Requiem für eine Tochter

Gutti Alsens Trauerarbeit um ihre verstorbene Tochter wurde neu herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit gerade einmal 20 Jahren starb die Tochter der heute weithin vergessenen expressionistischen Schriftstellerin Gutti Alsen an einer fiebrigen Infektion. Alles, was die Mutter in ihrer Trauer für die so früh Verstorbene noch tun könne, sei das vorliegende Requiem, das den Untertitel Dies schwarze Leid trägt, zu schreiben, um die Verschiedene „heraufzubeschwören“ aus ihrem „Verschwunden sein“ und ihr „Wesen“ in dem Buch „widerzuspiegeln“. Dies teilt Alsen in dem ergreifenden, ja erschütternden Prolog mit, der mit ausdrucksstarken Bildern und Metaphern brilliert, in denen sie ihre Trauer herausweint.

Zwar wurde der Roman erst ein Jahr nach Alsens eigenem Tod 1929 und somit etliche Jahre nach dem ihrer offenbar um 1923 oder 1924 verstorbenen Tochter veröffentlicht, doch der Wunsch der Autorin, ihr Werk möge die Verstorbene „durch die vielen Jahrzehnte tragen“, die ihr „geraubt sind“, hat sich in gewisser Weise dennoch erfüllt. Denn nun, 90 Jahre später, wurde es vom homunculus Verlag erneut herausgegeben.

Der zweifellos (auto-)biografisch zu lesende Roman ist als Monolog verfasst, mit dem die Mutter zu ihrer verstorbenen Tochter spricht. Beginnend in den Tagen, Wochen oder Monaten nach der Geburt ihres „einzigen Kindes“ fängt er zunächst einzelne Momente aus dessen Leben ein, die sich im Laufe des Romans zu einer zusammenhängenden und fortlaufenden Erzählung verdichten, in deren Verlauf es immer wieder zu tragischen Verlusten kommt, die vor allem die Tochter erleidet. So muss die Heranwachsende etwa den Tod ihres Vaters und den einer Freundin verkraften. Die vermeintlichen Trostworte der Mutter, sie werde andere finden, nachdem sich eine weitere Freundin von ihrer Tochter abwandte, wehrt diese mit den Worten ab, niemand sei zu ersetzen, jeder „einmalig in dieser Welt“.

Bald beginnt die Tochter der Ich-Erzählerin unter dem Eindruck des Tagebuchs von Marie Bashkirtseff selbst zu schreiben und lässt sich von der Mutter deren Besuch im Haus der zuvor Verstorbenen erzählen. Angesichts der Erkenntnis, dass von Bashkirtseffs „außerordentlichem Talent, dem brennenden Durst nach den Weinen des Lebens“ nichts weiter blieb, als „das Leuchten ihres Totenhauses“, schwelgt sie in Untergangsfantasien, die darin gipfeln, „dass niemand mehr ein Lachen habe, wenn ich, ich, die diese ganze herrliche Welt so unsinnig liebt, sie verlassen muss!“

In den Jahren, in denen ihre Tochter zum Backfisch heranwächst, der sich vor ihr zu verschließen scheint, fühlt sich die Ich-Erzählerin zunehmend von ihr entfremdet. Sie verarbeitet dies in einem Roman, der ihr die Tochter „neu gebären“ soll. Allerdings trägt sie Bedenken, ihn zu veröffentlichen, weil sie abwegigerweise befürchtet, das Buch, das von der Selbstaufgabe einer Mutter für ihre beiden missratenen Söhnen handelt, könne zu tiefe Einblicke über ihr eigenes Verhältnis zu ihrer Tochter geben. Daher gibt sie ihr das Manuskript zur Lektüre. Die aber hat keinerlei Bedenken gegen eine Veröffentlichung, da der Roman „nur ein Angstschrei“ sei. Tatsächlich hat Alsen 1922 unter dem Titel Die Mutter einen Roman über das im Requiem beschrieben fatale Mutter-Sohn-Verhältnis veröffentlicht.

Konzentriert sich das vorliegende Requiem auch ganz auf die Mutter-Tochter-Beziehung, so dringen die dramatischen Ereignisse der damaligen Zeit doch immer wieder in die Seiten ein. So fällt ein junger Mann, mit dem die Tochter von Kindertagen an befreundet war, im Ersten Weltkrieg, und die Mutter sendet einen dreifachen „Fluch den Greisen an den grünen Tischen“, „Fluch den Machthabern“, „Fluch den Verblendeten“. Die lange als Heimatdichterin unterschätzte Schriftstellerin Clara Viebig hatte diese dreifache Verfluchung bereits 1917 in ihrem Antikriegsroman Töchter der Hekuba in dem mehrfach wiederholten „Fluch dem Krieg!“ prägnant vereint. 

Alsen dürfte das Buch wohl gekannt haben. Dafür, dass sie sich mit den Romanen Viebigs befasste, spricht zumindest auch, dass sie den Titel von deren zweitem Antikriegsroman Das rote Meer (1920) zitiert, wenn sie einen „mönchischen Jüngling“ für all die „Knechte“ beten lässt, „die sich ins rote Meer des Krieges hetzen lassen“. Zugleich machen solche Intertextualitäten die literarische Bearbeitung des (auto-)biografischen Textes deutlich, die sich sicher auch in einer idealisierenden Überhöhung der Betrauerten niederschlägt.

Gegen Ende streut die Autorin einige „Auszüge“ aus dem Tagebuch der Tochter ein, deren letzter kurz vor ihrem Tod verfasst wurde. Sie sind vermutlich ebenso authentisch und fiktiv wie der Roman als Ganzer, der genauso ergreifend endet wie er beginnt, im Sterbezimmer der Tochter, in dessen „Winkel“ der „düstere Freier“ in den „langen Fiebertage“ der Leidenden stumm und geduldig wartet, während die Mutter eine Verschmelzung mit der Sterbenden fantasiert.

Mit Requiem hat der homunculus Verlag ein Buch neu herausgebracht, dass nicht nur die Tochter der Schriftstellerin wieder aufleben lässt, sondern einem vor allem die viel zu unbekannte literarische Expressionistin Gutti Alsen näherbringt.

Titelbild

Gutti Alsen: Requiem. Dies schwarze Leid.
homunculus Verlag, Erlangen 2019.
161 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783946120339

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