Lyrik der Leidenschaft

399 Gedichte von Akiko Yosano

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesen Tagen hat eine besondere Botschaft aus der modernen japanischen Literatur die deutschen Leser und Leserinnen erreicht: 399 übersetzte Tanka (Kurzgedichte) der Dichterin Akiko Yosano (1878-1942) mit japanischem Text in einem sehr schön gestalteten Buch des Manesse Verlags. Die Lyrik-Anthologie erschien im Original 1901 als Midaregami (Wirres Haar) und gilt als Pionierwerk einer zeitgemäß erneuerten klassischen Dichtform.

Dokumentation einer Liebe

Wirres Haar ist als poetische Chronologie der Beziehung zwischen der jungen aufstrebenden Lyrikerin Shô Hô (später Akiko Yosano) und dem von ihr nach ersten Begegnungen im August 1900 heftig verehrten Mann, dem Lyriker und Herausgeber Tekkan Yosano (1873-1935), zu sehen. Zugleich bildet die Sammlung verhältnismäßig deutlich eine erotische Emanzipation ab – für ihre Zeit so außergewöhnlich, dass sie auf manches Befremden stieß. Im nationalstaatlich-autoritären, von patriarchalischen Strukturen geprägten Japan der Meiji-Zeit hatten Yosanos Artikulationen positiv besetzter weiblicher Lust Anstoß erregen müssen. Beispielhaft für ihre Diktion sind folgende Gedichte: 

Noch einen Augenblick!
Da euer Land so ferne liegt
Gott dieser Nacht
Geruht          mein Schiffchen zu besteigen:
Meine Schale Lippenrot … (Tanka 49)

Schlaf gut! sagte ich
und verließ sein Zimmer
in der Frühlingsnacht
Da hing sein Gewand – mit seinem Duft
umhüllte ich mich (Tanka 55)

Deine Hand
Auf meinem Nacken – leises Flüstern
Glyzinienmorgen
Ich      ein Mädchen das zurückbleibt
Du      der Wanderer der weiterzieht (Tanka 149)

Yosano hatte bald das Ziel, den noch mit Frau und gerade geborenem Kind gebundenen Tekkan zu erobern – in Konkurrenz zu ihrer ebenfalls als Lyrikerin aktiven Freundin Tomiko Yamakawa (1879-1909). Während Tomiko sich gezwungen sieht, dem Druck ihrer Familie nachzugeben und in eine arrangierte Heirat einzuwilligen, wird in der November-Nummer der Literaturzeitschrift Myôjô, deren Redakteur Tekkan ist, bereits das Erscheinen eines Lyrikbandes von Akiko erwähnt. Tekkans Frau, deren Vater die Bindung an den Dichter ohnehin ablehnt, löst sich im Frühjahr 1901 aus den diffizilen Verhältnissen, verlässt Tôkyô und kehrt in ihre Heimatregion zurück. Im Mai 1901 kündigt die Zeitschrift dann explizit Midaregami an.

Noch nicht eindeutig geklärt bleiben die Verhältnisse zwischen Akiko und Tekkan. Die Beziehung ist etlichen Schwierigkeiten ausgesetzt, wie zum Beispiel einer öffentlichen Schmähung und Rufschädigung Tekkans. Dann endlich, die Dichterin am Ziel ihrer Träume: Am 13. Januar 1902 wird die eheliche Verbindung auf dem Amt bestätigt.

Die Feier des Ich

Die Tanka-Gedichte der Sammlung beschwören die Mächtigkeit der Liebeserfahrung und bedienen sich wiederholt einer religiös gefärbten Metaphorik, wobei das männliche Gegenüber einmal als junger buddhistischer Mönch in Erscheinung tritt, ein anderes Mal, christlich geprägt, als „mein eigener unbekannter Gott“, ein „Gott im dunkelgrauen Gewand“ (Tanka 292) oder ein „Gott des Schlafgemachs“:

Dem Gott des Schlafgemachs
streif ich mein Nachtgewand
über die Schultern
purpurrot schimmert es – Farbe der Liebe
Ich werfe mich nieder … (Tanka 395)

