„Alter Witz von gestern“

Carl Friedrich Zelter erzählt seinem Freund Goethe von der Cholera

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Mitte November 1830 erwähnt Carl Friedrich Zelter seinem Freund Goethe gegenüber, mehr nebenbei, zum ersten Mal die Cholera. Es gehörte zu ihrer beider, sich über mehr als drei Jahrzehnte erstreckender Brieffreundschaft, dass Zelter Goethe gelegentlich Neuigkeiten unterschiedlicher Art aus Berlin berichtete. So hielt er es auch, etwas mehr als ein halbes Jahr lang, mit der Cholera. Es sind merkwürdige Mitteilungen, die er Goethe machte, merkwürdig im Ton, aber auch im Inhalt. Das gilt schon für die die erste ausführliche Erwähnung der Seuche am 10. Juni 1831:

Das Hauptthema aller Unterhaltung ist jetzt: Cholera morbus. Kinder und Alte sind angesteckt. Gestern kamen die Knaben aus der Schule an meinem Fenster vorbei. Einer fragte: Was spielen wir denn? – Laß uns Choleramorbus spielen sagte ein Anderer. Das Interesse an der Pohlnischen Insurrektion ist darüber so gar ins Stocken geraten. Sie möchten nur nicht krank sein um sich einander totschlagen zu können.

Von dem aufgeregten Ernst, mit dem Rahel Varnhagen auf die Cholera in Berlin reagierte, ist in Zelters Brief nichts zu spüren, auch nichts von ihrer Nachdenklichkeit. Zelter beginnt seine Mitteilung mit einer kurzen Feststellung über die Seuche, geht dann zu einer Anekdote über und zieht zuletzt eine sentenzartige Schlussfolgerung. Es ist nicht viel, ja auffallend wenig, was er über die Cholera schreibt. Er nennt keine Zahlen, er gibt auch keinen medizinischen Lagebericht. Er erzählt Goethe vor allem eine kleine Geschichte: von den spielenden Kindern vor seinem Fenster. Die Cholera: ein Kinderspiel.

Mit dem folgenden fabula docet ist der ernste Teil der Mitteilung auch schon abgeschlossen. Zelter fügt nur noch ein Wortspiel hinzu, das er gehört hat.

Santé n‘est pas sans T,
                                            } alter Witz von gestern.
Cholera morbus est sans T

Die Cholera: auch ein Material für Witze.

Ende August erwähnt Zelter die Seuche erneut, und das Muster ihrer Darstellung wiederholt sich:

Gestern war ich zu freundschaftlichem Mahle eingeladen; funfzehn ehrenwerte lautre Männer. Ehe man sich zu Tische setzte wurde ausgemacht nicht von der Cholera zu reden. Wir saßen zwei Stunden und keiner wußte was anderes herauszubringen als Verbotenes. Das Essen war auserlesen und die Hausfrau sagte: Meine Herren: wie genießt Ihr denn? Ihr redet ja gegen Euren Willen nur von dem was erst noch kommen soll; ich gestehe daß mir das ewige Leben auch lieber wäre wenn ichs gleich hier haben könnte, da es aber einmal ist wie es ist so laß ich kommen und gehen was nicht da bleiben will.

Zunächst scheint Zelter über die Macht der Seuche sprechen zu wollen, die alle Gedanken beherrscht. Doch dann erzählt er wieder nur eine Anekdote, wieder von ihm selber beglaubigt. Zwar lässt sie indirekt den Ernst der Lage erkennen, aber den hebt er schnell durch die halb scherzhafte Sentenz auf, die er anschließt. Sie ist doppeldeutig, auf den ersten Blick ein Bekenntnis zur Vergänglichkeit – auf den zweiten das Gegenteil: „was nicht da bleiben will“. Damit können auch die Cholera-Toten gemeint sein. Das klingt dann etwas despektierlich, so als wäre es ein Entschluss der Betroffenen gewesen, sich mit der Cholera anzustecken und an ihr zu sterben.

Goethe hat wenig auf Zelters Berichte geantwortet. Das Stichwort Cholera greift er nur einmal auf. Am 4. Oktober erwähnt er, dass er die Lektüre der Gedichte eines Gustav Pizer abgebrochen habe, obwohl der Autor „ein wirkliches Talent zu haben und auch ein guter Mensch zu sein“ scheine: „Aber es war(d) mir im Lesen gleich so armselig zu Mut und ich legte das Büchlein eilig weg, da man sich beim Eindringen der Cholera von allen deprimierenden Unpotenzen strengstens hüten sollte“. Goethes Hygienemaßnahme war: Sich-Abwenden, Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen. So stellte er auch, wie er Zelter am 5. Oktober wissen ließ, das Zeitunglesen ein.

