Poesie follows function

Sieben Beiträge zu einer Tagung über „Netzliteratur im Archiv“ erinnern an die Pionierzeit der Hyperfiction

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Genre der Hyperfiction erlebte eine nur kurze Blütezeit. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre machte sich eine Gruppe von technikaffinen Autoren und Autorinnen auf den Weg, die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts mit den Mitteln der digitalen Technik zu erneuern. Sie beriefen sich dabei auf Ted Nelsons „Hypertext“-Begriff von 1965 sowie auf Julia Kristevas Begriff „Intertextualität“, den diese 1967 in einem Aufsatz über Michail Bachtin einführte. Die Literatur sollte im Webbrowser beweglich werden und die Leserschaft einladen, mit Klickentscheiden den Text aktiv mitzugestalten. Der Tod des Autors oder der neue Wreader machten diskursiv die Runde.

Die Hoffnungen, die damals ins Genre gesetzt wurden, sind indes „kaum erfüllt“ worden, wie Jörg Schuster in seinem Beitrag unumwunden festhält. Gründe dafür gibt es einige. Die Hyperfiction gelangte, in der Optik der technik-konservativen Literatur, kaum über das Stadium der Kurzprosa hinaus; ein Makel, wenn nur der Roman zählt. Die technischen Hürden und Bürden demonstriert der Hyperfiction-Pionier Frank Klötgen in seinem Beitrag über die „Endlichkeit hypermedialer Gestaltungsmerkmale“. Auf elf Seiten veranschaulicht er eindrücklich die Schwierigkeiten, die sich bei der Entwicklung und Weiterentwicklung seines Projekts Endlose Liebe ergeben haben. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass von Text und Schreiben kaum die Rede ist, sondern nur von Programmier-Sprachen und Programmier-Tricks. „Content follows function“, der Text wird von der Gestaltung mitbestimmt und mit ins Verderben gezogen, wenn die programmtechnische Evolution die Gestaltungsmöglichkeiten der Pionierzeit zunichte machen und sie auf heute ubiquitären Tablets und Smartphone versagen lässt. Klötgen demonstriert aber auch, mit welch kreativer Raffinesse die frühe Hyperfiction gestaltet und programmiert war.

Diese technischen Anforderungen stellen entsprechend auch Hürden bei der Archivierung von Hyperfiction dar, die größtenteils längst vom Bildschirm verschwunden sind. Das Literaturarchiv Marbach hat den Versuch gewagt und mit großem Aufwand eine Lösung gefunden. Unter der Adresse http://literatur-im-netz.dla-marbach.de/ ist eine Reihe der stilbildenden deutschsprachigen Hyperfiction archiviert – nebst ergänzenden Blogs und Zeitschriften zum Thema. Schwierigkeiten der Darstellung bleiben weiterhin erkennbar, beispielsweise bei Das Pferd am Handy von Johannes Auer. Sein zupackender kurzer Überblick über die Hyperfiction, die diesen Band einleitet, regt freilich zu einem Besuch auf der Marbacher Archivseite an.

Die angesprochenen Darstellungsprobleme werden in dem vorliegenden Band von Steffen Fritz und Stephanie Kuch in zwei technischen Beiträgen thematisiert. Elisabeth Sporer und Renate Giacomuzzi skizzieren schließlich, wie sich der Fokus verschoben hat. Die Literatur im Internet präsentiert sich heute auf Autorenhomepages respektive Blogs, unter denen jene von Alban Nikolai Herbst (Die Dschungel. Anderswelt) oder Elfriede Jelinek (Neid) herausragen. Solche Seiten nutzen das Netz auf unterschiedliche kreative Weise für die Textproduktion. Das eröffnet auch der Literaturwissenschaft ein neues Forschungsfeld im Sinne einer neuen Kulturpoetik, die Aufschlüsse über die neue Fülle an literarischen Bekundungen geben kann, User-Kommentare mit eingeschlossen.

Der Band aus der Reihe der Marbacher Schriften ruft diese Geschichte nochmals in Erinnerung. Die alte Hyperfiction ist passé, ihr Geist lebt heute nicht zuletzt auch in der seither boomenden Gamekultur fort. Das aber ist eine andere Geschichte.

Titelbild

Jutta Bendt (Hg.): Netzliteratur im Archiv. Erfahrungen und Perspektiven.
marbacher schriften, neue folge, Bd. 14. Hrsg. v. Ulrich Raulff, Ulrich von Bülow und Marcel Lepper.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
109 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319998

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