Salamitaktik
Welches Licht wirft Fahim Amirs „Schwein und Zeit. Tiere, Politik und Revolte“ auf die aktuelle Vivisektionsdebatte?
Von Dafni Tokas
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor Kurzem wurde von der Großen Koalition entschieden, die blutige Praxis der betäubungslosen Ferkelkastration wider Erwarten mindestens um zwei weitere Jahre zu verlängern, obwohl es schmerzfreie Alternativen gäbe. Am „Runden Tisch Ferkelkastration“ hat Julia Klöckner (CDU) die betäubungslose Form der Vivisektion in vollem Umfang legitimiert – ohne Tierschützer*innen einzuladen. Dabei werden jährlich allein in Deutschland 20 Millionen männlichen Ferkeln bei vollem Bewusstsein die Hoden entfernt. Linke und grüne Politiker*innen legten längst nahe, dass diese Praxis verfassungswidrig ist. Alles nur, damit die geringe Wahrscheinlichkeit (5 Prozent), dass das Schnitzel mal nach Eber riecht, auf Null sinkt. Warum man Eber isst, wenn man sie nicht riechen kann, ist eine andere Frage.
Jetzt könnte man sich, wie das in der Tierrechtsszene üblich ist, in die heroische Position des Kämpfers für das Opfer „Schwein“ begeben und den Täter „Agrarlobbyismus“ verurteilen. Das machen auch einige und sie mögen damit Recht behalten. Bisher allerdings brachte diese Haltung der Tierrechtsbewegung wenig Erfolg ein, weil das echte Leben nicht Star Wars ist und weil Gut und Böse nicht so leicht zu unterscheiden sind in einer Welt, deren politische Akteur*innen nicht nur – wenn überhaupt – von moralischen Urteilen gesteuert sind, sondern selbsterklärend auch von soziokulturell beeinflussten, persönlichen, finanziellen und strategischen Interessen. Das lässt sich nicht ändern.
Fahim Amir geht in Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte deshalb einen anderen Weg als die meisten bisher bekannten Größen der Tierrechtsdebatte. Mitleid habe, so Amir, „sozialchauvinistische Züge“, die dazu führen, dass Tiere „als Opfer gedacht“ und damit aus einer politischen, emanzipatorischen Perspektive marginalisiert würden. Er selbst dagegen „schlage vor, Tiere als politische Akteure des Widerstands zu fassen“ und geht so weit, tierlichen Widerstand nicht als den jeweiligen Aufschrei eines Opfers gegen den menschlichen Täter zu werten, sondern ihn als „Motor für die Modernisierung kapitalistischer Produktionsformen“ zu betrachten. Das klingt erst einmal befremdlich, leuchtet aber ein, wenn man bedenkt, dass die Dispositive, in denen nicht-menschliche Tiere gezüchtet, zugerichtet und geschlachtet werden, nicht zufällig entstehen, sondern eine architektonische, soziale und geopolitische Reaktion auf den Widerstand des „Viehs“ sind. Konkret heißt das: Würden Tiere nicht weglaufen, bräuchten wir keine Mauern. Würden sie nicht schreien, wären die Mauern nicht schalldicht. Würden sie sich nicht wehren, gäbe es keine Elektroschocker. Müssten wir nicht achtgeben darauf, dass alles nach Plan läuft, dann wäre keine Überwachung der Tiere vonnöten. Wäre alles in Ordnung, lägen Schlachthäuser nicht in der Peripherie. Dass wir uns hier an Michel Foucault erinnert fühlen, ist deshalb kein Zufall.
Mit dieser durchaus sinnvollen Position, die nicht-menschlichen Tieren Agency zugesteht und ihnen den Akteurstatus verleiht, ist Amir allerdings nicht allein. Entgegen dem anfänglichen Mainstream in den Animal Studies und der Tierrechtsdebatte, Tiere vor allem als Opfer der kapitalistischen Verwertungslogik zu skizzieren, gibt es nun immer lautere Rufe nach der Anerkennung tierlichen Widerstands als einer politischen Antwort auf diese Zurichtungen. Zwar nimmt man Tiere damit endlich ernst – dennoch: Ist es politisch klug, der ganzen restlichen wissenschaftlichen, herrschaftskritischen veganen Szene, deren ethische Positionen in der Öffentlichkeit ohnehin kaum Früchte tragen, einen zusätzlichen Tritt zu versetzen, weil man origineller als sie sein möchte? Und das, obwohl man im Grunde dieselbe Position vertritt, nämlich, dass etwas mit unserem Verhältnis zu anderen Tieren nicht stimmt? Ob die Flugschrift den bereits vor Erscheinen verliehenen Karl Marx Preis 2018 aus politischer Sicht verdient hätte, ist deshalb fragwürdig.
Amirs standardisierte Kritik an John Berger ergibt indes nichts Neues, und seine beiläufig stichelnde Anmerkung, dass es auch vegetarisch lebende Nazis gab („Hitler war Vegetarier!“), gehört längst zum sogenannten Omni-Bingo (Lieblingssätze von Fleischesser*innen). Tierschützer*innen zur „milderen“ Seite zu zählen und Tierrechtler*innen „militant“ zu nennen, ist zudem eine wirklich eingestaubte Dichotomie. Wer informiert ist, weiß längst, dass der Begriff „Tierschutz“ nicht selten in Komplizenschaft zur industriellen Tiertötung steht.
