Countdown, Komik, Cut up, Chaos

Tom Zürcher konjugiert diese in seinem konjunktivfreien Roman „Liebe Rock“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Liebe Rock, wenn du das liest, bin ich tot. Tot wie dein Hund, der sich immer gewundert hat, dass ich dich nicht rumgekriegt habe“ – dieser fulminante erste Satz mit prononciertem Aufforderungscharakter (vielleicht doch einmal kurz das Ende lesen?) dürfte nach dem Erscheinen von Tom Zürchers neuem Roman oft zitiert werden. 

Obwohl die Deutschlehrerin seine Aufsätze nie sonderlich geschätzt hat – unter anderem deshalb, weil er sich strikt weigerte, den Konjunktiv zu benutzen –, verlässt der 18-jährige Timm eines Tages abrupt das Gymnasium, um Schriftsteller zu werden. Er zieht bei Rock ein, die in seiner Stammkneipe arbeitet, dort, wo er seine Sätze in ein Wachstuchheft hinein notiert. Rock hat zwar wechselnde Liebhaber, ist aber eigentlich mit dem Doktoranden Marc zusammen, der auch in der WG wohnt. Mit ihm rivalisiert Timm um Rocks Liebe.

Als Timms Vater einen Verleger für den ersten Roman seines Sohnes gefunden hat, bemächtigt sich Timm Marcs fast beendeter wirtschaftswissenschaftlicher Dissertation, um diese einem „Cut up“ zu unterziehen und ihn so weiter zu torpedieren. Daraus entsteht ein Roman mit exakt 100 „Countdown-Kapiteln“, den der korrekturlesende Vater als „Bleiwüste“ abstempelt. Die „Buchvernissage“ gerät zum Desaster und der vom Verleger eigens engagierte Kritiker schreibt einen Verriss. Es braucht eine eher belanglose positive Besprechung, des Weiteren einen Artikel über den Autor, einen Brand in einer Buchhandlung und eine Sepsis, die auf der Intensivstation behandelt werden muss, bevor Timms Buch auf Platz elf der Bestsellerliste landet. Auf eine Lesung im Literaturhaus folgt der Auftritt in einer Gesprächsrunde im Fernsehen und schließlich Platz 1 auf der Liste. Dann wird Marcs Doktorvater auf Timms Machwerk aufmerksam, droht mit Klage, belässt es aber bei einem äußerst medienwirksamen wütenden Aufsatz. Als Rock und Marc parallel zu diesem Trubel ihre Hochzeit planen, ist Timm doppelt enttäuscht und außerstande, einen zweiten Roman zu beginnen. So setzt er sich mit einer Flasche Cognac an den See, legt einige Steine neben sich und schreibt an seine große Liebe. Ob Timm, so wie er es geplant hat, Hand an sich legt, bleibt offen.

Liebe Rock besteht aus einem ganzen Füllhorn an witzig-chaotischen, leicht absurden und gleichzeitig tiefgründigen Episoden, in denen deutlich wird, dass Timm irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein laviert. Mit der Hauptfigur, so Tom Zürcher, habe er „schon ein bisschen“ bei sich „abgeschrieben“ oder bei „einem jüngeren Ich“. Er habe während der Genese seines Romans sehr mit der Figur gelebt, sein Text komme „leicht daher“, sei aber auch eine „todtraurige Geschichte“ (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Kyvp1_rXA0o, 18.08.2021).

Diese Ambivalenz manifestiert sich auf höchst komplexe Weise. Sie gründet in einer doppelbödigen Perspektive auf die Welt, die ihr Äquivalent am ehesten in dem Grundsatz einer romantischen Ironie findet, der immer die Reflexion des eigenen Tuns immanent ist und die eine multiplexe Spannungsbalance zwischen Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, immer ein Element des Uneigentlichen in sich birgt. Timm behauptet mehrfach von sich selbst, dass er nicht Timm sei, sondern Timms Rolle spiele. Alles ist doppelt, auch reversibel, was sich ebenfalls mit dem Countdown der kurzen Kapitel von 100 zu 0 offenbart. Trotz dieser Umkehr bewegen sich die Leser*innen von 100 zu 0 vorwärts. Außerdem nehmen sie den Roman bei der Lektüre des letzten Satzes als zyklisch wahr, denn er ist, wenn man von einer nicht nummerierten Schlussbemerkung („Mutter ist an den See gekommen“) absieht, gleichzeitig der erste. 

Mit der durchgängigen Adressierung der Kapitel an die weibliche Hauptfigur Rock hat Tom Zürcher die Gattung des monologischen Briefromans gewählt. Narratologisch resultiert daraus eine weitere Dopplung, weil die homodiegetische Stimme des Ich-Erzählers und die damit verquickte interne Fokalisierung der Ereignisse von einer externen Fokalisierung auf Rock ergänzt wird. Mit den Präteritum-Formen in der 2. Person Singular ertönt eine sehr massive, linguistisch markierte zweite Stimme, die nicht selten den Ich-Erzähler überlagert, so wie in dem folgenden „Duett“:

Ich erzählte von jenem Abend, als ich den Hund in Marcs Zimmer gelassen hatte. Ich redete mir alles von der Seele und hinterher verspürte ich sogar so etwas wie Hunger. Du hörtest mir geduldig zu, dann standest du auf und ich auch. Ich schloss die Augen und war auf alles gefasst. Aber du nahmst mich in die Arme und drücktest mich an dich.

