Zukunft? Ungewiss, aber vorstellbar!

Jens Beckert profiliert die Hauptrollen von Imaginationen und Narrationen in Wirtschaftspraktiken

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Gegenwart muss entschieden werden. Immer gerade jetzt: beim Einkauf des Konsumenten, beim Investment des Unternehmers oder Finanzanlegers, beim Sprechhandeln von Politikern und Notenbankern. Ob das gekaufte Konsumobjekt den erwarteten Nutzen bringt, ob es die erträumten Lüste befriedigt, das ist in der Entscheidungsgegenwart so unsicher wie die erhoffte Rendite des investierten Kapitals oder die Wirkung regulierender Aktionen von Politikern. Nutzen- oder Ertragserwartungen bewahrheiten sich erst in künftigen Momenten einer offenen, mithin ungewissen Zukunft – die aber hängen ab von Myriaden an Ereignissen der lokalen wie globalen Wirtschaftsentwicklung und von sich eventuell ändernden Präferenzen. Dies ist eine durchaus ungemütliche, riskante Gemengelage, geprägt von Nicht-Wissen – was im Alltag freilich meist ausgeblendet, per Bauchgefühl dezisionistisch übersprungen oder mit Geschichten narrativ plausibilisierend überspielt wird.

Wie überbrücken Wirtschaftsakteure, vom einzelnen Konsumenten bis zum Konzernvorstand oder Zentralbanker, die Ungewissheit, die sich zwischen Entscheidungsgegenwart und den je künftigen, über Befriedigung und Gewinn entscheidenden Ereignissen breit macht? Das ist die Grundfrage des wichtigen Buchs von Jens Beckert. Durch Imaginationen, das heißt: durch gewissermaßen fiktionale Szenarien, die erzählend das auf die Entscheidung folgende Geschehen veranschaulichend vorwegnehmen. So lautet, in aller Kürze, Beckerts richtungsweisende Arbeitshypothese.

Der für originelle Fragestellungen bekannte Wirtschafts-Soziologe ist Direktor am Kölner Max-Planck Institut für Gesellschaftsforschung. 2018 wurde er mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Was ihn nun materiell noch besser in die Lage versetzen wird, seinen Forschungsideen im Verbund mit großer Mannschaft nachzugehen. Länger schon suchen Beckerts Studien nach einer – im Gegensatz zu neoklassischen homo-oeconomicus und rational-choice-Modellierungen – realistischeren Beschreibung von Märkten und Wirtschaftssubjekten aus der Perspektive des sozialen Handelns. Die Werte- und Wettbewerbsprobleme ökonomischer Akteure, aber auch ihre Erwartungen und Kooperationen im Zeichen ungewisser Zukünfte werden aus dieser Perspektive nicht unter den Tisch gekehrt (weil sie zu komplex oder vermeintlich irrational seien), sondern als Umgangsweisen mit Unsicherheit im Hinblick auf ihre Einbettung in soziale Praktiken verständlich gemacht.

Die Profilierung der Imagination als Kernkompetenz wirtschaftlicher Diskurse und Entscheidungen entwickelt Beckerts Buch in zehn Kapiteln. So werden Schritt für Schritt jene für Wirtschaftsabläufe überaus wirkmächtigen Zukunfts-Praktiken und Institutionen analysiert, die auf je spezifische Weise Imaginationen als Vorgriff auf (erstrebte oder abzuwehrende) Zukünfte einsetzen. Modellierungen von Zukunft wurden im Laufe der Moderne, wo kaum etwas dauerhaft beim Alten blieb, immer wichtiger. Die ersten drei Kapitel untersuchen im Rückgriff auf vorliegende soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und philosophische Modellbildungen, wie in einer zunehmend dynamisch sich verändernden Welt trotz elementarer Ungewissheit des Kommenden gleichwohl Erwartungen gebildet und fixiert sowie Entscheidungen gefällt werden.

Etwas unglücklich wirkt dabei, zumindest aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, dass Beckert die imaginierten Zukünfte als ‚fiktionale Erwartungen‘ bezeichnet. Denn diese wirtschaftlichen Narrationen oder Szenarien formieren zwar Erwartungen unter Unsicherheit, gewiss sind diese Szenarien auch bloße Vorstellungen (Imaginationen ohne gesicherte Referenz oder Wahrheitswert). Doch zielen diese Erwartungsszenarien eben im Gegensatz zu den fiktiven Welten von Romanen oder Spielfilmen gänzlich auf die reale Welt und auf reale Agenten – von der Einzelperson bis zur Firma oder dem Staat. Sie sind demnach wohl ausgedachte, vorgestellte Erwartungen, nicht aber fiktionale Erwartungen (sondern eben ungewisse, unsichere Real-Erwartungen). Wiewohl Beckert sich in seiner stets umsichtig und gelehrt voranschreitenden Studie auch bei der Einführung seines Begriffs fiktionaler Erwartungen auf einige vorliegende Fiktionstheorien bezieht, vermag die Qualifizierung, ungewisser (Real-)Erwartungen und ungesicherter Narrative als Fiktionen nicht recht zu überzeugen. Doch tut dieser terminologische Missgriff seiner Argumentation im Großen und der Herausarbeitung der Funktionen von Imaginationen und Narrationen für alle Zukunftsoperationen des Wirtschaftens keinen entscheidenden Abbruch.

Im Mittelteil untersuchen vier Kapitel, mit welchen imaginativen und diskursiven Mitteln Kerninstanzen des Kapitalismus Zukunftsorientierung inmitten dynamischen Wandels umsetzen: Geld und Kredit, Investitionen, technologische Innovationen und schließlich Konsumhandlungen, welche nicht einfach Objekte verbrauchen, sondern sich im Zeitalter materiellen Überflusses vor allem Zeichenwerte und Bedeutungen aneignen möchten. Das Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel Geld und die auf Wachstum angewiesene Kreditfundierung modernen Zentralbankgelds beruhen auf dem funktional notwendigen Versprechen, auch zukünftig noch wertvoll, das heißt, in Güter konvertierbar zu sein. Investitionen in Firmen, Immobilien, Rentenpapiere eventuell auch in die persönliche Bildung werden in Erwartung künftiger Gewinne getätigt. Und sie benötigen Narrative, wie diese Zukünfte in etwa aussehen und wodurch die Gewinne eintreten werden. Zentrale Agenten jener Veränderungen, welche die Welt im Kapitalismus alle paar Jahre ziemlich anders aussehen lassen, sind technische Erfindungen, die gleichfalls aus Imaginationen neue Geräte entwickeln. Auch deren sozialen Verwendungen in künftigen Lebensweisen können nur per Zukunftsimaginationen narrativ hergeleitet werden. Man denke nur an die Veränderungen, die Smartphones in den Lebensvollzügen ihrer Nutzer binnen zehn kurzer Jahre hervorriefen.  

Beckerts drei letzte Kapitel diskutieren die Zukunftsorientierung moderner Lebens- und Wirtschaftsweisen gleichsam auf Meta- oder Reflexionsebene. Sie untersuchen den Umgang der heiklen Künste der Prognostik und der Theorie-Modellbildung mit (notwendig) unsicheren Zukünften und mit Imaginationen. Ein Kapitel studiert die Geschichte und Diskursmechanik der Prognosetechniken (vom Orakel in Delphi bis zu den Wirtschafts-Weisen); das zweite Kapitel analysiert wissenschaftliche Wirtschaftstheorien unter pointiert polemischer Perspektive als „Kristallkugeln für die Berechnung der Zukunft“. Dieser Kapiteltitel indiziert schon, dass es bei den Wirtschaftstheorien letztlich weniger um echte Kalkulierbarkeit, sondern eher um magische oder tricksende Zukunftsvorgriffe geht, die sich das Mäntelchen der Berechenbarkeit umhängen und von ihren Praktikern meist szientifisch missverstanden (das heißt in ihren Imaginations- und Ungewissheits-Potentialen unterschätzt) werden. Auch das Schlusskapitel argumentiert unter der suggestiven Überschrift „Die verzauberte Welt des Kapitalismus“, die sich gegen Max Webers These der entzauberten Sachlichkeit moderner Ökonomie wendet, wie sehr eine auf Wandel und Innovation basierte Wirtschaftsweise mehr auf Imagination als auf Kalkulation angewiesen ist. Narration statt berechnende Trend-Fortschreibung des Alten oder Gegenwärtigen lautet hier die Devise.

Auf Imaginationen beruht die Logik des Kredits, welcher modernem Wirtschaften auf Basis von ungedecktem Zentralbankgeld und Geldschöpfung durch Geschäftsbanken zugrunde liegt. Aus Imaginationen entspringen die Pläne technischer Erfinder und die Narrative, die es zu deren Finanzierung und Umsetzung bedarf. Mit Imaginationen operieren letztlich auch wir alle als Konsumenten, die jetzt Dinge kaufen, die uns in der Zukunft produktiver oder glücklicher machen sollen. Auch die Gutachten zahlreicher Prognose-Institute, die Zukünfte der Wirtschafts- oder der Technikentwicklung ausmalen, basieren auf Imagination und Narration – wie sehr diese auch an Daten vergangener Entwicklungen angelehnt sein mögen.