Dass Amir darüber hinaus die Notwendigkeit sieht, die Frage „Können sie leiden?“ zu verschieben zu „Wo und wie leisten Tiere Widerstand und wer kämpft mit ihnen?“, mag revolutionär wirken. Diese Verschiebung hilft uns nur leider überhaupt nicht dabei, das tatsächlich vorherrschende mensch-tierliche Machtgefälle in der industriellen Tierverarbeitung als das eines Ausbeutungsverhältnisses zu analysieren – das es ohne Zweifel ist und bleibt. Natürlich leisten Schweine auch über den Tod hinaus noch Widerstand gegen die Maschinen, von denen sie verarbeitet werden. Selbstverständlich hat Marx keine Antwort auf das Tierproblem gegeben. Und ganz offensichtlich gehört sogenanntes „Schlachtvieh“ immer auch konstitutiv zur Arbeiterklasse. Das alles bedeutet aber nicht automatisch, dass man diese Tiere als kollektive politische Akteure lesen sollte. Sie werden sich nie selbst befreien können, sich niemals in die politische Debatte einmischen und für ihre Rechte kämpfen können. Sie kennen nicht die abstrakten politischen Begriffe, unter deren Konsequenz sie zu leiden haben oder die sie befreien könnten – und das sollte nach wie vor eine Präsupposition der tierethischen Debatte bleiben, auch wenn Amir sie als nebensächlich von sich weist. Wenn möglicherweise seuchenkranke Wildscheine präventiv von ängstlichen Schweinebauern erschossen werden, dann ist das nun einmal kein politischer Krieg, sondern in erster Linie ein ethisches Desaster. Politik statt Ethik, sagt Amir dagegen. Dabei vergisst er: Schweine kennen keine Salamitaktik, sondern werden zu Salami. Hier liegt das Problem und da muss man weiterhin anpacken.
Man muss Amir lassen, dass er trotz dieser monströsen Defizite einen enorm eloquenten, belesenen und politisch informierten Blick auf die Debatte wirft. Er entromantisiert die Idee eines harmonischen, einheitlichen Lebens in, von und mit der Natur. Es gäbe kein Zurück, erklärt der Autor, und vielmehr müsse man sich fragen, wer diese Tiere sind, in denen wir uns spiegeln wollen oder eben nicht. Sie können nicht nur Opfer sein, findet der Autor. Schwein und Zeit ist witzig und gewitzt zugleich, jedes Kapitel wirft ein Schlaglicht auf Probleme der Tierrechtsdebatte. So beschreibt Amir detailliert die wirtschaftlichen, ethischen und politischen Tücken der Moskitobekämpfung, entwirft eine kleine politische Widerstandsgeschichte der Taube und dringt bis in den sozialen Termitenmagen vor (ein sehr gutes Kapitel!). Die Themenkreise Klassenkampf, Fordismus und Kulturpessimismus kommen nicht zu kurz.
Der Autor wendet sich trotz seines eigenen marxistisch orientierten Ansatzes gegen jene „Murxist*innen“, die „in der restlos perfektionierten Beherrschung und Ausbeutung von Tieren“ kein Problem, sondern sogar ein sozialistisches Potenzial sehen. Auch spricht er sich gegen „Ultrahumanist*innen“ aus, „die sich weigern, über Tiere zu sprechen, solange nicht alle Probleme der Menschheit für immer gelöst sind“. Beide Standpunkte disqualifiziert er gekonnt und legt eine schneidend präzise Problemanalyse des seit Jahrzehnten nicht voranschreitenden Marxismus und Sozialismus vor. Doch gleich im Anschluss vergleicht er die Widerständigkeit ausgebeuteter Tiere explizit mit jener der US-Sklav*innen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg – so hätten sich sowohl Tiere als auch Sklav*innen widerständiger Strategien wie etwa der Arbeitsverweigerung, der Flucht und der Sabotage bedient. Das mag zwar sein, diese Parallele verleitet den Autor jedoch zu der an Foucault angelehnten These, dass nicht-menschliche Tiere immer schon „eine praktische Kritik der Verhältnisse“ vornähmen. Diese fixe Idee einer „Kampfgefährt*innenschaft“ zwischen Mensch und Tier geht zu weit, weil sie immer wieder – wovor Amir offenbar nicht zurückschreckt – nahelegt, Mitgefühl für Tiere hieße, auf dieselben herabzuschauen, sie zu Opfern zu erniedrigen. Der Autor geht so weit, auch die Entstehung tierlicher Projektionsflächen des Klassenkampfes, die dazu dienen, Menschen indirekt über ihre Relation zu Tieren zu definieren und zu degradieren, aus diesem „Mitleid von oben“ abzuleiten. Das ist ein herber, ungerechter und zweckloser Schlag ins Gesicht aller Tierrechtsaktivist*innen, die sich für die gleichen Ziele einsetzen wie der Autor selbst.
Amirs Buch riecht nach männlichem Kampf, nach erhobenen Händen und Pfoten, nicht aber nach dem weiblich-verweichlichten Mitleid, das es so akribisch umgeht. In einer zunehmend kalten und oberflächlichen Welt kommt das gut an – jede Stammtischdiskussion mit Fleischessern endet damit, dass ebendiese mit der empathischen Immunität der eigenen Geschmacksnerven prahlen. Die Tendenz zahlreicher Philosoph*innen und Tierrechtsaktivist*innen, diesem Habitus ebenfalls zu verfallen, um noch ernst genommen zu werden, scheint auch hier am Werk zu sein. Ja, wir sollten tierliche Widerstandspraktiken als solche wahrnehmen. Doch keine Revolution dieser Welt hätte Erfolg gehabt, wenn nicht auch quälende, schier unerträgliche Empathie ihr Motor gewesen wäre. Implizit auch winzige, soeben kastrierte Ferkel als politische Akteure zu verkaufen und Tierrechtsaktivist*innen das Mitleid verbieten zu wollen, weil das an Sozialchauvinismus grenze, geht dann doch etwas zu weit. Schwein oder nicht Schwein, das sollte keine Frage mehr sein.
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