Zwei Männer, ein paar Opern und eine Schwangerschaft

Diese Zutaten moduliert Andrea Grill in „Cherubino“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An der Wiener Staatsoper singt sie seit drei Spielzeiten den Hänsel, bald wird sie an der Metropolitan Opera den Cherubino übernehmen. Als sie an einem schönen Herbsttag gerade in München weilt, um für eine Opern-Neuproduktion bei den Salzburger Festspielen vorzusingen, begibt sie sich auf die Toilette einer Bäckerei und macht einen Schwangerschaftstest. Positiv. Eher automatisch „kullert ein Lachen“ aus ihr heraus, wegen der Nachricht selbst oder nur, weil sie das Ergebnis am Tag zuvor bereits vermutet hat? Das bleibt offen. Iris Schiffer, 39-jährige Mezzosopranistin, führt ihr Leben weiter wie bisher. Sie fliegt nach Ibiza, singt dort bei einer privaten Feier, spannt nebenbei etwas aus und überlegt, wer von ihren beiden Intimfreunden der Vater des Embryos sein könnte – der Tenor Sergio, mit dem sie seit ein paar Jahren eine quasi offizielle Beziehung führt oder der Unternehmer Ludwig, ein Familienvater, den sie – wie sie fast in Dauerschleife betont – im Gegensatz zu Sergio richtig liebe. Iris freut sich auf ihr Kind, möchte aber beruflich in keiner Weise Zugeständnisse machen. Daher berichtet sie nur einem sehr kleinen Personenkreis, dass sie schwanger ist.

Bevor sie im Januar zu ersten Proben nach New York fliegt, trennt sie sich von Sergio, der daraufhin im „Stiegenhaus“ randaliert, just in dem Moment, als sie sich in ihrer Wohnung mit Ludwig trifft. In New York oszilliert sie offenbar zwischen Euphorie und Angst, denn Stiche im Unterleib zwingen sie dort zu einem Arztbesuch. Alles ist normal, und die Premiere der Nozze di Figaro, bei der Sergio wieder anwesend ist, entpuppt sich als großer Erfolg. Iris pendelt zwischen New York und Wien, folgt einem streng geregelten Tagesablauf, singt Cherubino und lernt für die Rolle der Sophie aus Nicholas Maws Oper Sophie’s Choice. Während der Arbeit an der neuen Rolle, mit der sie endlich, so glaubt sie, von den „Bubenrollen“ wegkommt, kann Ludwig bei ihr sein. Die Liebe zu Sergio stuft sie nun als platonisch ein. Plötzlich erhält sie einen Anruf des Salzburger Regisseurs. Man habe von der Schwangerschaft erfahren und müsse die Rolle in Sophie’s Choice absagen. Doch recht schnell möchte die Intendanz der Festspiele Iris zurückhaben, denn ein Video aus der Met sei mit 50.0000 Views viral gegangen. Überhaupt verbreiten sich allmählich hymnische Rezensionen zur Cherubino-Darstellung. Während der Proben zur Inszenierung von Sophie’s Choice, in der die Schwangerschaft nicht verborgen bleiben soll, ist Iris sehr überzeugend. Sie schafft es aber nicht mehr zur Premiere, die von der Zweitbesetzung gesungen wird. Am Ende des Romans steht die Darstellung einer Geburt, die sich über zwei Tage hinzieht und schließlich mit einem „Kreuzstich“, einer Periduralanästhesie, erleichtert wird. Während des Geschehens telefoniert die werdende Mutter mit beiden möglichen Vätern. Sergio eilt herbei, doch eigentlich möchte sie Ludwig an ihrer Seite haben, als sie Manuel Orion Schiffer, ihrem kleinen „Sternenwanderer“, das Leben schenkt.

Vier Akte sind es, homolog beziehungsweise strukturparallel zu Mozarts Nozze di Figaro, in die Andrea Grill ihren Roman untergliedert. Diese wiederum sind zwar in keine 40, was der regelhaften Wochenanzahl einer Schwangerschaft entspräche, aber in 36 fortlaufende Szenen (gezählt ab dem Moment des Tests) dividiert und mit einem Personenverzeichnis zu Beginn versehen. Diese Makrostruktur spiegelt die beiden Hauptthemen Oper und Schwangerschaft, in denen Iris das Epizentrum des Geschehens formiert – das „Sonnensystem Iris“, wie es im Roman heißt. Mit dem Kunstgriff des „style indirect libre“, der erlebten Rede, einmal lebendig dahinperlend, ein anderes Mal wieder stockend und statisch, gelingt es der Autorin zu zeigen, wie sich ihre Protagonistin in die gerade aktuellen Rollen einfindet. Dabei hat sie noch einige mehr in ihrem Repertoire, wie das Verzeichnis auf den letzten Buchseiten beweist.