Den jungen Mönch am Fenster
weckt sie aus dem Frühlingsschlummer
Ihr Kimonoärmel
Verfängt sich im Berg von Sutren
bringt ihn zum Einsturz (Tanka 229)

Auffällig oft wird auch die Ich-Figur, das schöne Mädchen in der Blüte seiner Jahre, besungen – meist gerahmt von floralen Bildern, manchmal in Gesellschaft der Freundin:

Nicht die langen Ärmel!…
Es sind ihre schwarzen Haare    die herunterwallen
Sieben Fuß    heißt es
Wer siegt im Wettstreit   Sie?
Oder doch die weißen Glyzinien? (Tanka 101)

Die frühlingshafte
Silhouette meiner zwanzig Jahre
Sehe ich gespiegelt
in Päonien: am Grund der zarten
Rosa Blüten tiefes dunkles Rot (Tanka 134)

Zwei junge Frauen
mit körperlangen Haaren
im blassen Mondschein –
Wie könnt ihr heute Abend
Euch behaupten    weiße Lotusblüten?! (Tanka 176)

Die so heftig ersehnte Ehe mit dem bekannten Literaten brachte für die nur wenige Jahre später durch die Mühsal des Alltags gezeichnete Schönheit viel Anstrengung und Entbehrung in nicht immer stabilen finanziellen Umständen mit sich. Die intensiven Gefühle der frühen leidenschaftlichen Phase sind jedoch in ihrer Lyrik gespeichert. Im Tanka 326 beschwört das Ich der Dichterin für alle Zeiten die Erinnerung:

Schon tausend Jahre
Liegt das gestern hinter uns
So scheint mir
Und doch spür ich deine Hände
noch auf meinen Schultern (Tanka 326)

Lob des Buchs

Die Lektüre von Wirres Haar lohnt sich auf verschiedenen Ebenen, was nicht zuletzt der sorgfältigen Kommentierung zu verdanken ist. Dem Übersetzer Eduard Klopfenstein gelingt es im Anhang des Bandes, in fünf kürzeren Abschnitten das entsprechende Hintergrundwissen aufzubereiten, das für die problemlose Rezeption der Gedichte benötigt wird. Eine „Chronik der Jahre 1895 bis 1901“ dient dazu, die in Akikos Werk aufgerufenen Inhalte nachvollziehen zu können. Die Kurzbiographie der drei Hauptpersonen erhellt die Psychodynamik und Interaktionen der lyrischen Figuren. Anmerkungen zur Textgestaltung geben wichtige Hinweise zum Verständnis von Aufbau und Thematik der in sechs, ihrerseits mit poetischen Titeln (unter anderem „Lotusblütenschiff“, Zwanzigjährige Gemahlin“, „Frühlingsregungen“) versehenen Unterkapitel gegliederten Anthologie.

Besonders interessant dürfte es für Leser und Leserinnen mit Kenntnis des Japanischen sein, die 399 übersetzten Tanka mit den japanischen Originaltexten (mit Umschrift) abgleichen zu können. Diese Möglichkeit mag gelegentlich zum kreativen Widerspruch im Hinblick auf die Übersetzungen einladen.

Während Midaregami als überzeugendes Dokument weiblicher Selbstbehauptung innerhalb einer globalen Kulturgeschichte der Frauenemanzipation weiter zu diskutieren wäre, verdient es zudem Aufmerksamkeit als repräsentative Kunst des Jugendstils und seiner zeitlichen Prägungen (religiöse und pflanzliche Metaphorik) sowie als Baustein einer Geschichte literarisierter Emotionen. Zusammen mit der ebenfalls in der Übersetzung Klopfensteins vorliegenden Essaysammlung Männer und Frauen aus den Jahren 1911-1930 erhält man wertvolle Einblicke in die Denkwelt der Akiko Yosano.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Akiko Yosano: Wirres Haar. Lyrik.
Aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein.
Manesse Verlag, München 2023.
192 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783717525400

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