#istdaseineanthologie odernureinsammelsurium

„#poesie“ offeriert Lyrik als Dienstleistung für den Deutschunterricht

Von Konstantin AmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstantin Ames

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ziemlich clever, sich an ein potenzielles Publikum zu wenden, wenn es möglichst jung ist. Das ist die einzige Zeit, in der Menschen tatsächlich ein glühendes Anfangsinteresse für eine Kunstform aufbringen, die es nicht leicht hat, überhaupt wahrgenommen zu werden: Gegenwartspoesie. Mit diesem Rezeptionsklischee spielen auf geschickte Weise Nora Gomringer, hochdekorierte Autorin und Leiterin des Bamberger Literaturhauses Villa Concordia, und der Germanist und Schreibcoach Martin Beyer, die für die Herausgabe der Anthologie #poesie verantwortlich zeichnen: „Guten Tag, wie halten sie es eigentlich mit der Lyrik? […] Anstrengend und schwierig zu erschließen? […] Leben wir in einem Land der Gedichtaficionados oder der Lyrikmuffel? Wie sieht es in den Schulen aus?“

Natürlich ist das routinierte Werbe- und Exposésprache. Beyer wie Gomringer wird klar sein, dass die Unzahl an Lyrikwettbewerben, zum Teil auch für Schüler (der bekanntest davon dürfte „Lyrix“ vom Deutschlandfunk sein) den im Vorwort anklingenden, relevanzheischenden Alarmismus – „Häufig wird beklagt, dass das Bindeglied zwischen z[.]B[.]  barocker Lyrik und Lyrik der Jetztzeit fehle. Genau dieses Bindeglied möchte die Anthologie […] sein!“ – einigermaßen konterkariert, und als das dastehen lässt, was er ist: ein ganz klein wenig übertrieben.

Es gibt vereinzelte Selbstkanonisierungstendenzen innerhalb einiger Szenen, vor allem in der selbsternannten Lyrikhauptstadt Berlin. Erfreulich ins Auge sticht vor diesem Hintergrund der Umstand, dass es dem Herausgeber-Duo nicht darauf ankommt, vermeintlich Mustergültiges zusammenzutragen, sondern sich damit begnügt, ein möglichst bunter Querschnitt sein zu wollen: „Bei der Auswahl haben wir einen weiten Textbegriff angelegt und uns […] sehr assoziativ und intuitiv durch unsere Bücherberge gegraben.“ Die gemutmaßten Schwellenängste sollen abgebaut werden. Das Mittel der Wahl sind deshalb vor allem Texte, die ein Identifikationspotenzial für die junge Zielgruppe versprechen. Popkultur und Lied (von Ramstein bis Rödelheim Hartreim Projekt) finden sich daher ebenso in diesem Auswahlband wie das faktografische Listengedicht 9228 von sedziszow von Heimrad Bäcker und der lettristische Text „uuuu[…]“ von Gerhard Rühm, die irrtümlich als „#visuellepoesie“ markiert werden.

Der Beitrag alles des Jahrhundertdichters Rühm wird jedoch vorsichtshalber mit der Markierung „#istdaseingedicht“ versehen, außerdem mit „#experimentell“. Wieso diese Schublade für Bäckers Listengedicht oder auch für wo: wenn es wo war von Franz Mon („#istdaseingedicht“) zum Vergleich nicht aufgezogen wird, lässt leichte Zweifel an der Konsequenz der Verschlagwortung aufkommen. Das Etikett ‚experimentell‘ hat Ulf Stolterfoht in der 17. Nummer der Hildesheimer Literaturzeitschrift BELLA triste auf die prägnante Forderung gebracht: „Man sollte schon versuchen, im Gedicht die Grenzen des konventionalisierten Sprachgebrauchs zu überschreiten, will man an einen Ort gelangen, der nicht schon stark touristisch geprägt ist.“ Nicht wenige der ausgewählten Texte wären in diesem Sinne als allzu touristisch anzusprechen, sie garantieren aber einen für die Zielgruppe nicht geringen Lesespaß.

Blöd wäre dann halt nur, wenn im Aufsatz oder gar im Deutschabitur statt einem Heinz-Erhardt-Schwank oder einer Knef-Schnulze (beide sind vertreten) doch so ein fieses Mayröcker-Gedicht (Marke „schwierig zu erschließen“; nicht vertreten) der Interpretation harrte. Gerade aber diese Poesie, von der manche vielleicht denken, sie bedürfte in besonderem Maße der Vermittlung: Sie wartet nicht auf betuliche Dienstleister, sie ist schon längst – mit Charles Bernstein zu sprechen – zum Angriff übergegangen. Poesie in einem umfassenden Sinn ist in dieser Anthologie fast nicht vertreten oder nur in Form historischer Beispiele von Rühm, Mon oder Bäcker. Als ob dieser Aspekt der literarischen Moderne eine geschlossene Akte sei. Dem ist aber überhaupt nicht so.

