Ist das Kunst oder kann das weg?

Etel Adnans Gedichtband „Zeit“ verspricht große Poesie – und präsentiert stattdessen einen Flickenteppich aus Eindrücken, Örtlichkeiten und Absurditäten

Von Morgane HinzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Morgane Hinz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwann einmal galt Lyrik als vielleicht höchste Form von Literatur. Ernstzunehmende Meisterwerke, konstruiert bis in die letzte Silbe, welche die Macht besaßen, Jahrhunderte ungerührt zu überstehen. Ob Goethe, Brentano oder Rilke: Sogar abgedruckt im bereits dreifach gebrauchten Deutschbuch für die Mittelstufe haben ihre Meisterwerke keine Würde einbüßen müssen – bis heute, jedenfalls. Denn im 21. Jahrhundert sind wir längst gewohnt, dass Gedichte nur als Quadrate existieren, gerade groß genug, um sie auf Instagram entziffern zu können. Sie sind im Scrollen zu konsumieren, ob während der Vorlesung über Gryphius, in der Mittagspause oder im überfüllten Bus. Mit einem Fingerdruck kann das Lesehäppchen gleich in der eigenen Story geteilt werden. Diese rasche Aktion agiert nun 24 Stunden lang als digitaler Stempel. Es signalisiert: Ich lese! Ich bin aktiver Rezipient von Literatur!

Aber nein, wird da jemand rufen, wenn auch aus der letzten Reihe. Selbst in Zeiten von Instapoesie gibt es noch große Namen, hervorragende Dichter, die ihr Handwerk verstehen! Doch seien wir ehrlich: Selbst wenn ein dichterischer Epos den deutschen Buchpreis gewinnt, geht dies hinter einer Rupi Kaur (4,5 Millionen Follower, 8 Millionen verkaufte Bücher) so leicht unter, dass es nicht einmal auffällt. (Nichts für ungut, Frau Weber.) Möchte man sich heute also mit qualitätsvoller Lyrik auseinandersetzen, gilt es, findig zu werden. Man greift beispielsweise zu einem Gedichtband, der den simplen Titel Zeit trägt, und der nicht bloß von einer gestandenen Schriftstellerin verfasst, sondern auch noch mehrfach ausgezeichnet wurde. Autorin Etel Adnan wird im Klappentext als eine der „wichtigsten literarischen Stimmen der Welt“ angepriesen. Umso häufiger blickt man nach dem Lesen der ersten Seiten prüfend auf den Einband und fragt sich, ob man tatsächlich das richtige Buch in den Händen hält. Die Antwort: Leider ja.

Dabei mutet die Entstehungsgeschichte von Zeit so verheißungsvoll an: Nachdem Adnan eine Postkarte von dem tunesischen Dichter Khaled Najar erhalten hatte, antwortete sie gleich am nächsten Tag mit einer handschriftlichen Gedichtsequenz. Sechs solcher Sequenzen werden in diesem Band vereint, und Titel wie „27. OKTOBER 2003“ oder „2 UHR NACHMITTAGS“ geben sogar Aufschluss darüber, wann genau jene Momente ihres Lebens in Versen festgehalten wurden. „Poetry of the postcard“ nennt Sarah Riggs dies, die die Gedichte gemeinsam mit Adnan persönlich zunächst vom Französischen ins Englische übertragen hat. Die Themen, die sich diese Postkartenpoesie vornimmt, sind groß und düster: Um Gewalt und Krieg soll es gehen, um Zerstörung und den omnipräsenten Tod. Diese Motive flackern jedoch nur kurz auf, rauschen ebenso vorbei wie wahllos eingestreute Orte. Yosemite Valley, Griechenland, Palermo, Bagdad. „Ich werde reisen, / reglos“, heißt es in der letzten Gedichtsequenz. Genauso fühlt es sich an, dieser Lyrik folgen zu müssen: Es ist ein stagnierendes Reisen, ein statisches Wandeln zwischen Lokalitäten, ohne Erklärung und ohne Ziel. Das Ergebnis? Abgrundtiefe Orientierungslosigkeit und der dringende Wunsch nach schwarzem Kaffee, um über dem nächsten Abschnitt nicht einzuschlafen.

