Die Verarbeitung der Vergangenheit im zeitgenössischen argentinischen Roman

Ein Abriss

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Die Aufarbeitung der von 1976 bis 1983 herrschenden Militärdiktatur ist bis heute das zentrale Thema in der argentinischen Literatur. Allerdings hat eine Entwicklung hinsichtlich der Darstellung der Ereignisse stattgefunden, die parallel zum gesellschaftlichen Diskurs verlaufen ist und anhand derer mehrere Etappen beobachtet werden können, die sich in Hinblick auf die ästhetische Verarbeitung der Militärherrschaft deutlich unterscheiden.

Nach dem Ende der Diktatur und der Wahl einer demokratischen Regierung unter Raúl Alfonsin im Jahr 1983 erschienen zahlreiche literarische Texte (wie auch, in besonderem Maße, Spielfilme), die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Zeit des proceso de reorganisación nacional (Prozess der nationalen Re-Organisation) zwischen 1976 und 1983 auseinandersetzen. Vor allem die Problematik der so genannten Verschwundenen, der desaparecidos, war von Anfang an ein zentrales Thema der postdiktatorischen argentinischen Literatur, deren Entwicklung nicht zuletzt parallel mit der schleichenden, sich jahrelang hinziehenden Aufklärung über die Verbrechen der Junta gesehen werden kann. So wurde beispielsweise Elsa Osorios viel beachteter, 1998 erschienener Roman „A veinte años, Luz“ (deutsch.: „Mein Name ist Luz“), der von der Problematik illegaler Adoption von Neugeborenen in Gefangenschaft gehaltener Mütter durch das Militär handelt, bei Erscheinen zunächst weitgehend ignoriert. Erst einige Jahre später sorgte die Thematik in größerem Maße für Aufsehen, als die ersten von regimetreuen, kinderlosen Eltern adoptierten Kinder volljährig wurden und, wie die Protagonistin in Osorios Roman, begannen, nach ihrer wahren Herkunft forschten.

Generell ist in Bezug auf die Entwicklung der argentinischen Literatur seit den 80er-Jahren zu beobachten, dass die ersten literarischen Texte über die Diktatur einen zaghaften, vor allem aber allegorischen Zugang zu dem Thema suchten und verstärkt mit Anspielungen, Codierungen und versteckten Hinweisen versehen waren. So weist der Literaturwissenschaftler Miguel Dalmaroni darauf hin, dass jene fragmentarische, allegorische Erzählweise der ersten postdiktatorischen Jahre ein Spiegelbild der Erfahrungen jener Zeit darstellten: Ein non-lineares, anspielungsreiches Erzählen, das der Wahrnehmung der irreal erscheinenden Ereignisse im Land entsprach, deren Verarbeitungsprozess erst in den Kinderschuhen steckte. Gleichsam war diese Art des, durchaus experimentellen, Erzählens auch ein Wiederaufgreifen der avantgardistischen Tradition der lateinamerikanischen Literatur der 60er-und 70er-Jahre.

Bis in die frühen 90er-Jahre hinein ist zudem ein problematisches Verhältnis der Argentinier zu ihrer eigenen Literatur zu beobachten, das nicht zuletzt dazu beitrug, dass eine Ablösung der großen Namen Borges und Cortázar und die daraus folgende Etablierung einer neuen Generation von als bedeutend angesehenen Schriftstellern nicht möglich schien. Zu einschneidend waren die Erlebnisse während der Diktatur gewesen, auch weil diese aufgrund der Zensur und der allgegenwärtigen Angst gleichsam eine kulturelle Zäsur für die argentinische Literatur bedeutet hatte. Die ästhetische Folge war in erster Linie eine Ablehnung realistischer Darstellungsmuster, die mit der endgültigen (auch internationalen) Inthronisierung Borges’ als größtem Schriftsteller Argentiniens einherging. Der Schatten Borges’, dessen Literaturverständnis eine „grundlegende Überzeugung von der Nichtdarstellbarkeit der Wirklichkeit“ sowie die Ablehnung einer „ethischen Ausrichtung der Literatur“ (Spiller) impliziert, scheint für die jungen argentinischen Schriftsteller der 80er-Jahre zu groß gewesen zu sein. Dennoch gelang es dem neben Juan José Saer (der in „Nadie nada nunca“ (1980) die Diktatur allegorisch thematisierte) und Manuel Puig wohl berühmtesten Autor jener zaghaft rezipierten Generation nach Borges und Cortázar, Ricardo Piglia, bereits während der Militärherrschaft mit seinem Romandebüt „Respiración artificial“ (1980, deusch: „Künstliche Atmung“) ein allegorisches, anspielungsreiches, indes reichlich hermetisches Buch über die Diktatur zu publizieren, das vor allem in seiner retrospektiven Rezeption großen Anklang fand. Piglias folgender, hoch gelobter, 1992 erschienener Roman „La ciudad ausente“ (1992, deutsch: „Die abwesende Stadt“) bewegt sich ebenfalls stets im Bereich der Allegorie, auch wenn der Plot um ein totalitäres Staatssystem und dessen Unterminierung durch das Verschleiern und Verstecken von Information kreist.

