine apokalyptische Endzeitstimmung und Zhadan vermag es, diese in ein passendes sprachliches Kleid zu hüllen. Sabine Stöhr und Juri Durkot haben für ihre Übertragung von Internat ins Deutsche ganz zu Recht den Leipziger Buchpreis 2018 in der Kategorie „Übersetzung“ gewonnen.

Titelbild

Serhij Zhadan: Internat. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428054

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