Diese Dynamik hält während des Lesens ganz eigene tragikomische Momente bereit. Denn auf der einen Seite gibt es durchaus bewegende Gipfel, die aus diesem ungeordneten Chaos herausragen und erkennen lassen, aus welchem Quell von Potenzial Adnan hätte schöpfen können, hätte sie ihren Ideen nur mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Doch diese unerwarteten Elemente der Tiefgründigkeit sind rar und verschwinden ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht sind. Es sind stattdessen unfreiwillig komische Stilblüten, die wenigstens kurzzeitig das Bedürfnis nach einer Lesepause vergessen lassen. So tauchen gänzlich unverhofft Verse auf, auf die sogar Instakönigin Rupi Kaur stolz gewesen wäre: „Wir bezeichnen Geschichte als Brunnen, / übersprudelnd von Orgasmen“. Der Kontext: In der vorhergehenden Strophe geht es um die Hölle, unmittelbar danach folgt die Beschreibung eines Schlags auf den Kopf. Eben dies ist sinnbildlich für das Durcheinander, in das Zeit den Leser führt. Arabische Dichter trinken schwarzen Kaffee; ein Steigbügel liegt auf einer Wiese, ein Pferd stolpert; Baumstämme versammeln ihre Verbitterung am Markttag. Nachts ist es kälter als draußen, möchte man da ergänzen. Für Adnan, vollkommen unbeirrt, sind Wahrheiten Warenhäuser: „Du steigst hinauf / du nimmst die Rolltreppe / du kommst nicht mehr zurück“. Beim Lesen wünscht man sich durchaus, in einem solchen Warenhaus gefangen zu sein, nur um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, in welcher Realität Zeilen wie diese Sinn ergeben könnten.

Dieser literarische Flickenteppich aus Widersinnigkeiten erinnert an jene abstrakten Gemälde, die in den exklusivsten Galerien der Welt ausgestellt werden, obwohl sie – seien wir ehrlich –aussehen, als hätte ein fünfjähriges Kind eine Leinwand der Mutter, Kunstpädagogin aus Leidenschaft, wahllos mit Farbe bekleckst. Nicht selten wechseln solche Werke für siebenstellige Beträge den Besitzer. Wie gut, dass ein knapp hundertseitiger Gedichtband deutlich erschwinglicher ist – und einfacher zu entsorgen.

Gerade dann, wenn man Adnans sechs Gedichtsequenzen beendet hat und sich fragt, was man da gerade eigentlich gelesen hat, folgt das Nachwort. Hier erklärt Klaudia Ruschkowski, was es nun eigentlich mit Adnans Lyrik auf sich habe. Als Leser möchte man jubeln, denn vielleicht bringt Ruschkowski Licht ins Dunkel. Aber ihre Ausführungen knüpfen leider bloß an 134 Seiten Gedankenwahn an und krönen somit die Ratlosigkeit. Da ist etwa die Rede von einem von Adnan beschriebenen Zeitstrom, der Epochen ausspuckt und in Seelen eindringt; Ruschkowski – ihres Zeichens übrigens Autorin, Herausgeberin und Kuratorin – beschreibt eine „Osmose, die durch Sprache geschieht“. Diese Sprache, so Ruschkowski weiter, suche ihren Weg ins Universum. Und der Leser? Sucht seinen Weg zurück zu Instagram. Dabei geht es nicht darum, was leichter ist zu rezipieren oder dass die jüngere Generation über keinerlei kulturelle Bildung verfügt. Es ist sehr viel simpler: Nicht jeder Text, der mit Stil und Inhalt glänzen möchte, verfügt über Stil – oder Inhalt. Denn wenn ein Gedichtband wie Adnans Zeit die gehobene Alternative ist zu dem, was man heute in den sozialen Netzwerken schmachvoll zeitgenössische Poesie nennt, ist sie vielleicht gar keine. Zeit schafft es nämlich nur, eine einzige Sache meisterhaft hervorzuheben: Dass nicht alles, was nach tiefgründiger Lyrik aussieht, auch wirklich diesem Titel gerecht werden kann. Gefällt der letzte Post von Amanda Lovelace nicht, wird weiter gescrollt, ohne allzu enttäuscht zu sein, da man ohnehin keinerlei Erwartungen an vier Zeilen auf Instagram knüpft. Im Fall von Etel Adnan jedoch bleibt eine gewichtige Frage offen: Ist das Kunst oder kann das weg?

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Etel Adnan: Zeit.
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski.
Edition Nautilus, Hamburg 2021.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783960542445

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