Stefan Zweigs Letzter Roman

In einer kritischen Neuauflage zeigt uns Zweigs letzter, Fragment gebliebener Roman “Clarissa” das lange Ende einer Welt, das der Autor selbst nicht überlebte

Von Felix HaasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Haas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Zweig war neben Thomas Mann der meistgelesene deutschsprachige Autor seiner Zeit, als er im Februar 1942 mit seiner Frau Charlotte Altmann in Brasilien Selbstmord beging.

Die letzten acht Jahre seines Lebens verbrachte der besonders durch seine Kurzgeschichten, Novellen und Biografien bereits zu Lebzeiten einem internationalen Millionenpublikum bekannte Wiener Autor im Exil. Er lebte von 1934 bis 1940 in England und reiste schließlich über die USA nach Brasilien aus, wo er seine letzten zwei Jahre verbrachte.

Besonders in dieser Exilzeit war Zweig sehr produktiv. In Brasilien stellte er sein autobiographisches Werk Die Welt von Gestern fertig. In seinem Haus in Petrópolis, 68 km außerhalb von Rio de Janeiro, schrieb er außerdem die Schachnovelle und begann einen letzten Roman, der jedoch unvollendet blieb. Erst 1981 wurde dieser im Londoner Nachlass des Schriftstellers gefunden, um 1991 im Fischer Verlag unter dem Titel “Clarissa” veröffentlicht zu werden. Der Publikation folgten Stimmen von Zweigforschenden, welche die Qualität der Bearbeitung des Fragments beklagten. Im Paul Zsolnay Verlag ist nun eine philologisch kritisch aufbereitete Neuauflage erschienen, die darüber hinaus als siebter und letzter Band die (“Salzburger”-) Werksedition von Stefan Zweig abschließt.

Beginnt man die 140 Seiten des Romanfragments, ohne die ebenfalls inkludierten Kommentare oder das Nachwort gelesen zu haben, wird man schnell stutzig, merkt aber bald, dass dies nicht an einem selbst liegt. Immer wieder – und gegen Ende des Fragments immer häufiger – treten grammatikalisch unvollständige Sätze auf, werden Eigenschaften der Personen oder Handlungselemente eher kommentiert als ausgearbeitet. Die Unvollständigkeit des Fragments lebt auf mehreren Ebenen und bedeutet nicht nur, dass der Text schließlich abrupt abbricht. Soweit seine Handlung reicht, erzählt sie vom Leben der jungen Clarissa, einer Generalstochter, geboren am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Provinzstadt des Habsburger Reiches. Sie durchläuft eine Klosterschule außerhalb von Wien, nach deren Vollendung sie, neben verschiedenen Kursen, eine Assistenz bei einem Psychiater in Wien annimmt. Im Juni 1914 reist sie zu einem pädagogischen Kongress nach Luzern. Noch bevor dieser jäh durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers unterbrochen wird, lernt sie dort den jungen Franzosen Léonard kennen und lieben. In den Wochen vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges reist das Paar durch die Schweiz und Norditalien – Orte, die Zweig selbst besucht hat. Der Krieg entzweit sie. Clarissa fährt zurück nach Wien und weiter an die Front, wo sie in einem Lazarett aushilft und einen jungen Fähnrich betreut, der unter posttraumatischer Belastungsstörung zu leiden scheint. Sie beschließen sich gegenseitig zu helfen, heiraten und können weiteren Kriegshandlungen entgehen. Zweigs Fragment trägt die Handlung noch durch Clarissas stille weitere Kriegszeit, in der sie völlig für ihr erstes Kind lebt. Die letzten Seiten des unvollständigen Romans werden jedoch sehr skizzenhaft. So finden wir dort Passagen wie: 

Eine Zeitlang entfliehen der Ehe. Scheidung. Er lachte. Wozu? Freien Menschen. Merkwürdige das Kind. Acht Jahre. Vergötterte ihn. Wehrlos. Ein verspielter Mensch. Der Hass gegen Léonard. Sie erfahren, ob er lebe. 

Wir können nur darüber mutmaßen, wie Zweig seinen Roman vollendet hätte. Selbst der Teil, der uns geblieben ist, hätte sich in einer hypothetischen finalen Version sicher noch stark gewandelt. Dies liegt nahe, nicht nur auf Grund seiner erwähnten vielschichtigen Unvollständigkeit und seinen Wiederholung von bereits erwähnten Handlungselementen (so findet zum Beispiel ein Ausflug auf den Rigi zwei Mal statt), sondern auch wegen Stefan Zweigs üblicher Arbeitsweise: Mindestens eine zweite handschriftliche Niederschrift, Schreibmaschinenabschrift und Überarbeitung durch seine Frau, Fahnenkorrektur.

