Von Dada zur Catholica

Bernd Wacker legt eine grandiose Edition von Hugo Balls Triptychon „Byzantinisches Christentum“ vor

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann es wohl kaum besser sagen als Michael Braun in dem von ihm anlässlich des 125. Geburtstages Hugo Balls herausgegebenen und jüngst im Wunderhorn-Verlag erschienenen Aufsatzband: „Hugo Ball war sein Leben lang ästhetisch wie politisch ein Konvertit und vor stereotypen Zuschreibungen auf der Flucht. Seine Verwandlungsfähigkeit war immens: Ball war – in rascher Folge – Theatermacher, Dadaist, Anarchist, radikaldemokratischer Publizist, Mystiker und tiefgläubiger Katholik – und immer, wenn man ihn auf einer festen Position wähnte, hatte er sie auch schon wieder geräumt. Mit seinen radikalen Kehrtwenden hat er Freunde wie Feinde provoziert. Seine Performances auf kleinen Künstlerbühnen in Zürich haben ihm seine berühmteste Rolle eingetragen – hier trat er 1916/1917 als Pionier des Dadaismus auf und lieferte einem nach Sensationen hungernden Publikum so manch staunenswertes oratorisches Meisterstück. Es gehört zu den tragischen Aspekten dieses Dichterlebens, dass man Ball fast ausschließlich in dieser Pose des dadaistischen Schamanen wahrgenommen hat, obwohl Dada-Zürich in seinem Leben eine Episode blieb, die nach wenigen Monaten beendet war.“

Die Nazis ignorierten diesen nicht vereinnahmbaren Mann. Nach 1945 kam es dann zu einer partiellen Wiederentdeckung (so erschien Balls Hermann-Hesse-Biografie neu); und das fortschrittlich-kritische Bewusstsein der 1960/70er-Jahre, das allgemein die Avantgarden des Jahrhunderts revitalisierte, deckte seinen Negierungsbedarf gern mit dem vermeintlichen Nonsens der während des Ersten Weltkriegs im Züricher Cabaret Voltaire entstandenen Lautgedichte. Hoch im Kurs standen also etwa die „Karawane“ oder auch „GADJI BERI BIMBA“, das so anhebt:

„gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori
gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini
gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim
gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban
o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo
gadjama rhinozerossola hopsamen […]“.

Am 14.9.1927 starb Hugo Ball im Tessin. In ihren Erinnerungen „Hugo Balls Weg zu Gott“ schrieb seine Witwe Emmy Hennings-Ball 1931 über die letzten Tage: „Die Ärzte, wir konnten sie nicht genug herbeirufen, erwarteten stündlich das Ende. Ich hatte geweihtes Wasser von Lourdes kommen lassen, und als er Atemnot bekam, brauchte er sich nur zu bekreuzigen und ein wenig Wasser an sein Herz legen, um sogleich Linderung zu empfinden. Ich muß sagen, er war auch von diesen äußeren Dingen abhängig und trug in kindlichem Glauben an die Wunder- und Heilkraft, wohl auch als Zeichen seiner Verehrung, stets ein kleines Amulett am Hals, das die Unbefleckte Empfängnis und die selige Bernadette darstellte. So bedurfte dieser starke geistige Mensch, der sich mit den ernstesten und tiefsten Fragen des Lebens beschäftigte, bis zum letzten Augenblick gleichzeitig der allerrührendsten frommen Hilfsmittel. Sein Rosenkränzlein wollte er in den letzten Tagen kaum mehr aus den Händen lassen.“

Michael Braun weist in der obengenanten Publikation aus dem Wunderhorn-Verlag das Vorhandensein katholischer Motive bereits in frühen, von der Nietzsche-Losung „Gott ist tot“ durchdrungenen Schriften Balls nach und vermerkt, dass speziell die Figur der Gottesmutter Maria ebenfalls schon vor Balls Reversion in die Catholica Spuren im Werk hinterlassen hatte.

1919 bekannte er in einem Brief: „Franz Blei schrieb mir neulich: ‚Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche!’ Das beschäftigt mich sehr. […] Mehr und mehr aber leitet mich die Überzeugung: Wo kein Sakrament existiert, ist keine Empörung möglich.“

Ebenfalls aus diesem ersten Nachkriegsjahr stammt das Credo, das Hugo Ball in seiner antiprotestantischen, antimilitaristischen, antikapitalistischen, antinationalistischen und antietatistischen Kampfschrift „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ sprach: „Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica der befreiten Welt. Wir glauben an die küssende Verbrüderung von Mensch, Tier und Pflanze; an den Boden, auf dem wir stehen und an die Sonne, die über ihm scheint. Wir glauben an einen unendlichen Jubel der Menschheit.“

Balls formelle Rückkehr in den Schoß der Papstkirche geschah 1922 und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Kirchenaustrittsbewegung der Weimarer Republik auf dem Wellenkamm befand. Die Oberhirtlichkeit (Kirchliches Jahrbuch 13. 1925-26) diagnostizierte einen „tiefen Verfall des Glaubens- und Sittenlebens“; und Hugo Ball errichtete vor den Augen seiner – zumeist höchst erstaunten – Leserschaft ein monumentales Triptychon als sein anthropotheologisches Bekenntnis zur Höhenbestimmung des Menschen: Das „Byzantinische Christentum. Drei Heiligenleben“, erschienen 1923 bei Duncker & Humblot. „Es ist das Buch Balls, das bleiben wird“, prophezeite 1927 Friedrich Fuchs, Redakteur bei der Zeitschrift „Hochland“ in seinem Nachruf auf den verstorbenen Autor.

Nicht alle Reaktionen der zeitgenössischen Fachöffentlichkeit waren enthusiastisch zustimmend, wenngleich von verschiedensten Seiten anerkennende Worte kamen. Einige Rezensenten bemängelten fehlende Wissenschaftlichkeit des Laientheologen; andere zollten gerade der Tatsache Hochachtung, dass die ohne akademischen Rückhalt publizierte Schrift soviel Gelehrsamkeit bewies. Vielfach wurde die eruptive Sprachmächtigkeit Balls gepriesen, und ein Rezensent vermutete den Verfasser gar in der Nähe des George-Kreises. Freimütig räumte in seiner Buchbesprechung der Kirchenhistoriker Edgar Hennecke ein, „daß es auch dem theologischen Leser schwer fällt, sich durch das Gedankengestrüpp hindurchzufinden“.

Nun befindet sich der heutige Leser in der privilegierten Situation, dieses schwierige, exzentrische Werk in einer vortrefflichen Edition studieren zu können. Denn der umfängliche Kommentar und das hochinstruktive Nachwort des Herausgebers Bernd Wacker (Leiter der Karl-Rahner-Akademie in Köln) führen auch den Nichfachmann sicher und verlässlich zu Balls „Byzantinischem Christentum“ hin. Wackers Erläuterungen, die von den großen Zusammenhängen bis zu kleinen Details reichen, leisten eine wahrhaft unerlässliche, nicht zu überschätzende Hilfe beim Textverstehen.

Dennoch ist der Weg nicht eben leicht. Hinweise zur gegenwärtigen Rezeption des „Byzantinischen Christentums“ gibt Wackers Literaturverzeichnis reichlich. Nicht nur begegnet hier eine Reihe einschlägiger Titel aus dem „Hugo-Ball-Almanach“, der seit 1977 von Balls Geburtsstadt Pirmasens herausgegeben wird (seit 2010 als „Neue Folge“ im Verlag edition text + kritik), sondern man trifft auch sonst auf prominente Namen wie etwa den des Dortmunder Dogmatikers und Befürworters eines marianisch inspirierten Antikapitalismus Thomas Ruster oder den Peter Sloterdijks.

Letzterer („Du mußt dein Leben ändern“) zitiert eine Passage aus dem zu Balls Lebzeiten unveröffentlichten Vorwort-Fragment zur Bekräftigung seiner These der „Athletismusverschiebung von den [antiken] Arenen in die [christlichen] Klöster“. Ball hatte nämlich proklamiert: „Dem in Deutschland wiedergeborenen heidnischen Heldenbegriff einer tiefen Vergangenheit stelle ich sehr bewusst eine Heiligenlehre gegenüber, deren Heroismus, so hoffe ich, dem Naturheroismus überlegen ist und auch als überlegen erkannt werden mag. Gilt dieses heilige Heldentum doch der Moral, dem Geiste, den göttlichen Dingen.“

Drei „Heilige“ sind es, denen Hugo Ball bei der asketisch-mystischen Auffahrt in die Himmelsregionen folgt: im ersten Teil Johannes Klimakus (bei Ball: Joannes Klimax), Abt des Sinaiklosters und (um 640) Verfasser der „Scala Paradisi“ („Paradiesesleiter“, auch „Himmlische Leiter“); im zweiten und bei weitem längsten wie schwierigsten Teil (Pseudo-) Dionysius (Dionysios) Areopagita (nach 500?), insbesondere mit den beiden Schriften über die himmlische und die kirchliche Hierarchie; und im dritten Teil schließlich Symeon Stylites (gestorben 459), dem syrischen Wundermann, der Jahrzehnte lang bis zu seinem Tod stehend auf einer fast 20 Meter hohen Säule verbrachte.

Leitmotivisch sind die Teile durch Bilder und Symbole des Aufstiegs miteinander verwoben. Im Fall der „Klimax“ des Abtes Johannes verhält es sich vergleichsweise einfach: Eine Leiter mit dreißig Stufen erklimmt der Mönch, indem er als „Himmelsstürmer“ allem Fleischlich-Weltlichen entsagt, um, oben angelangt, die wahrhafte Liebe zu finden. Diese Liebe ist – in der Formulierung Hugo Balls – „Glaube, Hoffnung und Paradies zugleich. Engelsflug, der zur Ewigkeit reist.“

Wie bei der Leiter handelt es sich auch bei der Säule um ein Vertikalgebilde von evidenter Höhensymbolik. Zum Säulenheiligen Symeon liest man bei Hugo Ball: „Nachdem er die Tiefe ermessen hat, verlangt es ihn nach der Höhe. […] Symeon steigt auf den Gipfel des Berges, an dessen Fuß seine Hütte lag. […] Wer sich in des Styliten Augen versenkt, vergißt Feindschaft und Haß. Um seinen Berg gelagert, schließen die Völker Bündnisse ab. Er schläft nie, er ißt nie. Er spricht auch nicht viel. Er betet von Sonnenuntergang bis zur Non. Dann heilt er Lahme und Taube, Stumme und Blinde. Mit der sinkenden Sonne versinkt auch er wieder, in seine Gebete, nicht in den Schlaf; denn seine Säule, so hoch, daß sie im Sturme schwankt, hat nur drei Ellen im Durchmaß. Er ist der beständige Wachtraum, die Wunderuhr Gottes. Der Erdkreis pilgert zu ihm.“

Selbstverständlich war Hugo Ball nicht so weltfremd, die Mönchskritik nicht zu kennen, die vom spätantiken Heidentum (Libanios: „gefräßige Schwarzröcke und Säufer“) über den aufgeklärten Mediziner und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann („Lumpengesindel“, „heilige Halunken“, „geistliche Schurken“) bis hin zu Karlheinz Deschner („dreckige christliche Asketen“) reicht: „Es ist schwer, von der Keuschheit zu reden, ohne Anlaß zu einem Gelächter zu geben“, heißt es im „Joannes-Klimax“-Teil des „Byzantinischen Christentums“.

Der Mittelteil, der sich mit Dionysius Areopagita befasst, steht im Zeichen der Apologie der „sichtbaren“ Kirche, also der handfesten Catholica, wie sie mitsamt ihrer Tradition, mit ihren Dogmen, Sakramenten, Liturgien, Päpsten, Bischöfen, Generalvikaren, Exorzisten, Dorfpfarrern, Klosterbrüdern und Klosterschwestern vor unseren Augen real existiert: „Der Lobgesang der Hierarchie, ein sich steigernder Hymnus, in den alle Schönheit mündet, entspringt einer tiefen Demut […]. In der Fülle ihrer Symbole teilt die Kirche ein Geheimnis mit, das nur den Engeln in direkter Weise zugänglich ist. Eine unendliche Skala der Höhe türmt und erschließt sich im Überschwange, entsprechend der unausschöpflichen Größe Gottes. Zu diesem Jenseits als der Erlösungsquelle neigt aller menschliche Aufstieg. In diesem Jenseits allein ist die Realität beschlossen. […] Das Mysterium ist beider Hierarchien Gegenstand; das Mysterium aber ist nur dem Gefühle, nicht der Berechnung zugänglich. Die Liebe ist es, die alle Rätsel erschließt. Sie ist es allein.“

Biografisch steht Hugo Balls „Byzantinisches Christentum“ im engsten Zusammenhang mit seiner Rückkehr zur Kirche seiner Kindheit. Im März 1921 notierte er, dass er „mit Früherem völlig breche, und eigentlich eine Konversion schreibe“. Und: „Das Buch ist für mich ein Abenteuer, von dem ich nicht absehe, wohin es mich führt“.

Eine Fügung will es, dass 2011 auch „Das katholische Abenteuer“ des „Spiegel“-Journalisten Matthias Matussek auf den Markt gebracht worden ist, und zwar in Kooperation mit dem „Spiegel“ herausgegeben von DVA. Manches aus dem Korpus dieser „Provokation“ stammt aus dem Bestand älterer Reportagen und Essays; etliche Gedanken wiederholen sich daher.

Auch Matussek ist zur Religion seiner Kindheit zurückgekehrt, reiht sich nun ein in die Gesellschaft der formbewussten Traditionalisten und gibt sich heroisch: „Auf alle Fälle kann man es sicher bequemer haben als Publizist. Es gibt eine sprungbereite Feindseligkeit dem Katholizismus gegenüber aus dem Juste Milieu heraus.“

Er preist die Askese, propagiert nach Sloterdijk’schem Muster den zölibatären Priester als „spirituellen Höchstleistungssportler“, durchreist als Korrespondent die Welt („Schließlich saßen wir in einem Broadway-Café …“), führt geistreiche Gespräche mit Rüdiger Safranski oder Martin Walser und amüsiert sich („Es wurde viel gelacht.“) auf dem Empfang eines Erzbischofs „[b]ei Leberkäs und Buletten“. Danach fährt er „mit einem BMW“ zu den Passionsspielen nach Oberammergau, um sich an der Darstellung der Leiden unseres Herrn zu erbauen; wobei er allerdings den Verlauf der Handlung ein wenig konfundiert und sich dem Rausch von Phrasen hingibt: „Schließlich der Leidensweg, die Kreuzigung: Intime Szenen wie das Abendmahl wechseln mit wuchtigen, großen Theatermomenten wie dem der Kreuzigung, was für eine Aufführung! ‚Was glauben die Leute, wer ich sei?’ Diese Frage, die Jesus den Jüngern stellt, stellt sich auch Christian Stückl. Wir sitzen in einem Café in der Nähe des Schauspielhauses, es ist Pause, Stückl muss gleich hinüber in einen VIP-Bereich – die halbe Deutsche Bischofskonferenz ist angereist.“

Wie bei Hugo Ball begegnet auch die Engelslehre des Pseudo-Areopagiten, den Matussek jedoch in „Pseudo-Dionysos“ umtauft. (Des Autors Geheimnis wird es bleiben, warum er den Titel „Himmlische Hierarchie“ zusätzlich als „Celestial Hierarchy“ angibt.)

Matussek unterlaufen mehrere Inkorrektheiten dieses und noch größeren Kalibers, die in vorgebildeteren Leserkreisen den Eindruck des Parvenühaften erwecken könnten. Verlagsinformationen zufolge ging Matusseks Buch nach zehn Tagen in die vierte Auflage und erreichte schon nach dieser kurzen Zeit höhere Verkaufszahlen, als Balls „Byzantinischem Christentum“ jemals beschieden sein dürften.

Allem Anschein nach spekuliert Matussek auf ein breiteres Publikum, das sich religionsästhetizistisch von, so der Verfasser „jedem Couch Potato“ distinguieren möchte. Katholische Neo-Elitisierung mit steiler Bügelfalte und Lust auf exklusiven Nervenkitzel: „Natürlich, Freunde, gibt es nichts Spannenderes heutzutage als Gestrigkeit, nicht [sic] Avantgardehafteres als das Bestehen auf Form und Ritus, nichts Aufregenderes als Haltung in einer Zeit, in der Mode-Bekenntnisse im Drei-Sekunden-Takt ausgetauscht werden.“ Es passt dann ins Gegenbild, wenn der Autor „die Kunstfigur Cindy aus Marzahn in ihrem pinkfarbenen Schluffianzug“ als Symbolfigur („Totemtier“) der „Trägheit des Herzens“ herumsitzen lässt; und das ausgerechnet in dem Kapitel über Sünden, das sich aus einer älteren „Spiegel“-Titelgeschichte bequemst in dieses Buch hineingeschlichen hat.

Matussek lässt niemanden im Unklaren: „Die Charismatiker vom Prenzlauer Berg“ sind dem Nobelgläubigen lieber als „die in Marzahn“. Trotzdem verkündet er unverdrossen: „Sozialpolitisch sind Katholiken links.“ – Ein katholisches Abenteuer eben, eine Provokation.

Im Zusammenhang eines „Essens“ bei einem Empfang „im Casino des Springer-Hochhauses“ findet Matussek allerdings eine Wendung, die dem Leser wirklich ans Herz geht und an der Authentizität der religiösen Erfahrung nicht zweifeln lässt: „Ich will das Wort Gottes in all der nicht abgenutzten Fremdheit. Ich will die Streckung nach oben, die Anstrengung in ein Geheimnis und ein Glück, das ich womöglich nicht ganz verstehen kann, sondern nur ahnen.“ Trifft sich das nicht in wunderbarer Ähnlichkeit mit der oben schon einmal wiedergegebenen Stelle aus Hugo Balls „Byzantinischem Christentum“?: „In der Fülle ihrer Symbole teilt die Kirche ein Geheimnis mit, das nur den Engeln in direkter Weise zugänglich ist. Eine unendliche Skala der Höhe türmt und erschließt sich im Überschwange, entsprechend der unausschöpflichen Größe Gottes. Zu diesem Jenseits als der Erlösungsquelle neigt aller menschliche Aufstieg.“

Immer dann scheint ein solcher Drang in die Himmelshöhen zu erstarken, wenn uns die gesamtkulturelle Gravitation besonders kräftig zu Boden drückt. 1919, in dem Jahr, in dem Hugo Ball zur Kirche zurückfand, erschien die Schrift „Die Stadtkrone“ des Architekten Bruno Taut. Eine gänzlich neue – visionär-sozialistische – Kultur sollte sich aus den Trümmern der Kriegsverwüstungen erheben. Städtebaulich sollte sich dieser Plan in einer kreisförmigen Anlage verwirklichen, die von dem gemeinschaftlich genutzten Zentrum, der „Stadtkrone“, welche ihrerseits wiederum ein „Kristallhaus“ trägt, überragt wird. Taut erkannte nämlich in den geselligen und kulturellen Aktivitäten seiner Zeitgenossen den „Schrei der Seele nach dem Höheren, nach Erhebung über das Alltagsdasein“; und sein Plan der Stadtkrone wollte also „in konkreter Fassung die zur Höhe drängenden Tendenzen verdeutlichen“. Bemerkenswerterweise kommt allerdings der Turm von Babel in Tauts Aufsatz nicht vor.

Bruno Taut und die von ihm initiierte Architekten-Künstlergemeinschaft „Die Gläserne Kette“ nahmen in der Darmstädter Ausstellung „Gesamtkunstwerk Expressionismus“ (2010/11) einen angemessenen, respektablen Raum ein. Doch zumal sie den Expressionismus erstmals als „Gesamtkunstwerk“ präsentieren wollte, ist es vielleicht etwas schade, dass der von Ralf Beil und Claudia Dillmann herausgegebene Katalog zwar den frühen, vor-dadaistischen und dadaistischen Hugo Ball aufnimmt, aber die – gewiss Gesamtkunstwerk-tauglichen – Hervorbringungen des katholischen Ball unberücksichtigt lässt.

Nichtsdestoweniger: Der Katalog, der nicht zuletzt wegen seiner großzügigen und aufwendigen Bebilderung gefällt, ist in vorzüglicher Weise geeignet, diejenige (kunst-/ kultur-) historische Situation zu dokumentieren und sinnfällig zu illustrieren, in der das Ballsche Œuvre – von den uns vertrauteren Anfängen bis hin zum uns weniger vertrauten Spätwerk – seine Entstehungs- und Wirkungsbedingungen hatte. Die Charakteristiken der Metropolen und des Großstadtlebens im ersten Viertel des Jahrhunderts gleichen frappant der Schilderung des spätantiken Ägypten mit der Hauptstadt Alexandria, aus dem die asketischen Gottsucher damals in die Wüste flohen, im „Byzantinischen Christentum“: „Ägypten: das ist der Bereich der Dämonen. Ägypten: das sind die Fleischtöpfe Pharaos. Die Ziegelfabriken der Nützlichkeit. Flucht aus Ägypten: das ist die Flucht aus dem Schiefen und Halben. […] Ägypten: das ist auch die Geisterverwirrung, die von der koketten Verwesung kommt; der Fasching der Mumien und der Schablonen.“

Da die Darmstädter Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filmmuseum, Frankfurt am Main stattfand, war der cineastische Expressionismus – speziell mit allerlei Referenzen zu Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1919/20) – mächtig präsent. Der Intermedialität des Projekts Expressionismus gilt der Beitrag des Marburger Literaturwissenschaftlers Thomas Anz mit dem Titel „Die Seele zum Vibrieren bringen! Konzepte des Gesamtkunstwerks in der Zeit des Expressionismus“. Anz erinnert an das vor-dadaistische Wirken Balls: 1914 „versuchte Hugo Ball das Münchner Künstlertheater mit Hilfe von Malern und Komponisten wie Marc, Kandinsky, Klee und Schönberg radikal zugunsten einer dramatischen Vitalität umzubauen, die sich ‚zugleich in Tanz, Farbe, Mimus, Musik und Wort’ entladen konnte.“

Zum Schluss sei anlässlich des Hugo-Ball-Jubiläumsjahrs auf das Engagement der Stadt Pirmasens verwiesen. Wie der Leiter der dort beheimateten Hugo-Ball-Sammlung und Geschäftsführer der Hugo-Ball-Gesellschaft, Eckhard Faul, in seinem Text „Hugo Ball und die Pfalz“ (im oben genannten Band aus dem Wunderhorn-Verlag) mitteilt, „genießt Hugo Ball in der Pirmasenser Bevölkerung heute zweifellos ein höheres Ansehen als noch vor zwanzig, dreißig Jahren“.

Seit 1990 verleiht Balls Geburtsstadt alle drei Jahre den Hugo-Ball-Preis. Schriftsteller wie Oskar Pastior, Cees Nooteboom oder Robert Menasse finden sich unter den Preisträgern, zu denen auch der Verleger Klaus Wagenbach zählt. Dieses Jahr wurde Andreas Maier ausgezeichnet, und den Förderpreis erhielt der Lyriker Ulrich Koch mit der Begründung: „Sein stiller, aber verstörender poetischer Existenzialismus zeigt, was geschieht, wenn sich plötzlich ein Riss auftut in der Welt und der Abgrund sichtbar wird, in dem uns die Aufklärung zurückgelassen hat.“

Zu rühmen ist die Hugo-Ball-Gesellschaft in ihrer Funktion als Herausgeberin der Gesamtausgabe der Werke und Briefe, als deren siebter Band das hier besprochene „Byzantinische Christentum“ soeben erschienen ist. Der Wallstein Verlag, bei dem die Edition (bisher sieben Bände) in fraglos guten Händen liegt, kündigt für Oktober 2011 Band 3: „Die Flucht aus der Zeit“, an: als „eines der großen aphoristischen Gedankenbücher der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“.

Titelbild

Ralf Beil / Claudia Dillmann (Hg.): Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010.
512 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783775727129

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Hugo Ball Almanach. Neue Folge 1. 2009/2010.
edition text & kritik, München 2010.
184 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160429

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Hugo Ball: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben.
Herausgegeben und kommentiert von Bernd Wacker.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
588 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783892447795

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Matthias Matussek: Das katholische Abenteuer. Eine Provokation.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
358 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045140

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Michael Braun (Hg.): Hugo Ball - der magische Bischof der Avantgarde.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2011.
148 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783884233641

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Hugo Ball Almanach. Neue Folge 2. 2011.
edition text & kritik, München 2011.
213 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783869161105

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