Berlin, Palästina, London

Der Text+Kritik-Band zu „Gabriele Tergit“ fokussiert die Feuilletonistin und die Zeit im Exil

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach ihr kommen Thomas Hürlimann und Loriot, vor ihr Lukas Bärfuss, Ulrich Peltzer und Sybille Berg. Die unverzichtbare Reihe Text+Kritik ist ja eher auf die Gegenwart spezialisiert und das ist gut so. Manchmal holt sie aber auch Autoren und Autorinnen der Literaturgeschichte zurück ins Rampenlicht, in Heft 223 etwa Ernst Toller und jetzt, in Heft 228, Gabriele Tergit, wofür man nicht genug danken kann.

Folgt man der Publikationsgeschichte, so gerieten Tergit und ihr Werk nie völlig in Vergessenheit. Ihre zwei bekanntesten Romane Effingers und Käsebier erobert den Kurfürstendamm wurden im Abstand von mehreren Jahrzehnten immer wieder neu herausgebracht. Nach einer Art Wiederentdeckung noch zu Lebzeiten – Tergit starb 1982 in ihrer Londoner Wahlheimat – wurde es ab den 1980ern dennoch sehr ruhig. Die Wieder-Wiederentdeckung konnte man dann vor wenigen Jahren erleben, abermals als Romancière und nicht als Journalistin und Essayistin: 2016 kam Käsebier erobert den Kurfürstendamm, 2019 Effingers, beides in sehr schönen Ausgaben herausgegeben von Nicole Henneberg bei Schöffling & Co.

Henneberg liefert auch einen Beitrag zum von Juliane Sucker herausgegebenen Text+Kritik-Band. Insgesamt sind es acht Beiträge, zusätzlich eine biografische Notiz und eine von der Herausgeberin zusammengestellte, erfreulich ausführlich ausgefallene Auswahl-Bibliografie.

Henneberg zeigt in ihrem Beitrag Der Historie zusehen wie schnell sich für die „Chronistin und Feldforscherin“ Tergit die Stimmung drehte: „Noch im Januar/Februar war sie als eine der bekanntesten und beliebtesten Berliner Journalistinnen in ‚Spemanns Literatur-Kalender‘ abgebildet gewesen. Ihre Leserschaft war riesig – zwölfmal pro Woche erschien das ‚Berliner Tageblatt‘, mit einer Auflage zwischen 160 000 und 300 000 Exemplaren (sonntags).“ Anfang März musste die prominente Journalistin, die sich die Nazis mit ihren scharfen Kolumnen und kritischen Reportagen schon lange zu Feinden gemacht hatte, überstürzt flüchten, zunächst nach Spindlermühle in die Tschechoslowakei, später mit ihrem Mann Heinz Reifenberg und ihrem Sohn nach Palästina und schlussendlich nach London, wo sie auch bis zu ihrem Tod blieb.

Insgesamt dominieren historische und biografische Perspektiven. Liane Schüllers Beitrag über die Figur der Neuen[n] Frau in der Weimarer Republik schließt wunderbar an Erhard Schütz‘ Geschlechterverhältnisse mitdenkende Darstellung von Tergits Feuilletons über Berlin an. Beide verschränken analytisch biografische, narrative und gattungsgeschichtliche Perspektiven. Eine ähnliche produktive Verbindung zwischen Leben und Werk zieht Risa Tamarus Beitrag, der Tergits (bislang) unveröffentlichten Prosatext Der Engel aus New York und seine Entstehungsgeschichte vorstellt. Tergit, so erfährt man, wurde zu dem sozialkritischen Text auf ihrer Reise 1966 zum Internationalen PEN-Kongress in New York inspiriert. Jüdische Schneider in New York hatten sich Anfang der 1940er Jahre für die Rettung französischer Flüchtlinge eingesetzt und Tergit „zeigte sich tief beeindruckt darüber, dass eine gesellschaftlich kaum beachtete Gruppe das Überleben prominenter Politiker und Künstler ermöglicht hatte.“ Im Deutschen Literaturarchiv Marbach finden sich zwei von einander abweichende Manuskripte, das englische Original unter dem Titel Scarlet Pimpernell 1940 und die an deutsche Interessen angepasste Version. Tamarus Beitrag zeigt, dass eine Publikation durchaus wünschenswert wäre. Interessant ist auch die Schilderung einer Episode mit dem Spiegel, dem Tergit den Engel aus New York 1969 angeboten hatte und der großes Interesse zeigte, dann aber, so beschwert sich Tergit, zwar Informationen aus ihrem Manuskript übernahm, ohne aber ihren Namen zu nennen.

