Kleine Mädchen, freie Mütter und viel Phantasie

Der Band „Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet“ versammelt kurze literarische Texte aus dem Nachlass Margarete Beutlers

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schriftstellerin Franziska zu Reventlow und ihre weit weniger bekannte Kollegin Margaret Beutler teilten eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Beide verkehrten sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schwabinger Boheme, beide hatten sie ein uneheliches Kind, feierten ihre Mutterschaft und beide verschwiegen den Namen des jeweiligen Kindsvaters. Und natürlich kannten sie einander. Allerdings schätzten sie die literarischen Fertigkeiten der jeweils anderen sehr unterschiedlich ein. Beutler schlug Reventlow 1905 ein gemeinsames literarisches Unternehmen vor, die bald darauf ihrem Geliebten Bogdan von Suchocki mit geradezu sardonischem Vergnügen in einem Brief davon berichtete. Das „schmutzige Beuteltier“ habe ihr „in einem unangenehm vertraulichen Brief“ vorgeschlagen, gemeinsam mit „noch einem Schreckensweib eine literarische Tournée zu machen“. Sie habe Beutler jedoch nicht nur „ziemlich abfahren lassen“, sondern die Kollegin „zu ihrer „Freude“ auch noch „tödlich beleidigt“. Denn „[g]robe Briefe schreiben“ sei ihr „immer ein Vergnügen“.

Anders als im Leben traten sie in der Literatur tatsächlich gemeinsam auf. Zumindest, wenn man Ulrich Linse Glauben schenkt, dem zufolge der mit beiden Frauen befreundete Literatur-Revoluzzer Erich Mühsam Reventlow und Beutler – zusammen mit Frieda Gross – in der Figur der Alma Lüders seines Stück Die Freivermählten verewigte.

Nachdem Beutlers eigene Werke seit nahezu einem Jahrhundert nicht mehr aufgelegt wurden, lässt sich nun immerhin anhand einiger aus dem Nachlass veröffentlichter Kurzgeschichten ein Urteil darüber bilden, ob Reventlows Geringschätzung der literarischen Fähigkeiten Beutlers gerechtfertigt war. Der Germanist Winfried Siebert hat sie gemeinsam mit Martin Freska, dem Enkel der Autorin, unter dem Titel Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet herausgegeben und ihnen mit Erich Mühsams etwas hermetischem Text Grete eine literarische Würdigung Beutlers vorangestellt.

Dass ihre nachgelassenen Werke heute überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen können, verdankt sich einem Zufallsfund auf einem Dachboden Mitte der 1980er Jahre. Wie die Herausgeber mitteilen, umfasst er „über 200 Gedichte, mehr als 50 Erzählungen, ein großangelegtes Romanfragment, ein vollständiges Opernlibretto, zahlreiche Briefe und Rezensionen und etliche Fotografien“. Da nimmt sich die nun getroffene Auswahl von 29 kurzen literarischen Texten recht mager aus.

Einige wenige der nun veröffentlichten Kurzgeschichten sind zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits publiziert worden. Alle anderen sind bis dato unveröffentlicht und undatiert, denn Beutler hat auf den Typoskripten zwar vermerkt, wo sie die Texte geschrieben hat, aber nicht, wann. Nun ließe sich mit Hilfe der Ortsangaben zwar der Entstehungszeitraum eingrenzen, entsprechende Informationen bietet der Anhang des vorliegenden Bandes jedoch nicht.

Die kurzen Texte sind in zwei Gruppen unterteilt, deren erste aus 13 autobiographisch inspirierten Kindheitsgeschichten besteht, die aus der Sicht der Protagonistin Gretchen von deren drittem bis fünftem oder sechstem Lebensjahr erzählen. Sie füllen etwas mehr als die Hälfte des Bandes und wecken Erinnerungen an die ersten Seiten von Marlen Haushofers Roman Himmel, der nirgendwo endet. Das nicht nur, weil Haushofers Meta ebenso wie Beutlers Gretchen als ganz junges Mädchen aus einem Gefängnis – hier ein Kamin, dort ein Fass – über sich nur den Blick auf ein kleines Stückchen Himmel erhaschen können. „[G]anz hoch oben“ erscheint er als ein „schmale[r] helle[r] Spalt“, heißt es bei Beutler, die den Lesenden ihre literarisierte Kinderwelt ebenso feinfühlig und lebendig vor Augen führt wie Haushofer die ihre, allerdings in einem ganz eigenen, unverwechselbaren Ton und in gewisser Weise freier, etwa was die Entdeckung der körperlichen Geschlechtsunterschiede betrifft, die bei Gretchen schon früh zu der „beklemmende[n] Erkenntnis“ führt, „dass es Dinge auf der Welt gibt, die man auch bei besten Willen nicht fertig bringt. Es gibt uralte Mauern, vor denen kleine Mädchen sich ratlos und verwirrt mit nassen Hosen den Bauch vergeblich verrenken“, um beim Wettstreit der Jungs, wessen Urinstrahl am höchsten reicht, mithalten zu können.