Erst Mitte der 90er-Jahre ist beim postdikatorischen argentinischen Roman in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Militärherrschaft und ihren Folgen eine starke Tendenz hin zum realistischen Erzählen zu beobachten. Als Wendepunkt wird im Allgemeinen der 1995 erschienene, in Argentinien breit rezipierte Roman „Villa“ von Luis Gusmán gewertet, der durch seine realistische Schilderung von Folterungen und Gewalt Aufsehen erregte und tatsächlich eine neue Ära der argentinischen Prosaliteratur einleitet, die sich durch ein Ende der Anspielung und des Ausweichens charakterisierte: „Es war eine ‚Rückkehr zum Realismus‘, die neuerliche Annäherung an das Prinzip der Mimesis und gleichzeitig die Inszenierung von Stimmen der Folterer und Komplizen, die das Problem der Zustimmung durch die Zivilbevölkerung aufwarf“, so die argentinische Literaturwissenschaftlerin Silvia Saítta.

Doch entstand diese Hinwendung zum realistischen Erzählen nicht im luftleeren Raum. Vielmehr änderte sich der gesellschaftliche und politische Diskurs vor allem aufgrund der zunehmenden Anzahl an Berichten aus erster Hand; unter anderem sagten die ESMA[1]-Verantwortlichen Juan Carlos Rolón und Antonio Pernías vor dem Senat der Republik Argentinien aus und der ranghohe Militär Adolfo Scilingo legte im Gespräch mit dem Autor Horacio Verbitsky ein umfassendes Geständnis zu den bislang nur als Gerüchte zirkulierenden Praktiken der Junta ab, das in Gestalt des breit rezipierten Buches „El vuelo“ eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung der Diktatur verursachte. Und nicht zuletzt folgte aus der Gründung der Institution HIJOS, die den Kindern von Verschwundenen eine Stimme geben wollte, ein weiterer Wandel im öffentlichen Diskurs, da sich nun plötzlich neue Akteure seiner bemächtigten, deren Hauptinteresse weniger einer Aufarbeitung der persönlich erlebten Vergangenheit galt, sondern vielmehr der Frage nach der eigenen Herkunft und Identität.

Im Zuge dieser soziopolitischen Neubewertung publizierten Autoren wie Liliana Heker („El fin de la historia“, 1996), Sergio Chejcef („Los planetas“, 1999), Martín Prieto („Calle de las Escuelas No. 13“, 1999), Fogwill („En otro orden de cosas“, 2001), Martin Kohan („Dos veces Junio“, 2002, deutsch: „Zweimal Juni“) bzw. „Ciencias morales“ (2007, deutsch: „Sittenlehre“) oder Silvia Silberstein („Bajo el mismo cielo“, 2002) Texte, die sich aus verschiedenen Perspektiven an das Thema annäherten, jedoch gemeinsam haben, dass sie sich einer weitaus realistischeren Schreibweise bedienen.

Eine besondere Rolle nahmen mit Beginn des 21. Jahrhunderts nun Romane ein, die aus der Perspektive von mittlerweile erwachsenen Kindern von Verschwundenen geschrieben wurden, die sich auf der Suche nach ihrer Identität befinden, so etwa Félix Bruzzones meisterhafter Roman „Los topos“ aus dem Jahr 2008 oder Laura Alcobas zunächst in französischer Sprache verfasster Roman „Manèges. Petit histoire argentine“ (deutsch: „Das Kaninchenhaus“). Bruzzone teilt das Schicksal hunderter Kinder von Verschwundenen: Er wurde nach dem Verschwinden seiner Eltern von seinen Großeltern großgezogen und reflektiert die Jahre der Diktatur somit aus einer zeitgenössischen, gleichzeitig subjektiven wie auch distanzierten Perspektive. An seinem Beispiel zeigt sich jedoch auch die Rezeptionsproblematik in Deutschland: Während im Zuge der Frankfurter Buchmesse 2010 seine deutlich schwächere Sammlung von Kurzgeschichten „76“ übersetzt und sogar im selben Jahr mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, scheint eine Übertragung des vielschichtigen und komplexen „Los topos“ nicht geplant. Wie im Falle zahlreicher anderer Autoren scheinen deutsche Verlage für die Buchmesse die damals gegenwärtige argentinische Literaturszene recht willkürlich abgegrast und undifferenziert Übersetzungen auf den Markt geworfen zu haben.

