Traumgesichter

Botho Strauß präsentiert in Höhlenbildern Skizzen seiner Entwicklung, das Theatrum Mundi und die gegenwärtige Welt

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn liefert Botho Strauß eine genaue Definition der Überschrift des Buches und seiner vier Kapitel: Oniritti werden von ihm als „Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht“ bezeichnet. Schon diese Definition, die von der formalen Gestaltung her als Begriffserklärung den Eindruck von Präzision vermittelt, erschließt sich semantisch nicht, weil es keine ‚realen‘ Bezugspunkte gibt. Es sind Traumgesichter, Traumbilder, die hier besprochen werden. Deswegen ist die Struktur, die genaue Erklärungen vermuten lässt, irreführend. Die Höhlenbilder, die gezeigt werden, führen in die Zonen des Menschseins, die nicht mehr genau umrissen werden können.

Es werden verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu den Höhlen- oder Traumbildern aufgezeigt: Höhleneingänge in das Reich der Verstorbenen, in das Reich der Gerechtigkeit oder der Liebe. Die Bewegung geht ins Dunkle, in die Unterwelt; ab und an werden Erläuterungen dazu gegeben, was man unter diesen Höhlenbildern verstehen kann. Einmal sind es „die Idole des einzelnen Menschen.“ Meist bleibt aber die Beschreibung im Dunkeln – Skizzen und Szenen lassen darauf schließen.

Im Buch werden vier Möglichkeiten von Traumgesichtern oder Höhlenbildern thematisiert. Das erste Kapitel trägt den Titel Ipse mihi theatrum, der aus dem Schlussmonolog des Dramas Leichtes Spiel stammt und dort mit „Ich bin mir selbst ein Schauspiel“ übersetzt wird. Der Ich-Erzähler bezieht sich auf den Text einer Figur, die der Autor Strauß erschaffen hat, und erläutert die Bedeutung des Theaters und der Bühne für die eigene Entwicklung: „Bin mir selbst ‚ne volle Bühne…“  Im Einleitungstext vor der ersten Überschrift stellt der Erzähler Bezüge zum Autor Botho Strauß her, indem er das Buch Der junge Mann als seinen eigenen Text bezeichnet. Im Folgenden werden unendlich viele Autoren erwähnt, die zitiert werden, auf die der Erzähler sich bezieht und die einen wesentlichen Einfluss auf den Schreiber beziehungsweise Erzähler haben oder hatten. Wie Traumblasen erscheinen die einzelnen Textpassagen – ohne Ziel und Sinn aneinandergereiht. Etappen von Theatererfahrungen werden geschildert, die aber keinen Zusammenhang ergeben, außer den der genannten Autoren und der Zitate aus dem Mythos, die darauf verweisen, dass aus den ältesten Geschichten der Menschheit geschöpft wird. Immer scheint in den Fetzen der Erzählungen durch, dass die Bedeutung von Mythen und Poesie für den Ich-Erzähler eine Art Rettung darstellen. Ausgerutscht in einer Höhle, „deren Ausgang von einem dichten Wasserfall verhängt war“, befindet er sich in einer aussichtslosen Lage: Es gibt nur die Möglichkeit, weiter in die Tiefe zu stürzen, weil der Verunglückte nicht zur Öffnung gelangen kann. Eine Lösung ergibt sich, indem der Ich-Erzähler sich das Wasser als Nereiden-Mähne vorstellt; an dem Haar der Nymphe, das real wird, kann er sich festhalten und auf den Grund hinablassen. Literatur und Mythos werden so zur Lebensrettung.

Nachdem dieser große erste Teil als die Darstellung der eigenen geistigen Entwicklung des Erzählers in Traumgesichtern gelesen werden kann, folgen die Auseinandersetzungen mit dem anderen Geschlecht in dem Kapitel: Oniritti – Paartrittsiegel fossil. Die Überschrift bringt das Paar zunächst auf die Ebene der Tiere, weil der Begriff „Trittsiegel“ bei der Jagd verwendet wird, um Tierspuren zu bezeichnen. Das Anhängsel „fossil“ deutet darauf hin, dass es kein Paar mehr gibt, weil es mit dem Adjektiv „fossil“ als „urzeitlich“ und „nur noch als Abbild erhalten“ bezeichnet wird. Das Paar oder die Spuren davon erinnern an Zeiten des Glücks. Die Traumgesichter des Glückes verschaffen wiederum die Hölle: „Wenn einem nur für eine Sekunde Glück in allerhöchster Dosierung durchs Blut schoß, so daß man süchtig wird nach Gück, das man sich jedoch nirgends beschaffen kann, dann gehen von dieser Flash-Sekunde Höllenqualen fürs ganze Leben aus.“

Das dritte Kapitel Oniritti Treppauf Treppab zeigt die Gegenwartsgesellschaft, wie sie in unendlichen sinnlosen Kreisen parallel zu der Lithografie „Treppauf Treppab“ von M.C. Escher im Kreis läuft. Auch die Kerker von Piranesi, die auf eine grauenhafte Einsamkeit in der Gefangenschaft hinweisen, werden genannt. Die gesamte Welt befindet sich in einer sinnlosen Endlosschleife.

Das vierte und letzte Kapitel Oniritti Dichte Sätze enthält kurze Aphorismen, deren Sinn sich jedoch nicht immer erschließt. Sie verweisen darauf, dass es eine Art Erlösung durch die Poesie gibt: „Nur das Gedicht hält, was das Leben verspricht.“

Diese Erlösungskraft der Literatur, die Botho Strauß hier heraufbeschwört, ist es, die im gesamten Buch immer wieder durchscheint und thematisiert wird, indem die Autoren, durch die der Erzähler geprägt wurde und auf die er sich bezieht, wieder zum Leben erweckt werden, indem sie durch den gesamten Text als Traumgesichter geistern.

Das Buch stellt die Entwicklung des Künstlers, in dem man häufig Züge von Botho Strauß selbst erkennen kann, dar. Er zeichnet mithilfe von Mythen und durch Bezüge zu anderen Künstlern Höhlenbilder und schafft damit einen Gegenpol zu der Endlosschleife der gegenwärtigen Mediengesellschaft. Die Liebe ist dabei ein verlorengegangenes Bild einer glücklichen Zeit, die man als Antrieb sehen kann, immer auf der Suche nach dem Verlorenen zu bleiben. Erlösung ist letztlich nur in der Kunst –  im Buch Oniritti durch Dichtung – möglich: durch wunderbare Prosastücke, kleine Bilder, eindrückliche Beschreibungen, die wie Kippbilder den Betrachter in die Irre führen oder die Perspektive springen lassen. Die Zusammenstellungen locken den Betrachter, Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten zu ziehen. Obwohl dies ab und an gelingt, bleiben die Höhlenbilder letztlich aber doch rätselhaft und undurchschaubar. Vieles wird wieder auf den Kopf gestellt oder an einen anderen Platz; stehen bei Platon die Höhlenbilder für eine falsche Erkenntnis, sind sie bei Strauß der Weg zu einer Erkenntnis, die auf Bildern, Geschichten und Mythen fußt. Das Buch ist eine Hommage an die westliche Kulturgeschichte, ihre Dichter und ihre Künstler, die tiefere Formen der Erkenntnis in ihren Traum- und Höhlenbildern liefern.

Titelbild

Botho Strauß: Oniritti Höhlenbilder.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
278 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254022

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