Zur Überbrückung dichotomer Klassifikationen
Der Sammelband „The Situationality of Human-Animal Relations“ diskutiert Mensch-Tier-Beziehungen aus phänomenologischer Sicht
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit geraumer Zeit ist die Überwindung von binärem Denken angesagt: Alltagsweltlich aber auch wissenschaftlich selbstverständlich gebräuchliche Dichotomien – etwa: Natur / Kultur, männlich / weiblich, Körper / Geist, Vernunft / Gefühl – werden als Produkte sozialer Praktiken dekonstruiert. Der vorliegende Sammelband zu Mensch-Tier-Beziehungen passt in diese Denkrichtung, ergänzt und erweitert sie.
Bereits der Kernbegriff ‚Situation‘ weist den Weg einer möglichen Überbrückung. Anders als der Begriff ‚kultureller Kontext‘, der konventionalisierte Symbolstrukturen unterstellt und so dem Menschen Vorrang einräumt, stellt das Konzept der Situation mit dem Verweis auf Verkörperung und räumliche Platzierung Mensch und Tier eher gleich – so der Anthropologe Christoph Lange. In mehreren Hinsichten nimmt das Konzept eine Mittelstellung ein: Es umfasst Spezifisches und Typisches, bezeichnet mehr als ein Ereignis und weniger als eine Epoche: Zeitlich und lokal situierte konkrete Vorkommnisse werden in einen erweiterten historisch-räumlichen Zusammenhang eingebettet. Stabile, jedoch veränderbare Muster werden weder aus genetischer Veranlagung noch aus abstrakten Regeln, sondern aus wiederholten Interaktionen und gemeinsamer Gewohnheitsbildung abgeleitet. Die Analyse des Ausreitens der Anthropologin Tanja Theissen illustriert das Konzept. Ausreiten – so die geschichtliche Dimension – ist eine historisch neue Freizeitbeschäftigung, an der auch das Pferd Vergnügen gewinnen kann. Es wird nicht wie früher als Arbeits- und Lasttier genutzt; sein Gehorsam wird nicht mehr durch Sporen, Kandaren und Peitschenhiebe erzwungen. Im Zentrum stehen nicht menschliche Dominanz, sondern Tierrechte, Verständigung, Partnerschaft. Die dokumentierten Beobachtungen - so die räumliche Dimension - fanden in der Eifel statt, einer ländlichen, dünn besiedelten Region mit weiten Ebenen und dichten Waldstücken. Auf der Grundlage des je besonderen Vertrauensverhältnisses, das sich zwischen Pferd und ReiterIn entwickelt hat, geht es in den konkreten Situationen um verkörperte Praktiken der Aushandlung unter je spezifischen Bedingungen (Wetterverhältnisse, Bodenbeschaffenheit, Routenwahl), die mitbestimmen, ob das Ausreiten entspannt, anstrengend oder bedrohlich ist.
Zentrales Thema des Bandes ist natürlich die Überbrückung der tradierten Entgegensetzung Mensch / Tier, die dem Menschen Überlegenheit, Werkzeuggebrauch, Sprache, Freiheit, Geist, dem Tier Unterordnung, Instinktdeterminiertheit, Körper zuschreibt. Anknüpfend an die phänomenologische Tradition sucht die Philosophin Maren Wehrle nicht nach Unterschieden, sondern nach Gemeinsamkeiten: Mensch und Tier teilen eine vor-reflexive praktische Gerichtetheit auf die Welt. Beide haben einen Körper und können sich gezielt bewegen – sie haben ein Körperschema. Beide wissen um die eigene Position in einer sinnlich erfahrbaren Welt – sie haben Raumorientierung. Durch die Interaktion mit der Umwelt entwickeln beide – auch gemeinsame – praktische Gewohnheiten. Diese repräsentieren die Fähigkeit, vergangene Erfahrungen zu bewahren und in die zukünftige Welt (die eigene und die anderer) zu überführen. Gewohnheit ist ein kreatives, kein mechanisches Verhalten. Insofern steht es zwischen den Gegensätzen Wahlfreiheit / Determinismus, Spontaneität / Instinkt. Auch der Gegensatz Subjekt / Objekt wird durch Interaktionen in geteilten Situationen vermittelt: So erklären wir das Verhalten eines Haustiers nicht durch Ursachen, sondern durch Motive. Wir empfinden es nicht als bloßes Objekt, sondern immer auch als Subjekt von Erfahrungen, für das wir selbst potentielles Objekt sind. Gewohnheiten – verkörperte, expressive, empathische, habitualisierte Praktiken – haben wir nicht nur gemein mit Tieren: Wir teilen sie.
