Ein neues Wintermärchen

Kurt Drawerts Gedicht „Der Körper meiner Zeit“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Poem, das seinesgleichen sucht; in der zeitgenössischen Lyrik steht es jedenfalls einsam da, zugleich an vorderster Front: Kurt Drawert hat eines seiner schönsten Gedichte, sein Heimatgedicht, C-Dur (nach zwei Jahrzehnten) wieder aufgenommen, unter den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer kritischen Revision unterzogen und schließlich mächtig ausgebaut, und zwar fulminant. Ein neues Lied, ein besseres Lied. Ein Langgedicht in fünf Teilen, alles in allem 88 Gedichte (mit einer Danksagung), allesamt streng gebaut, vorzugsweise mit Terzetten und Quartetten, manchmal mit Zweizeilern, zumeist aber mit Versbrocken am Schluss, die anzeigen, dass jede ästhetische Ordnung, was auch immer zu leisten sie imstande sein mag, wenn’s denn sein muss radikal aufzubrechen ist.

„Was Zwecke erfüllt, ist schon // verloren […]“, heißt es im Kapitel IV. Das gilt offensichtlich für die ästhetische wie für die politische Dimension des Gedichts. Das Motto, das Drawert seinem Gedicht voranstellt, stammt von Günter Eich: „Ich habe meine Hoffnung / auf Deserteure gesetzt.“ Ein mehrdeutiger Satz, von allem Anfang an. Bleibt dieses Ich nach wie vor bei der einmal getroffenen Entscheidung? Das lyrische Ich in Drawerts Gedicht hat schon sehr viele Vereinbarungen und Losungen miterlebt, mit allen ihren Konsequenzen: „Seitdem warte ich herzlich, // was von oben herabfällt, ohne geschüttelt zu werden – / madige Äpfel, matschige Birnen, patschige Pflaumen.“ Immerhin, die Adjektive, mehr noch, die komplette Apparatur der rhetorischen Stilmittel lässt sich dieses Ich nie mehr aus der Hand nehmen, Selbstironie und Selbstsicherheit (beide verlässlich aneinandergekoppelt) äußern sich in diesen Versen permanent.

Erfahrungen, Enttäuschungen. Viele Erinnerungen. Eine „zweite / Inventur“ ist angesagt, im privaten Bereich, „hier, im Modehaus / next to the cemetery“, wie im öffentlichen: Anders als im Heimatgedicht, C-Dur kann dabei nicht länger nur mehr von Deutschland die Rede sein; Schauplätze wie Istanbul, Lampedusa, Paris und Zürich (als Metropole der Finanzwelt) kommen denn auch fast zwangsläufig ebenso ins Bild wie der Odenwald. Aber nach wie vor gilt unverbrüchlich: Was immer zwischen Oder und Rhein oder auch via Social Media kolportiert wird, über die unaufhaltsamen Prozesse unserer Zeit, über „Auflösungen und Verfall“, erfährt im Gedicht eine gestrenge literarische Nachprüfung.

Eine Prüfung, die auf einem literarischen Fundament steht, (mit)entwickelt seit der Antike. Kein Wunder also, dass in diesem Gedicht lange Ketten von Zitaten und Anspielungen zu entdecken sind, von der Bibel über die Literatur der Klassik und Romantik bis hin zu Sartre, Maurice Blanchot und Jacques Lacan. Dass indessen auch diese Quellen mit Argusaugen betrachtet werden, versteht sich. Der spielerische Umgang mit Schlüsseltexten aus dem Ahnensaal der (europäischen) Kultur, die zugleich angemessen hochgehalten und dann doch oft auch wieder auf den Boden der Gegenwart herabgeholt werden, zeugt einerseits von Respekt (der vielfach verloren gegangen ist) und andererseits von einer lustvollen kreativen Auseinandersetzung (die in universitären Seminarveranstaltungen angeblich ja eher weniger gefördert wird).

Wie auch immer, auf Rilkes erste Duineser Elegie z. B. kontert Drawert mit der Klage: „Wer, wenn ich weiterhin schriebe, bezahlte mich denn aus der // An-/gestellten Ordnungen?“ Der Dichter schreibt nämlich, auch das soll einmal gesagt sein, keineswegs nur für die „Freunde der Germanistik“, er schreibt auch für das Finanzamt; und er hat ganz bestimmt weniger Probleme mit dem Setzen von harten Enjambements als mit der „Vorabzugssteuer-/(v)erklärung“, die auszufüllen ihm augenscheinlich alles andere als leicht fällt. Dieses Thema wird daher auch im Gedicht wiederholt aufgegriffen.

Wer von den Engeln unversehens zu den An-/gestellten kommt, versteht sich nicht nur auf das Lateinische, er ist genauso imstande, unmissverständlich Deutsch zu reden: „niemals etwas nicht auszusprechen, das / im Blick aus dem Fenster, innen + außen, geschah“ (wie es im letzten Gedicht heißt, das als „Nachwort + Gebrauchsanweisung“ zu lesen ist). Drawert nennt diese Blicke, wie auch die Serie der Schwarz-Weiß-Fotos, die mit den Gedichten korrespondieren, „Blicke auf nichts“.

Alle Themen, von denen die Rede ist, werden demnach so ausgebreitet, dass auch der (private und politische) Standpunkt, von dem aus sie beobachtet werden, mit bedacht werden kann, mit bedacht werden muss. Der zentrale Standpunkt aber ist der des Sisyphos; eines Menschen, den Drawert nicht am Fuße des Berges, sondern nach wie vor unterwegs sieht, auf dem Weg bergauf. „Wieder und wieder fallen die Steine zurück auf den Weg. / Manchmal bin ich es auch selbst, der sie wieder anschafft, / nachdem ein Mann mit meinem Gesicht sie weggeräumt hatte. / Was schwer ist, bleibt schwer.“ Schwer fällt’s ihm auch, sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzustellen, angesichts der zahllosen Verletzungen, die, wie ihm der Blick aus dem Fenster Tag für Tag zeigt, der Mensch (auch in der „Nach-/wendewelt“) aushalten muss.

Wo es darauf ankommt, spricht das lyrische Ich also unmissverständlich. Mit den allermeisten Wahrnehmungen aber lässt es den Leser / die Leserin ganz allein; sie wirken ja doch so oder so nach einem nicht länger vom Autor kontrollierbaren Gesetz, und das Poem macht deutlich, dass Literatur mehr auch gar nicht leisten kann und soll.

Titelbild

Kurt Drawert: Der Körper meiner Zeit. Gedicht.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
208 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783406698019

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