Die unkonventionelle Geschichte in „Los topos“ kreist um den Sohn verschwundener Eltern, der unter Bindungsangst und mangelndem Selbstwertgefühl leidet und von einer Großmutter großgezogen wurde, die fest an die Existenz eines entführten Geschwisterkindes des Protagonisten glaubt. Nach dem Tod der Großmutter wird der Protagonist von seiner Freundin verlassen und verliebt sich in einen Transvestiten (in dem er seine ‚verlorene‘ Schwester sieht). Die beiden ziehen ins argentinische Hinterland, um für einen Mann namens ‚El Alemán‘ zu arbeiten, der sich als Transvestitenmörder herausstellt. Der Protagonist, mittlerweile auch Transvestit, wird im letzten Teil des Romans von El Alemán entführt, wochenlang gefangen gehalten und gefoltert und fühlt sich trotzdem endlich als Teil einer Familie.

In den letzten Jahren ist zudem eine starke Tendenz zu Romanen feststellbar, die sich mit dem Schicksal der militanten Linken vor und während der Diktatur beschäftigen, und zwar weniger, wie in Prosatexten zuvor, indem sie diese in einer reinen Opferrolle – als Verschwundene, Gefolterte, beziehungsweise deren Kinder als illegal adoptierte oder Waisen – sehen, sondern die Geschichte des bewaffneten Aufstands teils äußerst kritisch thematisieren. Was einige Jahre zuvor noch ein Tabubruch gewesen wäre, spiegelt vielmehr einen sich entwickelnden gesellschaftlichen Diskurs wider, in dem die Frage nach Opfer und Täter wenn nicht relativiert, so doch diskutiert wird. Während in den 80er-Jahren noch die Frage der verletzten Menschenrechte im Mittelpunkt stand, die es gewissermaßen verbot, Opfern eine gewisse politische Verantwortung für die Gesamtsituation aufzubürden, so änderte sich diese Sichtweise in den 90er-Jahren, indem man das Augenmerk auf die Rolle der militanten Gruppierungen richtete, die tatsächlich an einer gewaltsamen Auseinandersetzung teilhatten, was sich nun auch verstärkt in der Literatur niederschlug.

Herauszuheben ist in diesem Zusammenhang – neben Kohans „Museo de la revolución“ (2006), Laura Alcobas bereits erwähntem Roman „Manèges. Petit histoire argentine“ oder Alan Pauls auch international erfolgreichem Werk „Historia del llanto“ (2007, deutsch: „Geschichte der Tränen“) – vor allem Martin Caparrós 2008 erschienener Roman „A quién corresponda“ (deutsch: „Wir haben uns geirrt“). In diesem sinniert ein ehemals militanter Regimegegner, dessen Frau seinerzeit verschwunden ist, über die Vergangenheit und empfindet am Ende seines Lebens große Schuldgefühle ob seiner aktiven Rolle im bewaffneten Widerstand. Besonders erschütternd ist jedoch die im Roman dargestellte Haltung jüngerer Menschen, die den ehemals Militanten Selbstgerechtigkeit und Egoismus vorwerfen. Wie der deutsche Titel ausdrückt, überfallen den Protagonisten verstärkt Selbstzweifel, und er kommt mehrmals zu dem Schluss: Wir haben uns geirrt.

Alcoba ist in ihrem kurzen, recht sentimentalen autobiografischen Roman weniger kritisch. Aus der Perspektive eines Kindes wird geschildert, wie das Leben als Kind militanter Eltern in den Jahren der Diktatur ausgesehen hat: Ein angsterfülltes Leben unter einer falschen Identität, das dennoch nach außen stets den Anschein von Normalität erfüllen muss. Auch Marcelo Figueras 2000 erschienener Roman „Kamtschatka“ (2003, deutsch.: „Kamtschatka“) ist aus der Perspektive eines Kindes militanter Eltern erzählt. Bereits zu Beginn dieses sentimentalen, traurigen Buches weiß man, dass die Eltern des Jungen am Ende des Berichts verschwinden werden. Anders als bei Caparrós oder in Ansätzen auch bei Alcoba schwingt in diesem früheren Roman über die militante Linke jedoch keine Kritik am Verhalten der Eltern mit – was auch die bereits erwähnte Entwicklung des gesellschaftlichen Diskurses unterstreicht.