Eine Pointe von Beckerts Studie liegt in der Beobachtung, dass sich Zukunftsimaginationen sehr oft nicht bewahrheiten und trotzdem für die handelnden Akteure unverzichtbar sind. Es kommt oft anders als gedacht, und doch möchte kaum einer ohne Plan und Szenario Entscheidungen fällen. Die Hinfälligkeit vieler Zukunftsszenarien wird offensichtlich, wenn man die nie eingetroffenen Technik-Utopien von vor 50 Jahren Revue passieren lässt. Oder wenn man an die durchaus regelmäßig so nicht eintreffenden Prognosen des Wirtschaftswachstums denkt, die mit viel Aufwand von den einschlägigen Forschungsinstituten erstellt werden. Besonders krass daneben lagen sie im Hinblick auf die Finanzkrisen von 2007ff., als keine dieser Experten-Instanzen die Entwicklungen der Banken- und der folgenden Wirtschafts- und Staatsfinanzkrise prognostiziert hatte.

Doch erkennt Beckert den tieferen Zweck und Nutzen der (sachlich ex post häufig hinfälligen) prognostischen Zukunftsszenarien in ihrer Orientierungs-, Motivierungs- und Koordinierungsfunktion für die Wirtschaftssubjekte in ihrer Entscheidungsnot. Besser als blind, ratend oder gar nicht zu agieren, scheint es daher, sich auf verfügbare Imaginationen und Prognosen zu stützen. Denn wenn Entscheidungen übermäßig aufgeschoben werden, wenn nicht investiert und konsumiert wird, bedeutet dies das sichere Stocken des  Wirtschaftsablaufs: Wirtschaftskrisen. Die Blockade von Imaginationen, der Ausfall von Narrationen des Kommenden bedeutet ein „Schrumpfen der Zukunft“, das für die Akteure handlungslähmend und für die Wachstumslogik der Kreditwirtschaft desaströs ist. Prognosen (und insbesondere etwas zu optimistische!) dienen mithin als handlungsleitende Brücken aus der Entscheidungsgegenwart in die letztlich ungewisse Zukunft.

Freilich zeigt Beckert als Soziologe, dass diese Imaginationen spezifischer Zukünfte eben keinesfalls neutral, demokratisch oder zufällig wirkmächtig werden – und wie gewisse Akteure (durch Beratungen mit anderen, so die Prognostiker des Wirtschaftswachstums, die mit Wirtschafts- und Politikakteuren im Austausch stehen) ihre Zukunftsszenarien wirkmächtiger platzieren können als andere, die nicht diesen Netzwerken angehören. Dieser machtgestützten und interessengeleiteten ‚Politik der Erwartungen‘ widmet Beckert aufschlussreiche Unterkapitel. Das treffliche Konzept der „Politik der Erwartungen“ zeigt (Aufklärung im besten Sinne), wie Vorgriffe auf angestrebte oder abgelehnte Zukünfte mittels Imaginationen und Szenarien verstrickt sind in widerstreitende Interessen und soziale Kämpfe.

„Zukunft zählt“ lautet Beckerts Motto für sein Projekt, den ubiquitären imaginären Zugriff auf Kommendes, den modernes Wirtschaften ständig unternehmen muss, als soziales Handeln begreifbar zu machen. Dieses Programm stellt Beckert dem Motto „Vergangenheit zählt“ der Institutionalisten gegenüber, welche die Pfadabhängigkeit sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen schon recht gründlich untersucht haben. Nicht alleine die überlieferten Gesetze, Regeln und Institutionen prägen Spielarten der „Varieties of Capitalism“: anglo-amerikanisch, rheinisch, japanisch, chinesisch. Es kommt auch auf die Zukunftsvorstellungen und Narrative an, mit denen Entscheidungen begründet und getroffen werden.

