Vatergestalt der modernen Literatur in Deutschland
Ein von Sabina Becker herausgegebenes Handbuch erschließt und würdigt das vielschichtige Werk Alfred Döblins
Von Heribert Hoven
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAus dem im Untertitel behaupteten Anspruch, „Leben – Werk – Wirkung“ von Alfred Döblin würdigen zu wollen, steigt das Handbuch insofern aus, als dem Leben nur eine knappe Chronik am Schluss gewidmet wird, die überdies dem Katalog der Marbacher Ausstellung von 1978 entnommen ist, und zwar in verkürzter Form, aber fleißig jeden Ferienaufenthalt des Autors verzeichnend. Dies bei einem Autor, der als Künstler und Arzt wie kaum ein zweiter Literatur- und Zeitgeschichte erlebt und teilweise auch mit gestaltet hat. Wo die Lebensumstände allerdings für die einzelnen Werke von Bedeutung sind, die natürlich, dies sei gleich vorweg gesagt, vorbildhaft dargestellt werden, kommen sie auch zur Sprache. Trotzdem hätte man gerne einmal im lebensgeschichtlichen Kontinuum erfahren, wie Döblin etwa zu seinen Mitautoren stand, wie er die beiden Weltkriege oder das Exil erlebte, wie er als Vater, Ehemann, Liebhaber oder Besatzungssoldat dachte, zumal sein Leben ja kaum in der Breite bekannt ist wie das von Bertolt Brecht oder Thomas Mann.
Das Handbuch beginnt denn auch mit der Rezeptionsgeschichte, dann folgen die Werke, chronologisch und gattungsspezifisch angeordnet, allen voran die Romane und Erzählungen, Dramen und Drehbücher, dann die übrigen, teilweise erst aus dem in Marbach lagernden Nachlass veröffentlichten Texte, von der politischen, journalistischen, essayistischen Prosa bis zu den Schriften über Medizin, Religion und Philosophie.
Obwohl Döblin bis heute eher als Erzähler und Romanautor wahrgenommen wird, verstand er sich selbst auch als Essayist, ja er sah, darin ein typischer Vertreter der Moderne, die Entstehung seiner Texte aufs Engste verknüpft mit seinem Berufs- und Alltagsleben, wie er in einem Artikel aus dem Jahr 1921 ebenso treffsicher wie humorvoll konstatierte: “Ich tue meine Facharbeit, bin aktiv in allen möglichen Organisationen, ärgere mich, tanze (ziemlich schlecht, aber dennoch), mache Musik, beruhige einige Leute, andere rege ich auf, schreibe bald Rezepte, bald Romankapitel und Essays, lese die Reden Buddhas, sehe mir gern Bilder in der Woche an, das alles ist meine Produktion.“
Diesem gleichberechtigten Nebeneinander von Textsorten, dieser Wechselwirkung von produktiver und rezeptiver Tätigkeit wird das Handbuch gerecht, indem es den belletristischen und nonfiktionalen Werken in etwa den gleichen Umfang widmet und darüber hinaus den gegenseitigen Einflüssen breiten Raum widmet. So untersucht etwa Thomas Anz die spannungsreiche und komplizierte Beziehung Döblins als Arzt und Schriftsteller zur Psychoanalyse, die in seinen Schriften, etwa in der Assoziationstechnik oder überhaupt im analytischen Blick, erkennbare Spuren hinterlassen hat. Dass ihm jedwede Dogmatik fern lag, zeigt sich auch in Döblins Verhältnis zur Philosophie, hier besonders zu Nietzsche, sowie zu den beiden mosaischen Religionen. Sein Engagement für das Judentum fand sein Ende in der zeittypischen Auseinandersetzung mit dem Zionismus: „Wieder eine Fahne, die ich nicht halten konnte.“ Selbst seine Konversion zum katholischen Christentum, die er mit der gesamten Familie vollzog, verarbeitete er in Religionsgesprächen („Der unsterbliche Mensch“, „Der Kampf mit dem Engel“), deren dialogische Struktur durchaus entgegengesetzte Positionen erlaubten.
Döblins Gesamtwerk wird in dem Kapitel „Kontexte: literatur- und kulturhistorisches Umfeld“ einerseits mit den kulturhistorischen Strömungen seiner Zeit (Expressionismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit) konfrontiert (Sabina Becker), andererseits aber auch in seiner spezifischen Kopplung von Literatur und Wissen(schaften) beleuchtet. Döblins Erzählverfahren, das vor allem in den großen Romanen der zwanziger Jahre auf Depersonalisierung und Entpsychologisierung von Figur, Erzählinstanz und Autor zielt, kann nur über die Indienstnahme außerliterarischen Wissens realisiert werden. Nach Hania Siebenpfeiffer steht Döblin „damit wie kaum ein anderer Autor der klassischen Moderne für die Zirkulation und Transformation diskursiver Wissensbestände im Interdiskurs Literatur.“
Das gesamte Handbuch indes zeugt von der Tatsache, dass Döblin eine „der einflussreichsten Vatergestalten der neueren deutschen Literatur“ (Manfred Durzak) ist. Die Beiträge folgen fast alle dem bewährten Schema: Entstehung, Inhalt, Deutung und Wirkung. Dem Charakter eines Handbuchs entsprechend, wird von namhaften Döblin-Forschern der aktuelle Wissensstand in Übersichten und prägnanten Zitaten referiert. Darüber hinaus machen alle Beiträge deutlich, dass Döblin als Vertreter der Klassischen Moderne keineswegs ein widerspruchsfreies Werk hinterlassen hat, dass vielmehr seine Mehrdeutigkeit Ausdruck eines Selbstfindungsprozesses ist, dem zu folgen eine durchaus spannende Anstrengung darstellt.
Das vielschichtige Schaffen Döblins liegt nunmehr in den 24 Bänden der Gesammelten Werke in Einzelausgaben vor, eine historisch-kritische Ausgabe oder gar eine digitale Präsentation fehlen indes noch.
PS: Für das Jahr 1891 hebt die Chronik hervor, dass Döblin seine traumatischen Schulerlebnisse 1928 in einer „Gespenstersonate“ geschildert habe, welche dann allerdings weder im Werkregister noch im Jahre 1928 der Chronik auftaucht. Erst das genaue Studium des Handbuches verrät, dass die „Gespenstersonate“ ein Kapitel des Buches „Alfred Döblin: Im Buch – Zu Hause – Auf der Straße“ ist, mit dem der S. Fischer Verlag 1928 den 50. Geburtstag des Autors feierte.
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