Annie Ernaux
Nobelpreis für Literatur 2022
Von Annette Greb
Écrire la vie (dt. Das Leben schreiben), so lautet der Titel einer Gesamtausgabe ihrer Werke, die der Verlag Gallimard Annie Ernaux im Jahre 2011 gewidmet hat. Die Autorin ergänzt als Erklärung:
Écrire la vie. Non pas ma vie, ni sa vie, ni même une vie. La vie, avec ses contenus qui sont les mêmes pour tous mais que l’on éprouve de façon individuelle : le corps, l’éducation, l’appartenance et la condition sexuelles, la trajectoire sociale, l’existence des autres, la maladie. […]
(Ernaux, Annie, Écrire la vie, Quarto Gallimard 2011, Préface)
Nicht ihr eigenes Leben will sie also in ihren Texten beschreiben, sondern das Leben an sich, so wie es für alle Menschen erfahrbar ist: körperlich, in der Erziehung, in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der sexuellen Ausrichtung, unter dem Einfluss sozialer Umstände, in der Gemeinschaft der Anderen, im Schmerz und in Krankheit.
Die Erfahrungen, über die sie in ihren Texten spricht, sind die Erfahrungen einer Frau, die am 1. September 1940 in die einfachen Lebensverhältnisse einer Familie aus der französischen Provinz geboren wird. Annie Ernauxs Eltern betreiben in Yvetot, einem kleinen Ort in der Normandie, einen bescheidenen Lebensmittelladen mit angeschlossenem Café. Die Mutter, der Annie Ernaux später in der Erzählung Une femme (1987, dt. Eine Frau, 2019), ein Denkmal setzt, achtet darauf, dass ihre Tochter durch eine gute Schulausbildung an einer privaten katholischen Schule Aufstiegsmöglichkeiten aus der proletarisch geprägten Umgebung ihrer Kindheit erhält. Der Vater hätte lieber, dass sie „an ihrem Platz“ bleibt und durch ihrer Hände Arbeit ihr Leben verdient. In La place (1983, dt. Der Platz, 2020), zeichnet Annie Ernaux ein Portrait ihres Vaters und seines einfach strukturierten Lebens, von dem sie sich durch ihren Bildungsaufstieg weit entfernt hat. Sie benutzt seine Sprache, die nur das Notwendige zum Ausdruck brachte, und bildet dieses reduzierte Sprach- und Ausdrucksvermögen durch einen eigens für diese Erzählung kreierten Schreibstil ab, die „écriture plate“. Dieser Schreibstil ist gekennzeichnet durch eine präzise Wortwahl, die so nah wie möglich an die Lebenswelt ihres Vaters herankommt. Es gibt keine Ausschmückungen oder Metaphern, die Sätze sind kurz und prägnant. Dieser verdichtete Stil spiegelt auch die distanzierte Art und Weise wider, in der Annie Ernaux mit ihren Eltern während ihres Studiums fern von zu Hause kommuniziert hat. Mit La place gelingt der Autorin der literarische Durchbruch. Das Buch erhält als erstes ihrer Werke einen renommierten Preis, den „Prix Renaudot“ (1984).
Beiden Texten über ihre Eltern eignet jene „klinische Genauigkeit“, die das Nobelkomitee als besonders auszeichnungswürdig erachtet hat. Mit „klinischer Genauigkeit“ seziert Annie Ernaux in diesen Texten die von Armut geprägten sozialen Bedingungen, unter denen das Leben ihrer Eltern und damit auch das ihrer eigenen Kindheit abläuft. Als sie nach Jahren der erfolgreichen „Klassenflucht“, inzwischen ist sie Studienrätin, auf die Menschen ihres Herkunftsmilieus zurückblickt, erkennt sie aus der Distanz, welchen Betrug sie an ihnen begangen hat. Auf ihrem Weg des Aufstiegs in eine höhere gesellschaftliche Klasse hat sie sich für ihre Herkunft geschämt, sie geleugnet, und damit die Zurückgelassenen verraten. Sie beginnt über das Tragische dieser Entfremdung und Entwurzelung zu schreiben, um damit auch den Menschen, die sie vernachlässigt hat, ihre Würde zurückzugeben. Ihren Texten gibt sie eine eigene Genre-Bezeichnung: Es sind für sie „Autosoziobiografien“. Sie haben ihren Platz zwischen Literatur und Sozialanalyse.
Mit diesem Anliegen, auch das Alltägliche, das Persönliche und Intime zum Thema literarischer Erzählungen zu machen, sprengt sie den Rahmen gängiger Vorstellungen von Literatur und fordert immer wieder den Widerspruch und die Ablehnung der Literaturkritiker heraus. Auch die spezifisch weiblichen Themen – die meisten von ihnen in Frankreich tabuisiert – werden in ihren Büchern offen angesprochen: die eigene sexuelle Unaufgeklärtheit und die der jungen Mädchen ihrer Zeit, heimliche Abtreibungen, Liebesaffären der verheirateten Frau, Krankheiten wie Krebs und die Folgen für den weiblichen Körper.
Mit Recht wird vom Nobelkomitee ihr Mut gelobt, diese Themen in ihren Erzählungen in einer für alle verständlichen, schnörkellosen Sprache anzusprechen. Sie selbst bezeichnet das, was sie als Schriftstellerin macht, als „écriture comme un couteau“. Mit ihrer Sprache, die sie wie ein Messer einsetzt, öffnet sie die schwärenden Wunden der französischen Gesellschaft, um die Probleme hervorzubringen, unter denen diese Gesellschaft unausgesprochen leidet: die Klassenunterschiede und die geringen Möglichkeiten des Einzelnen, sich aus einem unterprivilegierten Milieu nach oben zu arbeiten, die Verachtung der arbeitenden Bevölkerung durch die Eliten, der Missbrauch der Macht gegenüber Frauen und Minderheiten.
Alle ihre Erzählungen wurzeln im Autobiografischen, ohne dass sie das „Je“ der ersten Person Singular einsetzt, denn die Autorin schafft es, jedes der erzählten Ereignisse sofort auf die Ebene des „On“ und des „Nous“ zu heben und sie damit zu verallgemeinern. In großer Meisterschaft ist ihr dieser Kunstgriff in ihrem bisher längsten und umfassendsten Buch gelungen, in Les années (2008, dt. Die Jahre 2017), in dem sie ihr Leben als Frau in Frankreich von der Nachkriegszeit bis heute erzählt. Es ist eine Selbstermächtigung, denn dieses Buch überwindet die noch immer vorherrschenden Vorbehalte gegenüber weiblichen Themen und schreibenden Frauen.
In aller Bescheidenheit hat Annie Ernaux (82) auf den Nobelpreis reagiert. Er wird nicht ihr Leben verändern, sondern er ermutigt sie, an ihren Themen weiterzuarbeiten.
Werkausgaben:
Annie Ernaux, Écrire la vie, Quarto Gallimard, 2011 (alle Texte vor 2011, einschl. Les années).
Annie Ernaux, L’autre fille, NiL éditions, 2011; Das andere Mädchen, Suhrkamp, 2022.
Annie Ernaux, Mémoire de fille, Gallimard, 2016; Erinnerung eines Mädchens, Suhrkamp, 2020.
Annie Ernaux, Le jeune homme, Gallimard, 2022; Der junge Mann, Suhrkamp, 2023.
Weitere Texte bei Suhrkamp: Eine Frau (2019); La Place (2020); Die Jahre (2017).
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen