Für eine kleine Literatur

Marjan Asgari skizziert in „Makom – deterritorialisiert“ die Gegenorte in der deutsch-jüdischen Literatur

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Debatte um Welt- und/versus Nationalliteratur wurde im letzten Jahrzehnt intensiv geführt. Wenn aktuell der Begriff der Weltliteratur im Zentrum internationaler Diskurse steht, dann wird darunter meist die nicht länger national organisierte Literatur verstanden. Mit der Abwendung von den einzelsprachigen Nationalliteraturen haben es sich viele Forschungsdiskurse zur Aufgabe gemacht, die einzelnen Verflechtungs- und Trennungsgeschichten der literarischen Felder und deren Gebiete genauer in den Blick zu nehmen. Von besonderem Interesse ist innerhalb des deutschsprachigen Kontextes freilich die deutsch-jüdische Literatur, die zwischen Prag (Kafka, Perutz u. a.) und Israel angesiedelt ist. Insbesondere die Vielvölkerstadt Prag schien Anfang des 20. Jahrhunderts besonders prädestiniert, zur Bastion der „kleinen Literatur“ zu werden und durch ihre literarischen Erzeugnisse nationale Ordnungen und Diskurse kritisch zu befragen. Von dort aus nimmt die vorliegende Arbeit Makom – deterritorialisiert ihren Ausgang.

Makom, der titelgebende Begriff dieser Arbeit, heißt auf Deutsch so viel wie Ort. Dabei weist der hebräische Begriff eine eindeutig religiöse Konnotation auf und wird auch mit der Offenbarung Gottes an einem Ort verbunden. Es geht also um Orte, seien sie real existierend oder bloß imaginär aus der Feder eines Schriftstellers entsprungen. Relativ klar wird in der Einleitung dargelegt, dass die bislang kaum berücksichtigten Zusammenhänge zwischen der deutschsprachigen und israelischen Literatur über die Kategorie des Raumes erschlossen werden. Diese Zusammenhänge werden von der Frage angetrieben, inwieweit sich die Raumkonzepte der deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren durch die Flucht oder Rückkehr nach Palästina verändert haben. Methodisch werden dafür die Raumkonzepte, die viele Forschungsvorhaben der Nuller und Zehner Jahre des neuen Jahrhunderts leiteten (Stichwort spatial turn), mit einer semantischen Analyse der literarisierten Raumdarstellungen verknüpft. Nach der Einleitung, in der das Vorhaben methodisch abgesteckt wird, untersucht Asgari so in knapp zehn Abschnitten unterschiedliche Raumkonzepte, die von den Städten Prag und Tel Aviv in höchst anregende Räume wie Bordell, Friedhof, Kolonie und Kaffeehaus hineinreichen.  

Die kleinen Schwächen dieser Arbeit, die eigentlich groß angelegt und mit einem close bzw. fast deep reading des Textkorpus besticht, liegen darin, dass sich das Vorhaben immer wieder in Details verstrickt, die auf Kosten der allgemeinen Lesbarkeit und vor allem einer gebotenen Übersichtlichkeit gehen. Das lässt sich nicht nur an den teils überbordenden Fußnoten ablesen, sondern auch daran, dass der Forschungs- und Diskussionsstand fast schon zu vorbildlich präsentiert wird. Als interessierter Leser müsste man nicht mit der gesamten Raumdiskussion, die von Michel de Certeau über postkoloniale Konzepte des Dritten Raumes bis zu Foucaults Heterotopie reicht, konfrontiert werden. Foucaults Heterotopos sowie Deleuze und Guattari mit ihrem Konzept der „kleinen Literatur“ hätten gereicht, um den Blick auf die Gegenorte zur Massenkultur zu schärfen. Es hätte der Arbeit auch gutgetan, das Textkorpus einleitend zu skizzieren, um den Lesern eine bessere Übersicht auf dem Weg zu bieten. 

Es ist einigermaßen interessant, dass viele Arbeiten über Zeit und Raum in Palästina ohne Kafka kaum angemessen zu verstehen sind. Kafka wird von Zionisten und Anti-Zionisten gleichermaßen als Argumentationsfigur herangezogen. Auch hier ist Kafka wichtig, der mit seinem deterritorialisierten Schreiben nicht in einer Utopie, sondern eher in einer Heterotopie zu verorten ist; nicht also in einem irrealen Raum (Utopie), sondern an einem an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Gegenraum (Heterotopie). Aus der Perspektive dieser Schwellen- oder Randorte – wie Brücke, Kolonie, Bordell, Schiff oder Friedhof – lässt sich viel sagen. Weil solche Orte zugleich über öffnende und abschließende Mechanismen verfügen, können sie andere Räume in Frage stellen oder gar entlarven. Inwieweit die Brücke, wie bei Leo Perutz oder Gustav Meyrink, als Verbindungssymbol zwischen Mann und Frau, zwischen Christentum und Judentum und damit letztlich als Schwellenort zwischen jüdischem Ghetto und deutschem Herrschaftsterritorium fungiert, ist von regem Interesse, weil damit auch eine Entmythisierung der deutsch-jüdischen Symbiose aufgezeigt wird. Literatur kommt damit die Kraft zu, andere Darstellungsformen zu öffnen als es die offizielle Historie tut.

Gerade Breite und Tiefe, von der hier nur ausschnitthaft etwas gezeigt wurde, machen das Buch so lohnend für den Literatur- und Kulturwissenschaftler, aber auch für Judaisten und Religionswissenschaftler. Breite dabei durchaus auch im bildlichen Sinn: Marjan Asgari breitet vor uns Lesern eine Fülle an Material aus. So gesehen ist es auch schwer möglich, dem stofflichen und motivischen Reichtum der Untersuchung, von Prag über den Berliner und Tel Aviver Friedhof bis zu den Kriegslandschaften, im schmalen Raum einer Rezension weiter nachzugehen.

Titelbild

Marjan Asgari: Makom – deterritorialisiert. Gegenorte in der deutschsprachigen jüdischen Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
342 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825368722

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