Als Grenzgänger zwischen Literatur und Musik ist Cherubino in mehrfacher Hinsicht intermedial, ganz offensichtlich als „verbal music“, als Geschichte einer beruflich selbstständigen Mezzosopranistin, die sich auf Opern und das Liedfach spezialisiert hat. Ihre Karriere erhält einen Booster durch die Rolle des Cherubino an der Met. Nebenbei gefällt die Sängerin sich darin, Kinderlieder zu parodieren, sie zu „retuschieren“ und ihrem ungeborenen Jungen vorzusingen. Das recht unvermittelte und unmotivierte Einbringen dieser Parodien in den Text birgt nicht nur witzige Effekte, sondern markiert eine doppelte Distanzierung: zu dem, was während der Schwangerschaft mit Iris und ihrem Körper geschieht und gleichermaßen zum Opernbetrieb und seinen Produktionen. In dem Video, das um die Welt geht, werden außerdem einige Arientexte aus den Nozze di Figaro auf sympathische Weise verballhornt. Darüber hinaus bleiben die Dialoge über Opern im Gesamtkontext des Romans tendenziell knapp, nahezu kursorisch zu den Nozze, etwas mehr findet sich zu Sophie’s Choice. Dabei fällt vor allem der Hinweis der Dirigentin auf, dass Nicholas Maw eine Freiheit in seine Musik hineinkomponiert habe, die man dort belassen solle.

Eine solche Freiheit ist man ebenso versucht dem Roman unterzuschieben. Man ist geneigt, und hier würde eine Form- beziehungsweise Strukturparallele zur Musik vorliegen, ihn als eine Art Partitur zu etikettieren. Die Freiheit im Roman zu belassen wäre aporetisch, lebt dieser doch davon, dass seine LeserInnen ihn reproduzieren und rezipierend erweitern sowie deuten. Hier zählt die Text-Partitur, die an die Freiheit der LeserInnen appelliert und unter anderem die Art und Weise umfasst, wie diese in der Rezeption mit der erzählten Zeit umgehen. Wenn Iris mit Bezug auf die Abwandlung althergebrachter Tempi in Cherubinos Arien meint, dass nur Musik mit der Zeit mache, was sie wolle, und nur Musik das könne, dass das ihr Geheimnis sei, hat sie ästhetische Rezeptionsprozesse ausgeblendet. In der opernähnlichen statischen Grundkomposition des Romans laviert zusätzlich eine freie Form, in der sich die Wirkmacht eines Textes entrollt, dessen Sprache selbst mitunter sehr spontan und musikähnlich wirkt. Iris liebt „Jazz, Blues, Improvisation, Fusion“. Sie behauptet, dass sie auf die Überraschung und das Geheimnis baue. Eine solche „Jazzqualität“ solle in die klassische Musik hineinkommen, eine solche „Jazzqualität“ bewegt Grills Text. Mitunter scheint er voller Improvisationsmomente zu sein und in dieser Spontaneität eine Jam Session zu initiieren. Dieses „spontane Feeling“ reibt sich an der festen Struktur, ruft einen besonderen Rhythmus auf und integriert das Musizieren mit Wörtern und Worten, festzumachen an parataktisch kurzen Sätzen, gespeist aus Wortspielereien, Wiederholungen und Anakoluthen. Die Überraschungsmomente in der Lexik machen sich demgegenüber extrem rar, sind dafür aber umso effizienter. Die Austriazismen „Stiegenhaus“ und „Kreuzstich“ etwa oder die Adjektive „erratisch“ und „sessil“ pointieren und kontrapunktieren den Lesefluss.

In dieser musikalisch geprägten Textlandschaft bleiben die Charaktere des Romans flach, allen voran Iris selbst, vielleicht paradoxerweise gerade deshalb, weil ihr in ihren Rollen gemeinhin ein hohes Maß an Emotionalität bescheinigt wird. Grills Text ist nicht auf Identifikationen aus, denn die Hauptfigur gibt sich unnahbar, aufgerieben zwischen den Facetten ihres Lebens; man erfährt zwar, dass Iris Angst empfindet, wenn sie leichte Blutungen hat oder Stiche im Bauch verspürt, doch diese überträgt sich nicht, triggert keine Empathie. Man nimmt ihr die Emotionen kaum ab, denn sie sind mit Glacé überzogen, eher vermittelt als Reiz, der eine Reaktion, bei Angst etwa einen Arztbesuch, nach sich zieht. Die Aufführung der Nozze di Figaro an der Met hingegen wird in Kritiken als „Akkupunktur [sic] der Seele“ gefeiert. Eine Darbietung dieser Güte katalysiert die Emotionalität des Publikums und erschöpft die Darbietende nicht etwa, weil sie selbst diese Gefühle gespürt hat, sondern weil sie in der Lage ist, diese so zu präsentieren, dass sie sich im Abseits ihrer eigenen Affektwelt vermitteln. Damit ist sie sehr nah an dem, was Denis Diderot im 18. Jahrhundert für den idealen Schauspieler forderte: das Paradox nämlich, Emotionen perfekt vorzuführen, sich dabei zu beobachten, diese aber kaum selbst zu empfinden.