Vor zehn Jahren publizierte Richard Bronk, ein englischer (Ex-)Banker mit geisteswissenschaftlicher Cambridge Ausbildung und Forschungsengagement an der London School of Economics, seine bedeutende Studie The Romantic Economist. Bronk skizzierte im Rückgriff auf Überlegungen von John Stuart Mill, William Wordsworth, Samuel Coleridge unter anderem eine Alternative zur neoklassischen Wirtschaftswissenschaft. Sein Untertitel lautete Imagination in Economics und verwies damit auf jene, der rationalen Berechenbarkeit an die Seite gestellte Fähigkeit des Menschen, sich nicht-existente Dinge und Ereignisse, etwa ungewisse Zukünfte mittels Vorstellungskraft zu entwerfen. Bronk, der schon 1999 eine gehaltvolle ideengeschichtliche Studie über Progress and the invisible Hand vorlegte, zählt gewiss zu jenen Ökonomen, die man aufgrund ihres Weitblicks und integrativen Ansatzes (mit Robert Heilbroner) als „worldly philosophers“ bezeichnen darf. Leider ist Bronk in Deutschland weithin unbekannt. Vielleicht ändert sich dies nun. Denn 2019 erschien der von Bronk gemeinsam mit Jens Beckert herausgegebene Sammelband Uncertain Futures über Imaginationen, Erzählungen und ungewisse Erwartungen.

Bronk fungiert zudem auch als einer der Kronzeugen von Beckerts hier besprochener Studie Imaginierte Zukunft. Der Untertitel von Beckerts Buch, das schon 2016 als englische Originalpublikation bei Harvard University Press erschien, indiziert den Zusammenhang von „fiktionalen Erwartungen“ und der alles ständig verändernden Innovationskraft, der „Dynamik des Kapitalismus“. Das nun im Suhrkamp Verlag prominent publizierte Buch weist – ganz im Sinne Bronks – nun vielleicht auch in Deutschland den Weg zu einem raffinierteren, interdisziplinären Begreifen wirtschaftlicher Zusammenhängen, das nicht mehr reduktionistisch wackelige Ausgangsdaten und realitätsferne Wirkungsgesetze (die mit ceteris paribus-Klauseln allzu viel Relevantes ausklammern) mit Mathematik zu vermeintlichen Gleichgewichten zusammenrechnet. Soziales Handeln und unabsehbare Zukunftsoffenheit prägen Wirtschaftszusammenhänge wohl eher als übertragene Gesetze der Mechanik.

Entschlossen sucht Beckert nach realistischeren Modellierungen des Zukunftszugriffs, jenseits unplausibler Modelle einer Theorie rationaler Erwartungen und der diskontierbaren, kontingenzbereinigten Zukunft. Er erkundet Praktiken von Imagination und Narrationen als Umgangsweisen mit einer offenen Zukunft, welche kein Risikomanagement berechnen kann. Beckerts Versuch überzeugt in seiner Anlage wie in seinen meisten Argumentationen. Man mag gelegentlich den einen anderen Verweis vermissen auf andere Theoretiker, etwa auf die Schriften des Literatur-, Geld- und Medientheoretikers Jochen Hörisch, der den Zusammenhang von Glauben und Kredit und das Zusammenspiel weltlicher wie religiöser Deckungslogiken eindringlich wie wenig andere erläutert; Beckert argumentiert wiederholt ähnlich mit dem Totem-Konzept des Religionssoziologen Emile Durkheim. Man mag neben seinem Fiktionsbegriff auch Beckerts (vor allem am Schluss und gegen Max Weber argumentierende) Gegenüberstellung von Rationalität und Imaginationen/Narration nicht mehr recht zeitgemäß finden, wo doch Rationalitätstheoretiker wie Herbert Schnädelbach sowie Anthropologen und Emotionsforscher aufzeigten, wie funktional/rational viele Emotionen oder Imaginationen sind, und wie sehr gerade vernünftige Entscheidungen auf Gefühle oder auch Imaginationen angewiesen sind zur Orientierung und Motivation.

Dennoch sucht Beckerts Buch als großartige Zusammenschau verschiedenster Aspekte des operativen Umgangs mit Zukünften mittels Imagination und Narration in der sozialwissenschaftlichen oder gar wirtschaftswissenschaftlichen Literatur seinesgleichen. Auch die auf vier Seiten präzise dargelegten offenen Fragen und Perspektiven für künftige empirische wie theoretisch-modellierende Forschungen zu den wirkmächtigen Praktiken des Umgangs mit Zukunft zeigen ein letztes Mal, wie wichtig, originell und aussichtsreich der Erklärungsansatz von Beckert auch für dieses Gebiet und in dieser Studie ist. Das Buch, dem man eine große Zukunft prophezeien möchte, verfügt über ein nützliches Stichwort- und Namensregister. Es ist lesenswert für ein gebildetes Publikum mit Interesse an Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Dringend empfohlen für Wirtschaftswissenschaftler und Manager als Ergänzung und Befragung ihrer szientifistischen Selbsteinschätzungen und ihres Umgangs mit Kalkulationen und Narrationen.

Titelbild

Jens Beckert: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Gebauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
569 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587171

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