Zwei recht aktuelle Beispiele argentinischer literarischer Vergangenheitsbewältigung stellen Patricio Prons Roman „El espíritu de mis padres sigue subiendo en la lluvia“ (2012, dt.: „Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf“) sowie Carlos Busqueds „Bajo este sol tremendo“ (2009, deutsch: „Unter dieser furchterregenden Sonne“) dar.

Pron, der in Göttingen studiert und promoviert hat, erzählt in seinem autobiografischen Roman die Geschichte seiner Heimkehr nach jahrelangem, selbst erwählten Exil in Deutschland. Anlass ist eine vermeintlich tödliche Krankheit seines Vaters. Während der Erzähler auf dessen Tod wartet, stößt er auf eine Sammlung von Zeitungsartikeln, die von einem verschwundenen alten, geisteskranken Mann im Heimatdorf des Vaters handeln. Die Besessenheit, mit der sein Vater diese im Grunde belanglose Geschichte verfolgt hat, führt den Erzähler immer mehr zur Reflexion über die eigene Vergangenheit, die Vergangenheit seiner Eltern – nicht-militante Peronisten, die während der Diktatur Glück hatten, nicht zu verschwinden – und wie sein Unverständnis über den inneren Kampf seiner Eltern während jener schweren Zeit ihn selbst vom Leben entfremdet hat. Das ganze Buch handelt von der Macht der Erinnerung, und wie dem Erzähler nach jahrelangem Medikamentenmissbrauch diese abhanden zu kommen schien. Prons Roman visualisiert die Erinnerungsschwächen des Erzählers anhand von zahlreichen fehlenden Kapiteln, die Lücken im Roman bilden, die der Leser nicht zu füllen imstande ist. Und doch endet der Roman versöhnlich: Der Vater überlebt, und in einem Nachwort bemerkt der Autor Pron noch, dass sein Vater das Buch sogar redigiert hat.

Anders der Roman von Carlos Busqued: „Unter einer furchterregenden Sonne“ spielt in der nordargentinischen Provinz des Chaco, ein Ödland, bevölkert von prähistorisch anmutenden Rieseninsekten. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive zweier stets bekiffter junger Männer, die in die Fänge einer mephistophelischen Figur namens Duarte geraten. Dieser Duarte entführt und foltert Menschen, um diese gegen ein Lösegeld wieder frei zu lassen. Die Perspektive der beiden Protagonisten, von deren Erlebnissen mit Duarte alternierend erzählt wird, ist aufgrund von deren Drogenkonsum so vernebelt, dass der Leser sich selbst die wahre Dimension des Erzählten zusammenreimen muss. In mehreren Situationen, die von den Protagonisten jedoch niemals richtig wahrgenommen werden, spielt Busqued auf Duartes Vergangenheit als Folterer des Militärregimes an, der seine Tätigkeit in Zeiten der Demokratie einfach auf den Privatsektor verlegt hat. Geschickt gelingt es dem Autor, den ‚Evolutionsprozess‘ des Grauens an Duarte zu exemplifizieren, etwa, wenn er diesen seitenlang über den Vorteil der Digitalisierung seiner Folterporno-Sammlung auf VHS-Bändern monologisieren lässt. Der Schrecken, so scheint uns Busqued mitteilen zu wollen, ist mit der Demokratie nicht verschwunden, da das Böse im Menschen selbst wohnt und ein repressives politisches System nur eine Möglichkeit bietet, diese Triebe ungestraft auszuleben. Und doch ist der an die Filme der Coen-Brüder erinnernde Roman aufgrund seiner plakativen, direkten Sprache, seinen bewusst schockierenden Szenen und der zwar grausamen, aber aufgrund der geistigen Debilität der Protagonisten auch immer schwarzhumorigen Darstellung der Ereignisse sehr umstritten.

Jedenfalls scheinen die beiden hier kurz skizzierten Romane für eine neue Wende im Schreiben über die argentinische Vergangenheit zu stehen. Die Autoren sehen die übergroßen Schatten der Vergangenheit und wie sie auf die argentinische Jugend von heute fällt. Sie sehen, wie eine nicht ausreichende Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit die Gefahr von kaum lösbaren familiären Konflikten (Pron) oder einer Ohnmacht gegenüber ihrer Allgegenwart (Busqued) in sich trägt. Und dass diese Auseinandersetzung erst am Anfang steht, zeigt nicht zuletzt der jüngst erschienene, bereits ausgezeichnete neue Roman von Martín Caparrós, „Los Living“, der diese nun generationenübergreifende Problematik ein weiteres Mal aufgreift.

[1] Escuela de Mecánica de la Armada, eine berüchtigte Marine-Ausbildungsstätte, die während der Diktatur als Geheimgefängnis gedient hat.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz