Figur des Dritten

Ein Sammelband untersucht die Transformationen der transmedialen Chor-Figuren von der Antike bis zur Gegenwart

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wort „Tragödie“ setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern trágos (Ziegenbock) und ōdé (Gesang) zusammen. Die Wortstämme lassen den kultischen Ursprung der Gattung erkennen und deuten darauf hin, dass sich die Tragödie aus prozessionsartigen, chorischen Gesängen entwickelte, bei denen Tänzer (orchéstai) in Ziegenbock-Kostümen auftraten. Diese auf Walter Burkert zurückgehende Deutung der Wortetymologie versteht Tragödie als „Gesang anläßlich eines Bockopfers“, das von tragōdoí, einer Gruppe von maskierten Sängern, dargebracht wurde; sie sieht den Ursprung der Tragödie in Opferriten für den Gott Dionysos, auf die einzelne Relikte (Maske, Klage, Aulos als Begleitinstrument, Chor), die inhaltlichen Schwerpunkte vieler erhaltener Tragödien und nicht zuletzt die Nähe zum dionysischen Kultlied des Dithyrambos verweisen, einem mit Tanz zu Musikbegleitung von einer Gruppe vorgetragenen, überschwänglich-rauschhaften Gesang in stilistischer Kühnheit und weitgehend metrischer Freiheit.

Im attischen Drama hat sich der Chor (chorós), die älteste Instanz des attischen Theaters, die Merkmale seiner kultischen Herkunft bewahrt: den Gesang in besonderen lyrischen Versmaßen, die der Art der Musik und der Tanzschritte entsprechen, sowie das Auftreten auf der Orchestra, einem eigenen Spielort vor der Bühne, auf der die Handlung gestaltet wird. Es ist schwer zu ermitteln, wie sich der aus 12 bis 15 Personen bestehende Chor aufgestellt hat, vermutlich jedoch nicht im Kreis oder im Halbkreis, wie es modernem Empfinden entsprechen würde.

Aus der ursprünglich überwiegend kultischen Funktion des Chors ergibt sich, dass die Chorlieder in den Tragödien nicht immer eng mit der dramatischen Handlung verbunden sind, sondern oft in verallgemeinernder Form von Menschen und Göttern handeln sowie als Sprachrohr des Tragödiendichters fungieren. Seiner spezifischen Position zwischen Publikum und Bühne entsprechend, verkörpert der Chor einerseits die „Position einer untragischen Normalität“ (Martin Hose) und konstituiert andererseits durch seinen bestimmten Charakter (‚die Alten‘, ‚die Frauen‘, ‚die Bürgerschaft‘ et cetera einer Polis) und durch seine emotionalen Reaktionen die Perspektive auf die Handlung. Damit entspricht der Chor als ‚Figur des Dritten‘ der Deutung der platonischen chōra durch den französischen Philosophen Jacques Derrida: ein letztlich unmarkierter Ort zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen, zudem weder ausschließlich Stimme des Dichters noch Repräsentant des Publikums, aber schon immer eine dramatische und theatrale Figur, die zwischen den Kontexten und Räumen changiert, eine Figur zwischen Statik (das Handlungsgeschehen reflektierend und kommentierend) und Dynamik (chorische Formationen als Bühnen-Figuren der Bewegung, deren Choreographie sich einem auf Binarität angelegten Kommunikationsverhältnis – Rede/Gegenrede, Auftritt/Abgang – entzieht).

Der Chor zeichnet sich durch seine mehrfache Präsenz aus: als repräsentative Gruppe von Bürgern der Polis, als szenische Figur und als Rhythmus-Körper. In der Regel ist der Chor als kollektive Figur Zu-Hörer und Mit-Sprecher auf der skené, dem eigentlichen Spielort, somit im Geschehen präsent, Worte hörend, in Gespräche eingreifend, stellvertretend für die Zuschauer Fragen formulierend, Kritik äußernd, mahnend, lobend, aber niemals Handlung aktiv bestimmend. Der Chorführer (koryphaĩos) tritt oft aus der Gruppe der Chorsprecher heraus und wird zu einem unmittelbaren Dialogpartner der Hauptfigur (hypokritēs, „Antworter“), deren Meinung bestätigend, kritisierend, manchmal warnend, ethisches Fehlverhalten oder schlimmes Schicksal beklagend.

Nach Friedrich Schillers berühmter Formulierung in seiner Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, dem programmatischen Vorwort seines Trauerspiels Die Braut von Messina,

reinigt [der Chor] […] das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert. […] So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung. […] Denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten: es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet.

Zentrales Argument für den Gebrauch des Chors ist für Schiller die Verdoppelung der Theatersituation; er erhält somit eine metareferenzielle Funktion, indem er die Fiktionalität des Bühnengeschehens markiert:

Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer seyn, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.

Dem Chor kommt als „Kunstfigur“ vornehmlich eine Kommentarfunktion zu, die dem Zuschauer die ästhetische Distanznahme gegenüber der affektmächtig dargestellten Handlung ermöglicht.

Der Begriff „Chor“ ist zwar in seinem Kernbestand seit der Antike stabil geblieben (Einheit der Figur ‚Chor‘, kollektives, sentenzhaftes Sprechen, Ungreifbarkeit der Position), hat sich aber ansonsten in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Verwendungskontext verändert und vor allem die Merkmale der kultisch-rituellen Herkunft verloren. Der klassische Philologe Bernhard Zimmermann verweist in seinem grundlegenden Beitrag für den von Julia Bodenburg, Katharina Grabbe und Nicole Haitzinger herausgegebenen Band Chor-Figuren auf die ‘Janusköpfigkeit‘ des antiken Chors aus dem Zusammenspiel zweier Kommunikationssysteme: einem literarischen, in dem der Chor als ästhetische Größe auf Figur, Handlung, Sprache und Raum bezogen wird, und einem außerliterarischen, in dem der rituelle Festkontext mit seinen sozial-integrativen und außenpolitischen Funktionen präsent ist. Gleichzeitig sorgt das Ineinander von realen, zeichenhaften, moralischen und theater-ästhetischen Aspekten dafür, im Chor eine überaus faszinierende, weil dynamische und polyfunktionale Transformationsfigur sehen zu können, die im gegenwärtigen Theater wieder Konjunktur hat.

Entsprechend kartieren die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung eine Transformationsgeschichte des Chors in der Neuzeit vom Chor als „idealisiertem Zuschauer“ (August Wilhelm Schlegel) und „sinnlich mächtige[m] Organ[]“ zur Hervorbringung von Poesie (Friedrich Schiller) über den Chor als die „zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters“, gegen die Richard Wagner polemisiert, und als Vision und „Symbol der dionysisch erregten Masse“ (Friedrich Nietzsche) bis zum zertrümmerten, karnevalesken und rauschhaft entgrenzten Chor bei Einar Schleef, Elfriede Jelinek und Claudia Bosse. Deutlich wird an den literatur-, theater-, tanz- und musikwissenschaftlichen Beiträgen des Bandes, dass eine Neubetrachtung der Erscheinungsweisen des Chors als »explizit vielschichtige und polysensitive Figur« (musikalisches Stimmensemble als Klang-Körper, formale Anordnung des chorischen Kollektivs, zeichenhafte und/oder akustische Figur im dramatischen Text, bewegter Körper im Raum, Figuration des Politischen oder als Affektinstanz) eine transmediale und -disziplinäre Zugangsweise erfordert. „Als Ordnungsstruktur und zugleich produktiver und dynamischer Prozess lässt sich der Chor schließlich nur als ein disziplinunspezifisches, nämlich hybrides und ereignisgenerierendes ästhetisches Phänomen verstehen“, dem sich die einzelnen, alphabetisch nach dem Nachnamen der BeiträgerInnen geordnete Beiträge (um das Neben- und Miteinander der Aufsätze zu einer chorischen, „polylogischen, echo-artigen Lektüre“ zu gestalten) aus unterschiedlichen, durchaus auch widerstreitenden Perspektiven annähern.

Immer wieder rekurrieren die einzelnen Beiträge daher auf die aus literatur- und theaterwissenschaftlichem Blickwinkel zentralen, aber weitgehend unterschiedlich bewerteten Fragen, wie das Verhältnis von ‚Chor‘ und ‚Figur‘ zu denken ist (Ulrike Haß), ob „der Chor eine eigenständige, vollwertige, mit Sprache und Raum ausgestattete und damit souverän handlungsfähige dramatische Figur ist“ (Bodenburg/Grabbe/Haitzinger). An der Frage, inwieweit wirkungsästhetische Funktionen des Chors nach antikem Vorbild in eine moderne Tragödie, die sich nach dem Selbstverständnis der Klassik und des Idealismus an der Kategorie der individuellen Schuld oder des dialektisch gefassten Konfliktes abarbeitet, transformiert werden können, hat sich Schillers viel beachtete Auseinandersetzung mit dem Chor in seinem Trauerspiel Die Braut von Messina und dem programmatischen Vorwort Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie abzuarbeiten versucht.

Drei neugermanistische Beiträge des Sammelbandes widmen sich diesen wichtigen Chor-Texten und beleuchten ihn aus unterschiedlichen Perspektiven: Thomas Boyken arbeitet Schillers ambivalente Sicht auf die Chor-Figur heraus und deutet sie einerseits als gattungstheoretische Um-Schrift einer schon in der Antike grundlegend mehrdeutigen Reflexions- und Affektinstanz sowie andererseits als (trauer-)spielerische Möglichkeit, mit unterschiedlichen Funktionspotenzialen des chorischen Sprechens zwischen Besonnenheit und Affektzentrierung zu experimentieren. Carolin Rocks fokussiert den Chor explizit als poetologische Reflexionsfigur, indem sie Johann Georg Sulzers 1771 in seiner kunsttheoretischen Enzyklopädie akzentuierte Überlegung, den nationalen Chorgesang als Strategie der Affektmobilisierung auf dem Schlachtfeld zu situieren und damit den Chor selbst primär dem Bereich des politischen Handelns zuzuordnen, mit Schillers Trauerspiel vergleicht. Lily Tonger-Erk hingegen beleuchtet die spezifische Medialität des Chors zwischen Schrift und Akustik, indem sie die in der Literaturwissenschaft bislang wenig beachtete Frage aufwirft, durch welche textuellen Verfahren das Drama den Chor zu Gehör bringt, wie Stimmlichkeit und akustische Sinnlichkeit im dramatischen Text lesbar werden.

Lenkt man den Blick von der Wahrnehmung des Chors als ambivalente ‚Figur des Dritten‘ um 1800 zum Chor als Figur des Postdramatischen, lassen sich interessante Verbindungslinien entdecken. So prüft Monika Meister in ihrem Beitrag zum Chor im Gegenwartstheater ihre These, dass am Chor eine Krise der Darstellbarkeit ausgehandelt werde – eine Reflexion, die sich übrigens in Ansätzen bereits im 2. Stasimon von Sophokles Oidípous týrannos findet (v. 896: „Wozu sollte ich da noch tanzen im Chor?“): Die vom Chor reflektierte Sinnlosigkeit des Tanzes bedeutet auch das Ins-Leere-Laufen des kultisch-religiösen und theatralen Handelns. Nach Meister ist mit Blick auf Brechts, Schleefs und Jelineks Chöre der Chor die zentrale Figur, an der sich die Ermöglichungsbedingungen von einem souveränen Sprechen und die Depersonalisation des Subjekts zeigen. Hieran knüpft Nikolaus Müller-Schöll an, der in seinem Aufsatz die Chöre Brechts und die Chor-Arbeit Schleefs als De-Figuration des Politischen als wesentliche, dem Chor seit der Antike inhärente Dimension liest.

Auch Momoko Inoue arbeitet die Grenzen von Wahrnehmung und politischer Artikulation des Chors heraus, indem sie Jelineks Auseinandersetzung mit dem Chor in Kein Licht als textuelles Verfahren deutet. Nach Ansicht des Theaterwissenschaftlers Matthias Dreyer, der den Chor nicht als Form, sondern als „Suchbegriff“ betrachtet, verweisen die Chor-Arbeiten des gegenwärtigen Theaters mit Rekurs auf das Konzept der ‚Entwerkung‘ (Maurice Blanchot, Jean-Luc Nancy) auf eine „Arbeit am Kollektiven“, auf Experimente mit Formen von Gemeinschaftlichkeit, die sich jeglichem Anspruch auf Repräsentation und Identität verweigerten.

Deutlich wird in allen sehr sachkundigen und lesenswerten Beiträgen literatur-, theater-, tanz- und musikwissenschaftlicher Provenienz dieses ausgesprochen verdienstvollen Sammelbandes das historische und konzeptuelle ‚Dazwischen‘ des Chors als einer ‚Figur des Dritten‘, die die binär organisierte abendländische Episteme als Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit unterwandert, im Theater-Spiel Grenzen der Repräsentation reflektiert und das souveräne Sprechen und die Personalisierung des Subjekts aufhebt. Diese Publikation ist angesichts seiner vielfältigen Anregungen zum Weiterdenken und Weiterforschen an den Chor-Figuren ein im erfreulichsten Sinne des Wortes unabgeschlossenes Gebilde.

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Julia Bodenburg / Katharina Grabbe / Nicole Haitzinger (Hg.): Chor-Figuren. Transdisziplinäre Beiträge.
Rombach Verlag, Freiburg 2016.
262 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783793098379

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