Aus dem Resultat des Schreibprozesses emergiert eine brüchige Einheit, eine partielle Verschmelzung, in der die unmittelbare Wucht der Affekte durchschlägt, was die kaum erkennbare Distanz von erzählendem und erlebendem Ich zusätzlich unterstützt.

Sprachlicher Witz erdet die ironische Distanz. Dabei dominiert eine Parataxe, die keine Direktheit scheut und in ihrer Lakonie mit Assoziationsstärke punktet, schon allein mit Alltagsmetaphorik, wenn der „Brotjob“ im Supermarkt zum „Gemüsejob“ oder „Joghurtjob“ mutiert oder wenn Autos zu furzenden Gestalten personifiziert werden. Gleich zwei Mal tritt ein abgewandelter „Spontispruch“ hervor, „Ich musste etwas kaputt machen, bevor es mich kaputtmachte“, und die Klimax „Ich trank, schrieb und fühlte mich gut“ avanciert zum „Veni, Vidi, Vici“ des emsigen Protagonisten. Paronomasien, Entlehnungen aus der Werbesprache, eine freudige Mischung aus Konkretem und Abstraktem, Tautologien, ein paar Helvetismen und parodierende Allusionen, z.B. auf Shakespeares Romeo und Julia, steigern nicht zuletzt deshalb das Lesevergnügen, weil sie in Dauerschleife dazu appellieren, den Text zu transzendieren.

Das rhetorische Feuerwerk bietet ein perfektes Substrat für das Gedeihen weiterer Motive im Umkreis des Protagonisten, mit denen die Ambivalenz augenfällig wird. Timms jüngerer Bruder Beni, der seit einem Badeunfall stottert, ist trotz seiner Kokain-Eskapaden noch ein Kind, mit dem sich Timm im Lauf der eigenen Entwicklungskrise zu identifizieren scheint. Eigentlich soll Beni einen Psychiater besuchen. Doch als Timm ihn auf Geheiß der Eltern begleitet, steht er fortan selbst bei den Sitzungen im Mittelpunkt. Als Beni kurzfristig verschwindet, erklärt Timm, dass sein Bruder tot sei. Mit dem für den zweiten Roman anvisierten und unsinnigen ersten Satz, „Lieber Beni, wenn du das liest, bist du tot“, projiziert Timm möglicherweise seine eigene Befindlichkeit, seine Suizid-Gedanken, auf den Bruder. Er streicht sein WG-Zimmer rundum schwarz, um ein „schwarzes Loch“ zu konstruieren, in das hinein er versinken möchte. Die Bildbereiche korrespondieren auch, wenn es heißt, dass Beni in einem Meer aus Wörtern und Timm „wie ein Ertrinkender“ stottert, als er Rock gesteht, dass er das Gymnasium nicht freiwillig verlassen hat. 

Er sei ein „Kind“, das schleudert ihm Rock mal liebevoll, mal wütend entgegen. Bezeichnenderweise nutzt Timm immer den Kugelschreiber, den er beim Kinderschreibwettbewerb gewonnen hat. Dieser symbolisiert die Transition in Permanenz, vergleichbar mit einem Weltschmerz des Dazwischen, denn „das, was war, ist nicht mehr und das, was sein wird, ist noch nicht“, so wie Alfred de Musset bereits 1836 in seinem Bekenntnis eines jungen Zeitgenossen notiert. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs konstatiert Timm, dass „ein uraltes Kind“ von ihm gegangen, sogar „irgendwie jemand gestorben“ sei. Einen Weg zurück scheint es in dieser Überschwänglichkeit nicht mehr zu geben. Wenn später allerdings die Blase der Berühmtheit platzt, wenn sich im Haus seiner Eltern die nicht verkauften Exemplare seines Romans stapeln und Timm erfahren muss, dass sein erster Text, der, mit dem er den Wettbewerb gewonnen hat, nicht aufbewahrt wurde, erscheint ihm jedwede Zukunft versperrt. Bis dahin alternieren Megalomanie und Apathie, die „Kraft für tausend Seiten“ und das Gefühl, „unbrauchbar für dieses Leben“ zu sein. Zur depressiv geprägten Demotivation schlägt das Pendel etwa dann aus, als in den ihm schon seit Langem vertrauten Selbstgesprächen der Autor der ersten Romankritik zum inneren Kritiker aufsteigt. 