Zelter wird den Wink verstanden haben. Im gewohnten Ton fährt er Ende Oktober fort, sich über die Cholera zu äußern:

Die Cholera schleicht wie ein Drache durch die Straßen den ein Priester Apolls daher gebetet hätte, und braucht zur Nahrung einen Tag um den andern mehr und weniger. Auch daran gewöhnt man sich, wird besprochen auf Kanzeln, Kathedern und bei Bier und Tabak. Jeder will davon was verstehn; jeder sieht aus Sich hinaus; Alles will selig werden und kein Hund will sterben.

Zelter zeigt auch in diesem Brief keine Anzeichen einer Beunruhigung, wenn er über die Cholera schreibt. Er gibt sich gelassen und spöttisch. Anscheinend über jede Angst erhaben, endet er auch dieses Mal mit einem etwas groben Aphorismus, der seine Souveränität anzeigen soll.

Am 16. November teilt Zelter mit, dass Hegel, den Goethe seit dessen Jenaer Zeit kannte, „vorgestern an der Cholera gestorben ist“. Zelter lässt dann seinen Erinnerungen an ihn wieder eine Anekdote folgen:

Hier ist eine besondere Geschichte im Umlauf. Ein stämmiger, eifriger Wärter einer Cholera-Anstalt, wird endlich selber vom Übel befallen und gehörig beseitigt. Man gibt ihm zwei Wärter die in der Nacht einschlafen. Der Patient, im Paroxismus dem sich das angeborne Pflichtgefühl zugesellt entspringt seinem Lager halb nackend geht zu seiner Anstalt, schlägt an Tür und Fenster und schreit, ihm aufzumachen. Die Leute sind erschrocken über das Gesicht, erkennen ihn und wollen ihn zurückbringen (,) er entspringt ihnen aber. Unterdessen sind jene Wärter erwacht und da sie den Kranken nicht auf seinem Lager sehn laufen sie ihn zu suchen. Endlich kommen die Leute aus der Anstalt und finden den braven Kerl auf seinem Bette tot. Daß sich solch ein Vorfall in eine Spukgeschichte metamorphosiert wirst Du denken.

Die Cholera wird nun zum literarischen Stoff gemacht: wahlweise zum Stoff für eine Groteske oder sogar eine Spukgeschichte.

Nachdem Zelter im selben Brief der jüngsten Tochter Moses Mendelssohns gedacht hat, die auch ein Opfer der Seuche wurde, fügt er eine weitere Anekdote an:

Eine der vorigen ähnliche Cholerageschichte erzählt mir so eben mein Schwiegersohn aus der Ukermark: Ein Ackerknecht wird, krank und erstarrt, vom Kreisarzte für tot ausgegeben. Der Mann wird aus dem Hause geschafft und auf die Tenne gelegt. In der Nacht richtet er sich auf, geht ans Haus und klopft und ruft nach seiner Frau. Diese in der Angst ihres Herzens ruft ihm von Innen zu: Vaderken! blif doch da, du bist ja doht. – Der Mann ist genesen und lebt.

Zelter gibt der Anekdote, in einer Art humoristischer Überbietung, gleich zwei Pointen – die Äußerung der verängstigten und dadurch lächerlich wirkenden Frau und die Feststellung einer Fehldiagnose –, so als wollte er sichergehen, dass seine Geschichte auf keinen Fall zu ernst genommen werde.

Auch als er das nächste Mal über die Cholera schreibt, hat er wieder eine Anekdote anzubieten:

Einige würdige junge Mitglieder einer hies. Schutz-Kommission machen sich den Spaß ein galantes Mädgen zu besuchen um einen Beitrag für die Choleraanstalten zu erbitten. – „Meine Herren (seufzt das Mädgen) Sie selbst wissen ja am besten was unsereins in diesen Bekehrungstagen verdienen kann. Meine besten Sachen habe ich bereits versetzt um das pure Brot zu bezahlen und kann mich kaum noch außer dem Hause zeigen; will jedoch ein oder Anderer von Ihnen meinem gerührten Herzen zu einer so frommen Gabe verhelfen; so können Sie den Beitrag sogleich mitnehmen.“

Mit dem wortgewandten ‚galanten Mädgen‘ erweitert Zelter nach den spielenden Kindern, dem verirrten Wärter, der selbst krank geworden ist, und dem scheintoten Knecht das Personal seiner Anekdoten um eine weitere Komödienfigur.

Am 9. Januar wechselt er dann in seinen Cholera-Erzählungen vollends in die Fiktion:

Wir Übrige sind indessen gesund und auf die Frage an die Cholera: warum sie sich so kurze Zeit in Berlin aufgehalten? soll sie geantwortet haben: weil sie hier so unwürdig sei aufgenommen worden; eine so schlechte Behandlung habe sie nirgend erfahren.

