Raus aus dem täglichen Wahnsinn?

Josef Zweimüllers Debütroman „Grün“ verlebendigt die Farben des Waldes

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte an sich ist simpel: Zweimüller beschäftigt sich mit dem Leben des jungen Aussteigers Jona im Wald. Warum Jona diesen Weg gewählt hat (oder wählen musste?), erfährt der Leser erst später im Roman. Zunächst steht die Beziehung von Jona zu seiner Mutter im Zentrum der Erzählung, die Jona nur mit ihrem Namen Finja nennt. Finjas Gefühlswelt lernen wir dadurch nach und nach besser kennen und stoßen immer wieder an Stellen, an denen die Mutter-Sohn-Beziehung über das gesellschaftlich als normal definierte Maß hinauszugehen scheint. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen und wird nur angedeutet, ohne es klar zu formulieren. Die Sehnsucht Finjas nach der Stadt und einem vermeintlich normalen Leben, verbunden mit ihrem Streben nach Luxus und Anerkennung, lässt die Figur von Beginn an zerbrechlich erscheinen. Ihr Selbstmord stellt in der Kombination aus von außen erkennbarer Unsicherheit, offensichtlicher Anerkennungssucht, inneren Zerwürfnissen verbunden mit einem großen Freiheitsdrang und scheinbar unerklärlichen menschlichen Fehltritten die logische Konsequenz dar, ohne dass der Hergang im Buch gänzlich aufgeklärt wird. Es mehrfach in die Hand zu nehmen, dürfte immer wieder neue Erkenntnisse aufwerfen und weitreichendere Interpretationen zulassen.

Neben der Jonas Leben überstrahlenden Finja konstruiert Zweimüller mit Hiraku, Teilnehmerin des von ihm angebotenen Überlebenstrainings im Wald, eine zweite zentrale weibliche Figur, die man zunächst unterschätzen mag. Schnell lernt der Leser ihr jedoch zuzutrauen, dass sie Finja zwar nicht verdrängen kann, aber sich als starke Persönlichkeit ihren eigenen Platz im Leben des Aussiedlers zu schaffen vermag. Sie versucht wie er den Verlust einer geliebten Person zu kompensieren. Durch dieses gemeinsame Verarbeiten gehen beide – zunächst bedächtig, dann immer rasanter – eine intensive Beziehung ein. Sie erweist sich dennoch nicht als stark genug, die Liebenden vom Schatten der Vergangenheit zu befreien. Während Jona seine Gefühle relativ schnell erkennt – bevor Hikaru mit ihm in seine Umgebung eindringt, sich darin besser zurechtfindet, als er glaubt, und mit ihm zu leben beginnt – wird die junge Frau sich erst nach der Rückkehr in die Stadt ihrer Empfindungen richtig bewusst. Sie versucht, Erklärungen unter dem Deckmantel der journalistischen Recherche zu finden, wobei sie dem verlorenen Geliebten geistig immer näherkommt.

Die Reise durch Jonas Gedankenwelt berührt verschiedene Themenfelder, die das Leben der Figuren bestimmen: Die Existenz als Aussteiger aus Eigen- und Fremdsicht, das Leben als Waise, die Last des Selbstmords, Ursachen für Gewaltausbrüche und die Kernfrage des Romans, in welcher Art von Leben Menschen ihr persönliches Glück finden –  im Einklang mit der Natur oder durch modernes, urbanes Leben. Kann eines ohne das andere existieren? Grün beantwortet diese Frage nicht vollumfänglich. Doch der Roman bietet einen Anlass, sich damit zu beschäftigen, ob das Naheliegende und Einfachste immer das Richtige oder aber das Entfernte und vielleicht Schwierige nur deswegen reizvoll ist und in uns eine Sehnsucht auslöst, die wir letztlich nicht befrieden können.

Interessant ist, dass Zweimüller seine Geschichte nicht nur aus der Perspektive von Jona und Hikaru, sondern auch aus der Sicht der Natur beschreibt, die Vieles aushält, aber schließlich zurückschlägt, wenn wir nicht sorgsam mit ihr umgehen. Folgende Sequenz impliziert, wie feinfühlig und gleichzeitig klar der Autor die Natur als Metapher einsetzt: „Das Schöne am Meer ist, dass es nie voll und nie leer ist. Neues und Altbewährtes fischen wir heraus, was wir nicht wollen, brauchen oder mögen, werfen wir zurück. Was landete da zuletzt nicht alles in unseren Netzen.“

Am Ende bleibt offen, ob es so etwas wie menschliches Pech gibt, nämlich einfach Menschen, die in die falsche Sphäre hineingeboren werden und die konsequenterweise daran zugrunde gehen müssen. Solche Menschen, würden sie in Tiere verwandelt, könnten nach Zweimüllers Philosophie glücklich leben und müssten nicht wie Jona die Bürde einer doppelten Depression ertragen, in deren Verlauf sie trotz des Versuchs, eine hoffnungsvolle Farbe in ihr Leben zu bringen, das Ausbreiten von Dunkelheit und schließlich Nacht in ihrem Kopf nicht verhindern können.

Mit seinem Erstlingsroman Grün gelingt es Josef Zweimüller, die Gedanken seiner Leser in diese Farbe zu hüllen. Einem Puzzle ähnlich, stoßen wir dabei auf immer neue Teile, die sich nach und nach zu einem schlüssigen Ganzen zu ergeben scheinen, bevor der Leser noch tiefer in die Waldmalerei des Autors eintaucht. Viele Aussagen der Hauptfiguren bringen uns durch ihre unerwartete Frische dazu, den Sinn des Lebens aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Kleine Alltagsweisheiten rücken die Figuren sehr nah ihre Leser heran. „Den Spatzen war die Zeit egal. Wenn, dann träumen sie von prallen Körnern oder dunkelroten Beeren, aber nie von einer besseren Zukunft.“ „Die Menschen glauben, sie wüssten viel, aber sie reimen sich ihr Wissen nur zusammen.“ „Essen ohne Hose kam ihm fasch vor. Irgendwie musste der Mensch sich doch vom Tier unterscheiden.“ „Ohne die Sonne wäre die Erde eine Steinwüste. Das ist, als ob du deiner Mutter nicht in die Augen sehen dürftest.“ Einfache Wahrheiten, die jedoch in ihrer Schlichtheit große Kraft entfalten.

Grün ist ein starker Debütroman, unterhaltsam erzählt, der weder in kitschigen Erinnerungen schwelgt noch uns irgendwann die Aussicht auf ein Happy End bietet, weil die Verlustangst – nicht nur der beiden Hauptfiguren – über allem schwebt. Deswegen würden die Menschen nur so tun, als ob sie schliefen, denn ihre Angst vor dem Tod kenne keine Ruhe und fürchte die Kälte. Grün besticht durch glasklare Aussagen, die seine Leser permanent fordern und wartet mit vielen überraschenden, aber im Resultat nachvollziehbaren Wendungen auf. Mit Hilfe der Natursymbolik zeigt uns der Autor, dass wir deren Lauf nicht aufhalten können und alles immer weiter fließt, egal ob wir da sind oder nicht, ob wir partizipieren oder nicht. Grün hinterlässt Spuren, nicht nur im Wald.

Titelbild

Josef Zweimüller: Grün. Roman.
Picus Verlag, Wien 2020.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783711720924

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