Zwischen Sein, Schein und Schwein

Robert Zimmer führt mit „Weltklugheit“ kundig durch die Ideengeschichte der Moralistik

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Gibt es überhaupt ein richtiges? Oder ist das schon falsch: an eine biologische Entität (Leben) die Frage nach Richtigkeit, also Moral oder Geglücktheit stellen? Und: Das Ganze ist das Unwahre? Und die Teile? Wären die wahr? Wie hat man sich das vorzustellen? JedeR kennt diese Adornoschen Sprüche und weiß, was gemeint ist: der böse Kapitalismus, also eine Sozialformation. Aber was, wenn das Leben an sich eine Plage wäre? Natur und Gesellschaft? Jedenfalls brachte das Nicolas Chamfort (1741–1794), Girondiste, Moralist und Opfer der Guillotine, auf den Punkt: „Das Elend des Menschen liegt darin, daß er in der Gesellschaft Trost suchen muß gegen die Leiden, die die Natur ihm zufügt, und in der Natur Trost gegen die Leiden der Gesellschaft.“

Wenig schöne Aussichten. Plagt einen nicht Gliederreißen, Angst vor Krebs, irgendein Virus, dann sind es die Mitmenschen. Verkürzt lässt sich sagen: die Moralisten, jene Autoren, denen Robert Zimmer, freischaffender Philosoph und Chefredakteur der philosophischen Zeitschrift Der blaue Reiter, hier ein kundiges Buch gewidmet hat, sind mal nur auf die Gesellschaft bezogen, mal langt’s ihnen auch mit der Natur, mal bringen sie die Unschuld der Natur gegen die böse Gesellschaft in Stellung.

Wer also etwas für negative Anthropologie, Miesepetrigkeit und Gesellschaftshass übrighat, der ist hier gut bedient, wenn auch nicht gut beraten, weil zu raten gibt es da halt viel, aber irgendwie auch nur halt. Die Natur durchschaut man nicht, die Gesellschaft auch nicht. Wie da durch? Da will die Moralistik helfen. Bezogen auf die Gesellschaft kann man sie als Organisationssoziologie avant la lèttre ansehen. Jeder steckt in Organisationen, soziologische Meso-Strukturen zwischen sozialer Mikro-(Individuum) und Makrostruktur (Gesellschaft): Schule, Manta-Fanclub, Universitätsinstitut. Organisationen verstehen sich selbst als definiert durch ihre Ziele. Schulen produzieren kluge Köpfe, Manta-Clubs verbotene Autorennen, Universitätsinstitute Erkenntnis (via Publikationen etc.). Ist das wahr? Da wird die Organisationsstruktur unterschlagen und vor allem: die Mitgliedschaft. Und die hat’s in sich. In einer Organisation leben, heißt leidensfähig sein: Schefe ist unfähig (man selbst könnte es besser), und mindestens eine oder einer lebt an den lieben Kollegen seine/ihre Kindheitsneurosen aus, piesackt, mobbt, torpediert (etwa man selbst?).

Viel Spaß. Wie da durchkommen?

Der Ursprung der Moralistik liegt in der Klugheitslehre der Antike: phronesis, nicht sophia, Weisheit, auch wenn die phronesis, das kluge Navigieren durch die gezähnten Unterwasserklippen des Sozialverbands, damals noch auf sophia und gar ein geglücktes Leben bezogen war. Und weil Klugheit immer etwas Situationsbezogenes sein muss, nie Hundertprozentiges sein kann, hat die Moralistik zugehörige literarische Formen entwickelt, die dem Unsystematischen, Vorläufigen, Tastenden entsprechen: Aphorismus, Essay, eben Minima moralia.  

Spätestens mit Macchiavelli führt die Klugheit nicht mehr zur sophia. Bei ihm kommt es zur Autonomisierung und Säkularisierung des Klugheitskonzepts. Das Problem lässt sich mit einem Philipp Rosenthal zugeschriebenen Bonmot verdeutlichen. Im Leben sei wenig Sein, viel Schein und das meiste Schwein – fortuna, Schicksal, der schiere Zufall, das schiere Zur-rechten-Zeit-am-rechten-Ort sein (oder: besser nicht dort sein), sie verhindert, dass selbst der/die Kluge buddhistisch weise und alles-checking ist. Klugheit angesichts fortuna ist durchwursteln.

Ausgehend von der Renaissance entsteht das Grundmodell der Moralistik, Baldassare Castigliones (1478–1529) Hofmann. Castiglione bewegte sich als Diplomat in Urbino und Mantua. Wie sich da in der aristokratischen Schlangengrube zurechtfinden? Nun, grazia, Anmut und sprezzatura, Lässigkeit, „self-fashioning“, es ist das Auftreten in Kleidung, Haltung. Genügt das?