Trotzdem ist „Clarissa“ auch in dieser Form unverkennbar ein Zweig-Roman – und dass nicht nur wegen seiner leichten autobiografischen Untertöne. Clarissa ist, typisch für viele der Charaktere in Zweigs Erzählungen und Novellen, eine getriebene, zeitweise hilflose und suizidgefährdete Person. Anders als manche seiner Frauenfiguren ist sie aber nicht schwach. Der scheinbaren Ausweglosigkeit ihrer Situation entgeht sie am Ende doch durch eigene Stärke und List. Überhaupt ist sie eine relativ moderne Frau, die mit den moralischen Zwängen ihrer Zeit ringt, die eigene Bildung und eine transnationale Idee von Europa hoch ansieht. Doch so zentral Clarissas Leben für die Romanstruktur auch ist: Das Fragment ist nicht das eines klassischen Bildungsromans. Vielmehr dient Clarissa als Reflektionsfigur, an der sich Militär, Krieg und traditionelle Moralvorstellungen zeigen und selbst entlarven. Das Romanprojekt kann so einerseits als Zweigs Versuch eines Epochenromans des sterbenden Habsburger Reiches, ähnlich zu Joseph Roths Radetzkymarsch oder Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, gesehen werden, wie auch als fiktionales Gegenstück zu Zweigs nur kurz zuvor fertiggestellter Autobiografie Die Welt von Gestern.

Es ist schwer, ein unfertiges Werk ob seines stilistischen Wertes zu beurteilen. Doch erkennen wir auch in seiner unfertigen Form deutlich Zweigs viel geliebte und viel kritisierte Sprache. Ich selbst war als junger Mensch eingenommen und berührt von seiner zugänglichen Prosa, welche die tobenden Gefühle, die Hingabe und die Verzweiflung seiner Charaktere fasst. Und ich verstehe noch heute, warum Zweigs Werk geliebt wird und so kommerziell erfolgreich geblieben ist. Doch ist es schwer, sich der Kritik vieler seiner Kollegen, eines Thomas Manns, eines Hermann Hesses, völlig zu verschließen; einer Sicht, der Michael Hofmann 2010 mit seiner beißenden Kritik in der London Review of Books eine Speerspitze gegeben hat. Ja, Stefan Zweig neigt zum Kitsch, zu einer pompös- überladenen Gefühlssprache. Ja, es finden sich allzu viele Wiederholungen, dramatische Überhöhungen und Superlative in seinen Beschreibungen von Gefühlen. Und ja, all das ist auch in „Clarissa“ der Fall, doch wird es dort immer wieder gehemmt von nur stichpunktartigen, nicht völlig ausformulierten Sätzen – so zum Beispiel im Folgenden:

Das Fremde, das Böse. Sie sah ihn. Tief und fest. Hals bloß, seinen schönen. Es war das Leben. Die Ader gefühlt. Der Gedanke, dass etwas geschehen. Die Angst. Etwas tun. Sie ging zum Fenster. Es war ein Instinkt. […] Zurück ins Zimmer. Hastig an. Léonard kam auf sie zu. Er warf sich ihr entgegen. „Wo bist du gewesen?“ Sie antwortete: „Frag mich nicht.“ Blass. Erschrocken. „Ich wache auf und du bist nicht da -. Ich bin nie so erschrocken in meinem Leben. Verlassen.“

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob eine solche Passage aus Zweigs Fragment in seiner finalen Form ähnlich prosaischen Ballast aufgenommen hätte wie die folgende aus seinem einzigen fertiggestellten Roman Ungeduld des Herzens, den er 1939, nur wenige Jahre vor seinem Tod vollendete:

Ich war nicht mehr Gott, sondern nur ein kleiner, ein kläglicher Mensch, der mit seiner Schwäche schurkisch schadete, mit seinem Mitleid verstörte und zerstörte. Genau, furchtbar genau war ich mir innerlich meiner Pflicht bewußt: jetzt oder nie war es Zeit, ihr die Treue zu halten. Jetzt oder nie müßte ich helfen, den andern nacheilen, mich zu ihr ans Bett setzen, sie beschwichtigen und belügen, herrlich sei sie gegangen, herrlich werde sie gesunden! Aber ich hatte keine Kraft mehr zu so verzweifeltem Betrug. Angst fiel über mich, eine grauenhafte Angst vor den furchtsam flehenden und dann wieder gierig verlangenden Augen, Angst vor der Ungeduld dieses wilden Herzens, Angst vor diesem fremden Unglück, das zu meistern ich nicht imstande war.

Man möchte beinahe so weit gehen, den Autor zu beglückwünschen, dass im Clarissa-Fragment einige Stellen unausgearbeitet und letztlich dadurch auch weniger pathetisch und gefühlsüberladen geblieben sind. In jedem Fall dürfte von Fans und Kritikern unumstritten sein, welche Bedeutung Stefan Zweig in der modernen deutschsprachigen Literatur hat. Allein deswegen ist es zu begrüßen, dass nun eine bereinigte und kritisch bearbeitete „Clarissa“ Ausgabe vorliegt, die nebst ihres philologischen Wertes auch die Arbeitsweise des Schriftstellers verdeutlicht. So notierte Zweig sein Manuskript auf den rechten Seiten seiner doppelseitigen Schreibkladde und Kommentare auf den linken. Die letzteren sind in der Paul Zsolnay Verlags Ausgabe in einem Anhang aufgeführt – natürlich vollständig.

Titelbild

Stefan Zweig: Clarissa. Romanfragment.
Hg. von Simone Lettner und Werner Michler.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024.
304 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058798

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