Von besonderer Wertigkeit ist darüber hinaus die Ambivalenz von Mensch und Tier, die sich durch den ganzen Roman zieht. Timm spricht mit Rocks krankem Hund, der eine Hündin ist und immer nur generisch als „der Hund“ etikettiert wird. Er soll die Nacktkatze, die Marcs Großmutter gehörte, töten, doch als Timm ihn allein mit der Katze in ein Zimmer gesperrt hat, erliegt er seinem Herzleiden. Timm redet ebenfalls mit der Katze, die maßgeblich seinen Bekanntheitsgrad steigert, als er sie mit in die Fernsehsendung nimmt. In einem Wutanfall hat er sie zuvor, stellvertretend für Rock, so könnte man meinen, übel misshandelt. Die Nacktkatze wehrt sich mit Kratzen und Beißen, was Timm, der eine Blutvergiftung erleidet, fast das Leben kostet. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass Timm die Katze in den geschlossenen Raum eines Backofens einschließt, eine Aktion, die Erwin Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment mit der Katze, die paradoxerweise tot und lebendig zugleich ist, in Erinnerung ruft. Damit wird die Gleichzeitigkeit des an sich Ungleichzeitigen ad absurdum geführt.

Verbrenn mich – so heißt das Buch, das mittlerweile auf Platz 1 der Bestsellerliste steht und das der Verleger Timm zu lesen empfiehlt. Dieser jedoch nimmt die Aufforderung wörtlich. Zu dem Feuer in der Wohnung gesellt sich ein Feuer in der Buchhandlung, ebenso spielt Marcs „feuerrotes Bike“ eine Rolle und der Verleger ist „Feuer und Flamme“ für ein Titelbild. Ähnlich wie bei Schrödingers Katze bzw. der Katze im Backofen/Feuer sind hier Leben und Tod, Energie und Sterben, äquivalent und spiegeln die Gratwanderung des Protagonisten wider – seinen kometenhaften Aufstieg und seinen Fall.

Es ist nicht mehr als konsequent, dass die omnipräsente Meta-Ebene des Romans im Roman bzw. die Reflexion über fiktionale Literatur und ihren Vertrieb in der Fiktion selbst als Hauptthema figuriert. In wenigstens dreifacher Hinsicht ergibt sich ein „Meta“: Im Roman geht es um die Entstehung des ersten Romans eines eher talentbefreiten und moderat ambitionierten Jung-Schriftstellers, daneben um den fiktionalen Hintergrund für die Entstehung des vorliegenden Romans Liebe Rock und aus diesem Geflecht erhebt sich die Reflexion über den Literaturbetrieb im Allgemeinen.

Die Art und Weise, wie Timm seinen ersten Roman in Angriff nimmt, persifliert die Bedingungen der Genese von schöngeistiger Literatur. Man kann sich eines prustenden „LOLs“ nicht erwehren, wenn er Marcs Doktorarbeit über Sportartikelhersteller mit Versatzstücken aus seinem Wachstuchheft und aus einem kurzen Text mit dem Titel „Spargelprinz“ mixt, indem er sie der vom Verleger empfohlenen „Cut-up-Methode“ unterzieht. Das sei „Literatur pur“ und das „Feuilleton“ werde „begeistert“ sein. Das Verfahren kann nicht nicht an surrealistische Collage und Decoupage erinnern und daran, dass Kunst und Literatur in diesem historischen Umfeld als eingebunden in demokratische Prozesse, an denen jede*r partizipieren kann, gelten. Es verwundert nicht, dass auch für Timm die Arbeit am Roman ein Kinderspiel ist, mit dem er über Nacht fertig wird, sechs große Dosen Bier konsumierend und damit das Klischee des alkoholisierten Literaten bedienend. 

Es ist viel los in Tom Zürchers Roman: Zu erwähnen wären noch Rocks amouröse Eskapaden, die – ganz sicher ist es nicht – im Inzest mit dem „Altrocker“ zu gipfeln scheinen, zuvor hat sie einen „Asphaltcowboy“ genauso wenig von ihrer Bettkante gestoßen. Ohne Timms Aggressionen, seine Raufereien mit Rock unter anderem, würde dem Text etwas fehlen und ohne die interessanten Nebenfiguren sowieso: Rocks Mutter, Timms Eltern, der windige Verleger, Marcs Großmutter, der Psychiater, ein paar „Penner“, der erste Kritiker und der Kritiker mit der blauen Brille. An der einen oder anderen Stelle hätte man einige dieser Charaktere bestimmt ausarbeiten können – die immense Freude beim Lesen hätte das jedoch nicht weiter erhöhen können. 

Vor zwei Jahren stand Tom Zürcher mit seinem Roman Mobbing Dick auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Zu wünschen ist dem nicht mehr ganz so jungen Menschen, dass er sich mit seinem aktuellen Roman, in dem „viel Herzblut und Wachstuchheft“ stecken mag, ohne „nun denn“, auf dem zielgeraden Weg zur Nummer 1 befindet. 

Liebe Rock ist ein großer Wurf – erfrischend vielschichtig und interreferenziell, mitreißend, zum Lachen hinreißend, manchmal absurd und respektlos, insgesamt komisch mit intensiver tragischer Grundierung. Kurz gesagt: Liebe Rock rockt.

Titelbild

Tom Zürcher: Liebe Rock. Roman.
Picus Verlag, Wien 2021.
296 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783711721105

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