Hoher Ton im Ausnahmezustand

Alexandra Bernhardt versucht mit „Schwellenzeit: Von Honig und Mohn“ den lyrischen Rückgriff auf Mythos und Märchen angesichts unvermeidbarer anthropologischer Transformationen

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Großgattung ist in der Lage, so ohne Umwege auf die Signale der Zeit zu reagieren wie die Lyrik, denn sie benötigt in der Regel keine völlige intellektuelle Durchdringung ihres Stoffes, sondern ein ganzheitliches, sich unmittelbar im dichtenden Individuum einstellendes Befasst-Sein damit, das seinen sprachlichen Ausdruck sucht. So kann das Gedicht im Idealfall als Seismograph fungieren, als Bauchgehirn einer Umbruchsituation.

Genau dies scheint das Anliegen von Alexandra Bernhardts neuer Gedichtsammlung zu sein. Sie konstatiert auch für unsere Zeit den homme révolté Albert Camus‘, begegnet dem Phänomen jedoch nicht essayistisch, sondern lyrisch, und sieht die Problematik nicht unbedingt im Verhältnis der Gesellschaft zum Absurden wie der große französische Denker, wohl aber in der „Antiquiertheit des Menschen“, so der Klappentext, in der Unfähigkeit des Einzelnen, sich der erwähnten Umbruchsituation zu stellen.

Die von Alexandra Bernhardt angebotene Lösung für den Menschen ist, „angesichts […] seiner Rückabwicklung […] in Mythen und Märchen verläßlich Zuflucht zu finden“. Aber wäre das nicht eher gerade ein Ausweichen, eine Dokumentation des konstatierten Sich-Nicht-Einlassen-Könnens auf sich radikal veränderte Lebensumfelder? Mit dieser Frage nähert man sich dem eigentlichen Inhalt des Gedichtbandes Schwellenzeit, der den poetischen Untertitel Von Honig und Mohn trägt – was dem eben gewonnenen ersten Eindruck von propagierter Weltflucht nicht gerade entgegensteht.

Als Motto vorangestellt ist dem Buch ein längeres Originalzitat aus dem vierten Buch der Aeneis, in welchem die zentralen Motive des Untertitels bereits ihre Erwähnung finden: Honig und Mohn, als Attribute einer geheimnisvollen Priesterin, „welche dem Drachen / Reichte das Mahl“ und die vermag, „durch Spruch und Gesang ein Herz zu erlösen / Wie ihr beliebt, und in marternde Pein ein andres zu bannen, / Wasser zu fesseln im Strom und zurück die Gestirne zu wenden“ (Übersetzung der Textstelle nach gottwein.de), wie es dort heißt – also sowohl Einzelschicksale wie auch gewaltige Naturereignisse zu gestalten.

Hier findet sich also ein erster Hinweis, dass es vielleicht doch nicht um eine wie auch immer geartete Form von Eskapismus gehen könnte, im Gegenteil: Es scheint die Möglichkeit aktiver Handlungsmacht auf. Und folgerichtig gestaltet Alexandra Bernhardt ihren Gedichtband als lyrischen Prozess. Formal serviert sie uns im ersten, Inchoatio (in etwa:  Beginn eines Geschehens) genannten Kapitel ein einziges Gedicht, Den Drachen ein Mahl, in welchem die erwähnte Textstelle aus der Aeneis motivisch gespiegelt wird und die in der letzten Zeile ein mit dem Drachen (als Stellvertreter für Chaos und Gefahr) in Opposition stehendes Glücks-, Wachsamkeits- und Klugheitssymbol einführt:

Bis wieder im Krug
Sich Wasser und Wein
Kerànnymi krählich
Ein Kranich stellt ein

Der kryptische vorletzte Vers verweist zum einen auf das griechische Verb für „vermischen“, zum anderen auf einen adjektivischen Neologismus, der assoziativ mit „Krähe“, „krähen“, aber auch dem „Krähl“ (einer Art Rechen zum Lockern von Erde oder von Schmelzgut in Verhüttungsöfen) in Verbindung gebracht werden kann und die Motivbereiche Wasser/Wein/Krug mit dem des Kranichs (bzw. im Rückgriff auf den Gedichttitel mit dem potenziell Feuer speienden Drachen) in Beziehung setzt.  In der Schwellenzeit, der Zeit des Umbruchs, liegt also der Anfang eines Geschehens, das durchaus zu einem harmonischen Ende führen könnte (formal unterstützt durch den einzigen Reim des Gedichtes „ein / Wein“).