Cherubino sei ein „eindringlicher Roman über eine Sängerin zwischen Kind und Kunst“. Andrea Grill erzähle „von einer souverän handelnden Frau, die erst allmählich bereit“ sei, „ihre Schwangerschaft anzunehmen“ – so steht es im Klappentext. Ja, Iris handelt insofern souverän, als sie weiter an ihrer Sängerinnenkarriere bastelt und ihre Schwangerschaft aus taktischen Gründen verheimlicht. Die Hybridposition zwischen Kind und Kunst ist jedoch nicht mehr als ein Vexierbild für das Leben der Mezzosopranistin in seiner Verlaufsperspektive, denn das Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen verschiedenen Optionen ist auf Dauer gestellt: zwischen Sergio und Ludwig, zwischen Rollen, die eher für jüngere Sängerinnen zugeschnitten sind, und Rollen für gereifte Sängerinnen. Das Dazwischen impliziert in diesem Fall eine Dualität des „Sowohl-als-auch“, eine Ambivalenz, die Vielfalt generiert und mit einem Zerfasern in einen breiten Möglichkeitsraum hinein einhergeht.

Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass Iris aus dem Kostüm und somit aus der Rolle des Hänsel herauswächst, aber als Cherubino die größten Triumphe ihrer bisherigen Laufbahn feiert. Während der Proben widersetzt sie sich den Anweisungen der Regisseurin, denn wegen ihres Zustands möchte sie nicht auf dem Boden robben. Sie begründet diese Ablehnung aus der Rolle des Cherubino heraus, denn jemand, „der desertiert, der achtzehn ist und der Menschheit die Liebe erklärt, kriecht nicht am Boden herum, während er das tut“. Cherubino rebelliert, aber im Gegensatz zu Figaro weiß er noch nicht, wohin genau die Rebellion führen mag. Da er sich zudem in jede Frau verliebt, die ihm über den Weg läuft, ist er aktuell sowohl von Susanna als auch von der Gräfin verzückt. In der Rolle des Cherubino und ebenso im Namen Iris Schiffer spiegelt sich der Transitionsprozess der Protagonistin in seinem schillernden Facettenreichtum. Iris irisiert, sie „schifft“ durch ihr Dasein auf einer schmalen Mittelspur zwischen den Möglichkeiten. In der Mitte, dem „mezzo“, ihrem Mezzosopran, hat sie von allem etwas. Als Octavian im Rosenkavalier war sie „erratisch“, in einer Mitte, die – so wie in der Rolle des Cherubino – das Vielfältige bedient und in das ein oder andere Extrem hinein eskalieren kann.

Eskalierend oder klimaktisch, erneut opernähnlich mit der Steigerung hin zu einem Höhepunkt – so verläuft der Roman in seiner Totalität. Er explodiert bis hin zur dramatischen Geburt, dem nahezu einzigen sich als emotional vermittelnden, authentischen, endgültig die Identität der Mutter stiftenden Moment. Vom Ende aus rückblickend könnte man sogar meinen, dass der Roman in erster Linie von Schwangerschaft und Geburt erzähle – das wäre die verkitschte Regression in genderfreie, biologistische Zeiten. Doch Baby Manuel straft diesen Eindruck Lügen. Zwar ist nun er der strahlende Fixpunkt, sein nahezu stündlich wechselndes Aussehen indessen – er ähnele Ludwig, dann Sergio, dann wiederum niemandem oder doch dem Großvater oder Iris selbst – symbolisiert die Fortführung des Flatterhaften und Irisierenden.

Andrea Grill hat einen beziehungsreichen, inspirierenden und mehrfach intermedial angelegten Roman vorgelegt, dem ein ausgeprägter Primat-Rezenz-Effekt innewohnt. Die kurze Szene am Anfang ist genauso großartig wie die sich lang hinziehende Schlussszene. Dazwischen leuchten immer wieder einmal starke Passagen, von denen man sich jedoch mehr gewünscht hätte. Einige Szenen hätten sehr gut mit wohlplatzierten und -dimensionierten Gesprächen über Musik angereichert werden können. Insgesamt hätte man sich gewünscht, dass die „Text-Partitur“ und ihre Themen stärker ausbuchstabiert worden wären, vielleicht mit etwas mehr Direktion in den mittigen Längen.

Titelbild

Andrea Grill: Cherubino. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.
318 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059498

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