Francesco Guicciardini (1483–1540), einer der ersten gebeutelten Miesepeter, ist verdammt vorsichtig. Auch er war Diplomat. Wie so oft in der Politik, mal klappt’s, mal nicht so. Jedenfalls ist er misanthropisch. Menschen seien „so unzuverlässig und hinterlistig, sie betreiben um des eigenen Vorteils willen so abgründige und trügerische Machenschaften und nehmen so wenig Rücksicht auf das Wohl ihrer Mitbürger, dass man ihnen nicht unrecht tut, wenn man wenig glaubt und selten vertraut.“

Das sieht der Jesuit Balthasar Gracian (1601–1658), der im katholischen Spanien der Inquisition lebte, kaum anders – vielleicht ist ein negatives Menschenbild ja doch von der Gesellschaft abhängig. Oder ist es so, dass das Unglück des Menschen damit beginnt, dass er außerstande ist, mit sich selbst allein in einem Zimmer zu bleiben, wie Pascal (1623–1662) meinte?

Im großen Zeitalter der Moralisten in Frankreich wird aber der honnête homme das Leitbild, Klugheit in aristokratischer Umgebung, wo nur der amour-propre gilt, wie Francois de Marillac, Herzog von La Rochefoucauld (1613–1680) meinte – während seines Lebens musste der allerhand Schläge einstecken: in aristokratischen Salons, von Frauen geführt (deren Rolle bei Zimmer vielleicht etwas zu kurz kommt) dreht man anderen besser nicht den Rücken zu.

Das geht auch etwas heller: Montaignes (1533–1592) Essais sind eher Selbsterforschung als Gesellschafts-bashing. Die Menschen sind halt so und man selbst auch arg beschränkt, kognitiv wie ethisch. Nicht nur bei Montaigne gibt es einen Zug ins Konservative, viele Moralisten sind tendenziell eher ahistorisch. So kritisch das also daherkommt, so beschränkt ist es in seinem sozialen Kontext. Das sieht man daran, dass einer der ersten, der etwas Distanz zum aristokratischen Ambiente und zur Anpassung durch Klugheit hatte, aus dem Bürgertum stammt, Jean de la Bruyère (1645–96), ein kleiner Advokat, der erst später zum Prinzenerzieher wurde.

La cour und la ville büßten im 18. Jahrhundert langsam an Verbindlichkeit ein, philosophische Topoi wie Rousseaus Feier der Natur werden übernommen, die Gesellschaft im Namen der unschuldigen Natur kritisiert. Im 19. Jahrhundert verlor die clevere Herumschwimmerei im Haifischbecken aristokratischer oder sonst verbindlicher Organisationen vollends ihre Orte, Hof oder Salon. Natürlich verschwindet „die Notwendigkeit einer Klugheitsreflexion“ nicht, aber „sie musste auf einer neuen Grundlage wiederaufgenommen werden“, ging „in die Obhut des sich in die Privatexistenz flüchtenden Individuums“, das „nicht nur soziale Strategien, sondern […] auch seine eigene soziale Position selbst bestimmen musste“.

Jetzt kommt die Zeit eines wirklich großen Miesepeters: Arthur Schopenhauer glaubt, nur der zurückgezogen lebende Privatmann, mit Kunst- und Literaturgenüssen bestens gepolstert, sei das rechte role model: „Überhaupt aber kann jeder im vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehn; nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten; denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe, Dissonanz herbei“.

Damit ist die Zeit der Moralistik nicht vorbei. Das 20. Jahrhundert bietet Ernüchterungen. Paul Valery bringt das Individuum auch gegen die vermaledeite Gesellschaft in Stellung, doch was ist das Individuum, das da geschützt werden soll? Nichts als ein Raum der Möglichkeiten, Identität, Mitsicheinssein: reiner inhaltsleerer Punkt. Und bei E.M. Cioran fragt man sich, warum der sich, schwarz in schwarz, überhaupt die Mühe des Niederschreibens machte – angesichts der absoluten Katastrophe Leben.

Aber es gibt auch Helles. Vielleicht führt das in die Glücksduseligkeit und -wüterei neoliberaler Selbstunternehmer- und Selbstbelügerei: Alain (1868–1951) kann man entweder als Gute-Laune-Bär der Moralistik – Glück ist möglich, streng dich halt an – oder gar als ersten Selbstoptimierer ansehen.

Moralistik also wird, wie auch immer, weiter betrieben werden.

Titelbild

Robert Zimmer: Weltklugheit. Die Tradition der europäischen Moralistik.
Schwabe Verlag, Basel 2020.
177 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783796538254

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