Verhandelt werden unterschiedliche Arten von Beziehungen zu unterschiedlichen Arten von Tieren – zu Löwen, Bienen, Elefanten, Eulen, Fischen, Hunden, Pferden. Es geht um implizite Abstimmungen des Verhaltens: So schildert der Afrikanist Thomas Widlok, wie Löwen und Buschmänner in Namibia – vor der Einführung von Rinderzucht, Tourismus und Naturschutzparks – das gemeinsame Jagdrevier friedlich miteinander teilten. Die Menschen jagten tagsüber und blieben nachts bei ihren Lagerfeuern. Die Löwen jagten nachts und lagen am Tag im Schatten; begegneten sie doch einem Menschen am Tag, zogen sie sich zurück und ließen auch bereits erlegte Beute liegen.
Es geht um spirituelle Orientierungen: So zeigt der Linguist Aung Si, dass die indigenen Völker in Australien Honigbienen nicht nur als nützliche Nahrungslieferanten betrachten, sondern ihnen auch eine bedeutsame Rolle bei Beerdigungsritualen und in Mythen zuschreiben, die Verbindungen zu den Vorfahren und zu anderen Clans stiften.
Es geht um eine geteilte Lebenswelt. Der paläolithische Anthropologe Shumon T. Hussain beschreibt das Zusammenleben von Menschen mit Elefanten in Schwaben und mit Eulen in Böhmen in der Aurignac Kultur (ca. 30000 Jahre v. Chr.). In Schwaben fand man Darstellungen von Elefanten, Perlen und Schmuck aus Elfenbein, viele Knochen, aber keine Spuren von Kämpfen oder Tötungen. Elefanten wurden nicht verzehrt. Die langlebigen, atmenden und herumlaufenden Monumente dienten als raum-zeitliche Bezugspunkte, an denen sich die Rhythmisierung des Lebens orientierte. In Böhmen fand man eulenähnliche Figuren und Schmuck und wiederum keine Anzeichen, dass Eulen wie andere Vögel gejagt wurden. Die kaum sichtbaren, aber nachts deutlich hörbaren Eulen waren bedeutungsvolle Mitbewohner. Die Frontaldarstellungen betonen die Menschenähnlichkeit und belegen so ein geteiltes Lebensgefühl.
Es geht auch um die explizite Ausbildung gemeinsamer Gewohnheiten, etwa zwischen Mensch und Hund. So entwickelt sich eine gemeinsame Sprache körperlicher Verständigung, etwa wenn der Reiter sein eigenes situationsspezifisches Befinden durch Schenkeldruck, Körperhaltung und Zügeleinsatz dem Pferd direkt übermittelt. Es geht um soziokulturelle Praktiken, die die moralische Dimension der Mensch-Tier-Beziehung offenbaren. Dies arbeitet der Anthropologe Thorsten Gieser in seiner Analyse des Abfangens einer verwundeten Sau heraus: Angesichts der Sichtbarkeit des Leidens für den Jäger und des verursachenden Jägers für das Tier ist eine waidgerechte Tötung nicht nur nötig, sondern geboten. Doch auch ein Gegenmodell wird aufgezeigt. In einer pfiffigen Analyse beschreibt der Anthropologe Mario Schmidt Entfremdungspraktiken von Anglern. Diese stellen zwar intensive Überlegungen an über die richtige Wahl von Angel, Köder, Ort und Zeitpunkt für das Fischen. Zugleich aber behaupten sie, das Verhalten von Fischen sei überhaupt nicht zu verstehen und der Fang pures Glück. Dieses paradoxe Verhalten zeige, dass die Angler die langwierigen Diskussionen und die meditative Praxis genießen, aber unterbewusst ein mögliches Mitempfinden mit dem Leid der – gänzlich fremden – geangelten Fische unterbinden wollen.
Auch wenn einige Beiträge weniger transparent oder informativ sind, so vermittelt der Sammelband insgesamt doch etliche hochinteressante Beobachtungen und weiterführende Reflexionen. Diese Denkanstöße machen das Buch interessant und anregend.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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