Nur gelegentlich mischt sich die Stimme der Erwachsenen in die Erzählungen Gretchens ein oder sie meldet sich am Ende einer Geschichte mit Reflexionen über diese „krausesten und verworrensten Tage[] der Menschwerdung“ zu Wort, in denen „die Knospe ‚ICH’ zum ersten Mal tastende Blütenblätter aus dem schützenden Deckblatt der Unbewusstheit hervorstreckt“. Nicht nur hier entfalten Beutlers Kindheitsgeschichten einen Zauber, von dem man sich nur mit Bedauern verabschiedet.

Die in den zweiten Teil aufgenommenen Kurzgeschichten sind ganz anderer und mannigfaltigerer Art. Sie heben mit einem kuriosen Kriminalfall an, in dem einem Gesangsprofessor der Belag seines in der Manteltasche verstauten Brötchens stibitzt wird. Das Figurenkabinett ist aus Karikaturen zusammengezimmert, wobei die stets weibliche Erzählinstanz – nicht nur in dieser Geschichte – einen oft wenig freundlichen Blick auf die Körper ihrer Geschlechtsgenossinnen wirft. Dafür nimmt sie in einem der Texte allerdings auch einmal an den Körpern der Herren maß. Jedoch nicht in dem bekannten Dreiklang Brust-, Taillen- und Hüftumfang, sondern Kragen-, Taillen- und Wadenweite. Skurril ist die Idee des „Heiratsbüro[s] auf astrologischer Grundlage“, die von einer sehr praktischen „Ehescheidungsschule“ abgelöst wird, während sich ein Mann nicht nur namens Johnny „vom Weibe emanzipier[t]“.

In einer weiteren Humoreske klopft ein Dichter an die Himmelspforte, wird trotz offensichtlicher Bedenken des „Himmelshausmeister[s]“ Petrus gnädig aufgenommen und sogleich beim lieben Gott vorstellig, er möge doch in einem seiner Stücke auftreten.

Dann wieder werden ernste Themen verhandelt. Eine ungewollt schwangere Frau sucht in ihrer Verzweiflung Hilfe bei der Ich-Erzählerin, in der Hoffnung, eine erlösende Arztadresse zu bekommen. Die Protagonistin verweigert sie ihr jedoch und rät ihr stattdessen, den Kindsvater zu heiraten und sich nach der Geburt wieder scheiden zu lassen. Denn nicht jede sei „seelisch stark genug, um eine freie Mutterschaft zu tragen“ und keine gesunde Frau sei „körperlich berechtigt, sich den Folgen [ihrer] Vergnügungen zu entledigen“. Das klingt herzlos und arrogant. Das Problem aber ist, dass der Kindsvater die werdende Mutter partout nicht heiraten will. Die Ich-Erzählerin schreibt ihm einen Brief, um ihn umzustimmen. Die Frage, wie die Hilfe suchende Besucherin sich entscheidet, bleibt offen. Die Alternativen lauten allerdings nicht etwa Schwangerschaftsabbruch oder Mutterschaft, sondern Heirat oder Suizid.

In einigen anderen Texten klingt die Feier des „starke[n], bewußte[n] mütterliche[n] und freie[n] Weib[es]“ noch stärker hervor. Denn als eine solche sah sich die Autorin offenbar selbst. „Sache der Menschlichkeit“, erklärt eine ihrer Protagonistinnen einmal, sei „immer Sache der Mütter. […] Dazu aber brauchen wir denkende, gerechte und freie Mütter, keine Sklavinnen mit Dienstbotenseelen.“ Auch das klingt nicht weniger herzlos und arrogant wie der Bescheid, welcher der verzweifelten Schwangeren erteilt wird. Immerhin aber überlegt die Ich-Erzählerin, es müssten „Mütterheime“ gegründet werden. Denn „[d]ie Gesegneten müssen getragen werden von den Ungesegneten“. Womit wohl gesagt sein soll, dass Frauen, die ihrer Mutterschaft nicht gewachsen sind, von Frauen ohne Kinder Unterstützung erfahren sollten.

Ebenso wie die Kindheitsgeschichten sind auch manche Texte dieses zweiten Teils deutlich autobiographisch inspiriert, dabei allerdings nicht selten von einem Hauch phantastisch anmutender (Natur-)Mystik überweht. Insgesamt aber sind die Kindheitsgeschichten ansprechender.

Wie die Herausgeber ankündigen, wollen sie den hier publizierten Nachlasstexten „weitere […] folgen“ lassen. Damit würde sich sicher ein Wunsch vieler erfüllen, die an dem vorliegenden Band ihre Freude haben.

Titelbild

Winfried Siebert / Martin Freska (Hg.) / Margarete Beutler: Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet.
AvivA Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783932338953

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