Wenn allerdings schon ein phonozentrisches Gattungsparadigma zugrunde gelegt wird, wieso fehlen dann Ausflüge in die angrenzenden (und ubiquitären) Disziplinen der Poesie, des Rap und des Hip-Hop? Deine Reime sind Schweine, die bemerkenswerte Diss-Verballhornung von DJ Koze fehlt in diesem hipp auftretenden Lesebuch ebenso wie überhaupt irgendein Raptext der Fantastischen Vier. Wo ist die Autorin Nora Gomringer, die auch Slammerin ist? Sie selbst ist mit einem Erzählgedicht vertreten, das aus der Feder von, sagen wir, Robert Gernhardt hätte stammen können, was dessen Fehlen in der Anthologie dennoch nicht wettmacht. Bas Böttcher, der Pionier des deutschsprachigen Poetry Slam, ist mit der vergleichsweise harmlosen Tirade Syntax Error aus Vorübergehende Schönheit (2014) vertreten. Und wenn Streitbarkeit und politische Thesenfestigkeit ein Anliegen der vorliegenden Auswahl ist, die wie selbstverständlich am medialen Erregungspotenzial und an Verkaufszahlen bemessen wird, was sich etwa an der Aufnahme von Yahya Hassans Text GHETTO GUIDE aus dessen Band Gedichte (2014) zeigt: Wieso fehlen dann Beispiele aus dem Genre Gangsta-Rap? Wieso stattdessen ein Sommerohrwurm wie Schwarz zu Blau von Peter Fox in die Sammlung aufnehmen? Ist das wirklich ein valides Beispiel für „#expressionismus“? Wäre da nicht Walther Mehrings Berlin simultan ebenfalls ein passendes, möglicherweise adäquateres Stück Expressionismus der Marke ‚Gebrauchslyrik‘ gewesen? Immerhin hat die vorliegende Edition, die sich selbst als „Experiment“ beschreibt, solche Vorbilder wie Erich Kästners Lyrische Hausapotheke und auch die schmissige Alltagsmelancholie von Mascha Kaléko („Denn der Tod tut nicht weh./Nur das Sterben.“) fehlt nicht. Wieso ist Jan Böhmermanns skandalöses Schmähgedicht (selbst in Ausschnitten) außen vor geblieben? Ein „weiter Textbegriff“ (Vorwort) wäre generöser verfahren und mit deutlich mehr Mut zur Kontroverse und zu dem, was landläufig unter ‚politischer Lyrik‘ firmiert: Schittko, Cotten, Bresemann, Wandeler-Deck, Erb, Crauss. Fehlanzeige.

Das Vorwort wirft die rhetorische Frage auf: „Was ist Lyrik anderes als bildreiches Sprechen?“ Von der unübersehbaren Tendenz der Gegenwartspoesie hin zu gesteigerter Intermedialität, vor allem hin zum Anschluss an probate Konzepte der Bildende Kunst oder auch der Performance Art, gibt #poesie nur einen schwachen Eindruck. Im ganzen Band finden sich nur zwei Bildgedichte; zum einen Soldat von Claus Bremer (aus dem Sammelband Mein Weg durch die konkrete Poesie von 1983), außerdem Wie ein Gewitter von Lydia Daher, das dem Collagenband Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies (2014) entnommen ist. Namentlich die Visuelle Poesie blüht in diesem Jahrzehnt wie lange nicht. Zu den Altmeistern dieser Kunstform wie Klaus Peter Dencker sind in unserem  Jahrzehnt neue Namen hinzugekommen, erwähnt seien stellvertretend nur die herausragenden Arbeiten von Simone Kornappel (Voxelgedichte) und von Mara Genschel (Textnegation). Diese starke Strömung der Gegenwartsdichtung zugunsten von Lyrik (pointiert gesagt: der Poesie vornehmlich fürs Ohr und ohne schriftbildlichen Eigensinn) fast vollständig auszublenden, ergibt letztendlich ein sehr unvollständiges Bild poetischer Vielfalt. Natürlich wird Schülerinnen und Schülern eine solche Form von Poesie mit höherer Wahrscheinlichkeit fremd bleiben als liedhafte Texte. Vor allem, wenn Lydia Dahers grandioser Beitrag, wie zuvor schon Gerhard Rühms alles, mit „#istdaseingedicht“ verschlagwortet wurde. Das gilt auch für andere Markierungen dieser Art unter anderen Beiträgen, die als absolut gelungene poetische Findungen zu bezeichnen sind, etwa Ernst Jandls auf dem land, marmelade von Carolin Callies oder Anschauung „to go“ von Ron Winkler. Im Fall von Beiträgen aus dem Bereich der Spoken Word-Szene unterbleibt diese Markierung in allen Fällen. Zur Problematik eines nicht explizierten lyrischen Gattungsparadigmas tritt eine Hemdsärmeligkeit hinzu, die im vorliegenden Kontext  (Schullesebuch) in Gefahr ist, einem populistischem Argumentationsersatz und suggestiver Interpretationsformierung zum Verwechseln ähnlich zu sehen: „#istdaseingedicht“ wäre dann ein Wiedergänger der Scheinfrage, ob etwas Kunst sei oder eben weg könne, und eben kein „assoziatives Spiel“ mehr wie im Vorwort verlautbart.

Etwas mehr Zutrauen der Editoren in die Neugierde Heranwachsender, und daraus folgender Mut zu höherem sprachartistischen Niveau, hätten aus #poesie eine durchaus überzeugende Auswahl machen können. Die ohnehin schmale Sammlung bleibt – darüber können die ansprechende Gestaltung des Buchs und die bündige Hinführung zu den versammelten Texten über thematische und Epochenvignetten wie die oft auch einleuchtende Verschlagwortung der Gedichte via Hashtags nicht hinwegtäuschen – bedauerlicherweise ein Sammelsurium. „Die Welt muss #poetisiert werden“ verkünden die Herausgeber mit Novalis, wohlwissend, dass sie keine Beiträge von Autor*innen des Verlagshauses Berlin aufgenommen haben, dessen Verlagsmotto bekanntlich lautet: „Poetisiert Euch!“ Wenn überhaupt irgendetwas etwas „frech“ (Vorwort) ist an diesem Reader, dann das. #poesie leistet zur Verfestigung eines engstirnigen Blicks auf avancierte Poesieformen einen unrühmlichen Beitrag.

Titelbild

Nora Gomringer / Martin Beyer (Hg.): #poesie.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2018.
126 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911973

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