Den Scherz hat Zelter nicht erfunden, er wurde in Berlin tatsächlich erzählt, auch der Mediziner Hufeland hat ihn erwähnt. Dass Zelter ihn aufgreift, ist gleichwohl bezeichnend: Er verwandelt mit ihm die Cholera nun endgültig in eine Komödie, eine menschliche Komödie, auch eine medizinische. Ebenso bezeichnend ist, dass er noch die Bemerkung anschließt: „Hegel soll gegen den Ausspruch dreier Ärzte nicht an der Cholera gestorben sein.“

Aus der Mitteilung spricht im Ganzen die Überzeugung, die Seuche sei ausgestanden. So hat Zelter auch, gut einen Monat später, am 19. Februar eine gute Nachricht für Goethe – die vom Ende der Epidemie:

Heute feiern sie in allen Kirchen das Dankfest für die Befreiung von der furchtbaren Krankheit. – In Gottes Namen! Da jeder freie Atemzug in mir Lob und Freude zu Gott ist so habe ich das ganze Haus in die Kirche geschickt und ergebe mich wie ich muß da ich manche gute Seele neben mir vermisse, denn ich – bin arm und stumm. Sonst haben sie sich im Ganzen wenig abgehn lassen. Dreimalhunderttausend sind drauf gegangen. Nun freien sie wieder und lassen sich freien; Kraut und Rüben steigen wieder zu den alten Preisen und alles kommt wieder in Gang.

Der Ton, in dem Zelter sich über die Cholera auslässt, ist nun grob, fast wegwerfend geworden, wie bei einem lästigen Thema, das man endlich losgeworden ist. Seine Botschaft ist einfach: Das Leben geht, Gott sei Dank, weiter; alles wird wieder, wie es war. Die 1426 Menschen, die in Berlin bis zum Februar 1832 starben, waren allerdings nicht die letzten Cholera-Opfer.

Goethe hat Zelter nur noch einmal geschrieben, am 11. März 1832, auch dieses Mal, ohne auf die Seuche einzugehen. Am 9. Oktober 1830, acht Monate vor Zelters erster Mitteilung, hatte er sich bei dem Weimarer Hofmedicus Vogel über die Cholera erkundigt, wie er in seinem Tagebuch erwähnt. Viel mehr Aufmerksamkeit war sie ihm nicht wert. Es war Goethes Art, sich auf Krankheiten nicht einzulassen; nach dem plötzlichen Tod seines Sohnes August Ende Oktober 1830 war es mehr denn je seine Haltung. Was Zelter ihm in seinen Briefen aus Berlin anbot, dürfte für ihn schon zu viel des Guten – oder eigentlich: des Schlechten gewesen sein.

Zelter wiederum hat ihm nicht zugemutet, was Rahel Varnhagen ihrer Familie aufbürdete: die Seuche zum Anlass für eine ‚Besinnung‘ zu nehmen. Von dem Respekt, den sie vor der Krankheit zeigte, lässt Zelter kaum etwas erkennen. Er spottet über die Opfer und macht allerlei Witze unterschiedlichen Niveaus. Mitteilungen über die Cholera verwandelt er für seinen Freund in Geschichten, teils erbauliche, teils satirische, von denen zumindest eine in Boccaccios Decameron gepasst hätte – aber nicht in die Einleitung, sondern in den Geschichten-Teil.

Zelter und Goethe waren, als die Cholera Deutschland erreichte, alte Männer, der eine über 70, der andere über 80 Jahre alt. Sie hatten beide nicht mehr lange zu leben, wussten das aber nicht. Jede von ihnen hatte sich „in den Kreis seiner Tätigkeit“ zurückgezogen und sich, wie Goethe in seinem letzten Brief an den Freund schreibt, seine „Citadelle“ gebaut. Von ihr aus sahen sie manchmal auf die Welt, aber nicht allzu neugierig und nicht allzu lange. Zelter dürfte von der Seuche in seinen Briefen nicht nur deshalb wenig Aufhebens gemacht haben, weil er seinen verehrten Freund schonen wollte – sondern auch sich. Wie Goethe war er ein alter Mann, der von Tod und Sterben nicht viel wissen wollte. Das Leiden anderer, Erkrankter hielt er sich scherzend und spottend vom Leibe.

Goethe starb 11 Tage, nachdem er Zelter das letzte Mal geschrieben hatte, am 22. März 1832. Zelter hat ihn nur um sieben Wochen überlebt.

 

Literaturhinweis:

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 2006, Band 20.2: Briefwechsel mit Zelter 1812-1832. Hgg. von Edith Zehm und Sabine Schäfer unter Mitwirkung von Jürgen Gruß und Wolfgang Ritschel, S. 1486, 1524, 1550, 1566, 1573-1574, 1575, 1576-1577, 1588, 1551, 1625.

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