Der Weg hierzu ist allerdings weit: Dem nur aus einem kurzen Gedicht bestehenden ersten Teil folgen die alphabetisch geordneten Cantica (ursprünglich die gesungenen Teile des antiken Dramas) von Abendlied bis Zoloto. Den Abschluss macht dann erneut ein einzeln stehendes Gedicht im dritten Teil des Buches, dem Finale, mit dem Titel Gnade, in welchem wiederum Motive aus dem Aeneis-Zitat und dem ersten Gedicht auftauchen und der Ring sich schließt:

Wir aber die wir
nicht ans Äußerste gingen
nicht an den Rändern verharrten
bereit für den Absturz
Rand der Welt

Wir sangen eine Sonne
auf ein Rad von Kranichfüßen 

[…]      

Wir schlugen heraus aus dem
Eisen ein silbern Lied

[…]

Für Alexandra Bernhardt ist es also das Schaffen des Poetischen, welches „Antwort, Richtung und Weisung“ bietet, um noch einmal eine Formulierung des Klappentextes aufzugreifen, sich mit dem Unvermeidbaren abzufinden: letztlich der eigenen individuellen Vergänglichkeit wie auch der der Menschheit als Ganzes.

Über rund einhundert Seiten breitet Alexandra Bernhardt im Mittelteil ihren lyrischen Kosmos vor uns aus, sie mischt (kerànnymi!) dabei je nach Sujet und Diktion Groß- und Kleinschreibung, unterschiedliche Strophenbauten, Klarsprachliches (welches dann jedoch nicht selten surreale Bilder aufruft) und Kryptisches, und auch hier wird mitunter der Anspruch des poetischen Konzepts als Lebenshaltung aufgerufen:

Ich bin

Ich bin der Wind
der sich verflicht

Ich bin der Wald
der sich dir stellt 

Ich bin der Himmel
der sich dreht

Ich bin das Meer
das in dir wogt 

Das Gewicht der Sprache ist denn auch ein immer wiederkehrendes Element, so etwa im Gedicht Imago II („[…] genährt hat / das Wort dich statt der Mutter /giftige Milch“). Dabei gestattet sich Bernhardt auch Paraphrasierungen und direkte Bezugnahmen auf bekannte Dichterzitate, eine Art kollegiales Winken über Jahrhunderte hinweg: In „Im Winde klirren die Ahnen“ (Schicksalslied) und „wo immer Gefahr ist“ (Rettung) klingt etwa Hölderlin an. Mitunter finden sich neben einem vorwiegend eher hohen Ton auch Neologismen und Wortspiele, da „scharnickelt“ es dann auch schon einmal, wird aus dem Lebertran ein „Lebetran“. All dies stellt die Autorin in den Dienst ihrer poetischen Mission, ohne trotz eines gelegentlichen Augenzwinkerns den großen Bogen aus dem Blick zu verlieren – der Wandlung hin zu einer leer gewordenen Welt, die sich ganz ohne den Menschen selbst umzudeuten in der Lage ist:

Statt eines Kommentars

Belegte ein Blatt
Den Platz des Besuchers
Im Auditorium des Kurparks

Das Orchester
Schwieg einen Tusch:
Der dauerte einen Sommer lang

Ameisen verrichteten
Einstweilen ihr Tagwerk
Unbeeindruckt von der abwesenden Musik

Als es Herbst wurde kehrte eine Krähe
Was von den Noten geblieben war
Um in Neumen 

Der Winter kam
Masquiert

Ob Klage gegen die Entgeistigung der Welt („Morgen dann / bist du ein Bild nurmehr / in niemandes Kopf“), ob Zauberwort („Mutabor“ – „Im Allüberall / ist noch Raum“) oder lateinischer Phrasenverschiebung („Nec plus ultra“): so ganz leicht zu erschließen ist das alles nicht unbedingt. Alexandra Bernhardt verlangt ihrem Lesepublikum eine Menge an altsprachlichem und kulturhistorischem Vorwissen bzw. parallel zur Lektüre erforderlichem Rechercheaufwand ab. Allerdings wird man durch die sich nur langsam erschließenden Verbindungen auch mit vielfältigen verflochtenen Entdeckungen belohnt. Und auf der lautlichen Ebene ergeben sich, ganz unabhängig von der semantischen Vertracktheit, schlicht auch Momente von großer Schönheit, die noch lange nachwirken.

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Alexandra Bernhardt: Schwellenzeit. Von Honig und Mohn.
Edition Melos, Wien 2022.
101 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783950538434

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