Auch Kritik wird Raum gelassen. Sehr ausführlich sogar in Reinhold Lütgemeier-Davins Beitrag Als Feuilletonistin auf wackeligem Parkett über Tergits, in Lütgemeier-Davins Darstellung, an eine Fehde grenzendes Verhältnis zu Kurt Hiller. Tergit hatte Hiller in einem Artikel im Manchester Guardian unterstellt, ein Vorläufer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Dieser reagierte mit misogynen Schimpftiraden und intervenierte über Jahre hinweg gegen die verhasste, wie er es sah, Widersacherin. Was prinzipiell thematisch interessant wäre, ist trotzdem der wohl schwächste Beitrag. Wenn Lütgemeier-Davin Tergit „eine homophobe Tendenz“ und „eine soziale Aversion gegen Homosexuelle“ unterstellt, dann hätte man dafür gerne mehr Belege als „die Auswahl der Angegriffenen“, also Kurt Hiller, Hans Blüher und Gustav Wyneken. Gründe für Tergits Angriff auf Hiller bleiben spekulativ, vorgetragen aber in polemischer Manier: „Möglicherweise bestanden ihre Motive im Kern aus einer Mixtur aus ehrlichem Willen zur historischen Aufklärung, aber politisch-historischer Unbedarftheit, Renommiersucht, gekränkter Eitelkeit, krassen Unterschieden in Lebensweise und sexueller Orientierung, einer Rivalität mit einem Kollegen im Exil, der ihr gegenüber seine angenommene intellektuelle Prävalenz auszuspielen verstand.“ Lütgemeier-Davin streut zwar auch Kritik an Hiller ein, aber auf welcher Seite er steht, wird doch deutlich. Dem intellektuellen Hiller wird die glossierende Tergit gegenübergestellt. Gerade in so einem schmalen Band, der doch noch einige Desiderate deutlich werden lässt, erscheint es nicht sehr notwendig, so spekulativer Kritik so viel Raum zu lassen, noch dazu, wo diese Episode schon an mehreren anderen Stellen umrissen wurde, etwa in Daniel Münzners Hiller-Biografie oder Helmut Peitschs Gabriele Tergit: Gestohlene Jahre, oder vom Autor des Beitrags selber im Band Diffamierende Reden. Antifeminismus im Wandel (herausgegeben von Helke Dreier u. a.).

Die Kritikpunkte bleiben dennoch überschaubar: Für den Primärtextabdruck von Tergits Umschichtung hätte man gerne eine Datierung direkt beim Text. Der Fokus liegt auf Tergits journalistischen und feuilletonistischen Werk, ihre Prosa wird zwar immer wieder erwähnt, aber nicht tiefergehend behandelt. Zumindest quantitativ wird das dem Verhältnis in ihrem Oeuvre gerecht, dennoch hätte man zu den Romanen gerne mehr gelesen. Beiträge zu Edition und Rezeption hätten dem schmalen Band ebenfalls gutgetan. Außerdem wiederholen sich Informationen in mehreren Beiträgen, etwa die Details ihrer Flucht, diese Redundanzen hätte man beim Lektorat beheben können. Wenn sich die Kritik aber (größtenteils) darauf beschränkt, dass man gerne mehr gelesen hätte, kann man ganz offensichtlich von einem gelungenen Band sprechen.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold / Juliane Sucker (Hg.): Gabriele Tergit. Text+Kritik Heft 228.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2020.
105 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783967071153

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