Nicht mit ihm und nicht ohne ihn

Regula Biglers erzählerisches Debüt „Lautlos“ um eine problematische Paarbeziehung springt nur scheinbar auf den derzeitigen Mystery-Trend auf

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lautlos sei die Geschichte um einen Mord, der „ebenso doppelsinnig [bleibt] wie die geisterhafte Erscheinung des Totgeglaubten, der im zweiten Teil der Novelle eine Stimme bekommt“, kündigt der Klappentext vollmundig an. Eine Geistergeschichte? Ein Fall von kollektiver Täuschung? Ein Psychospiel um Schuld und Abschiednehmen? Oder eine schlichte Vorwegnahme des Endes? Doch der Reihe nach:

Der Rahmenerzähler, ein getrennt lebender, namenloser Vater einer halbwüchsigen Tochter, blickt zurück auf Ereignisse, die sich vor zwei Jahren abgespielt haben: Einige Freunde aus alten Zeiten finden sich während der Pandemie in einem abgelegenen Bergdorf in den Alpen zusammen und vertreiben sich die Zeit mit Berichten über ihre selbst erlebten Liebes- und Beziehungsgeschichten. Nur Clara hält sich damit zunächst zurück, bricht dann aber ihr Schweigen und bekennt, ihren Freund Marek im Jahr zuvor während einer Bergwanderung in Ligurien einen Abhang hinuntergestoßen zu haben. Der Fall hatte damals die Öffentlichkeit beschäftigt, da Mareks Leiche nie gefunden wurde. Der italienischen Polizei gegenüber hatte Clara das Geschehen als Unfall dargestellt – die Ermittlungen verliefen im Sande.  

Anhand dreier Stationen ihres Lebens rekonstruiert Clara in einer nur von kurzen rahmenden Passagen unterbrochenen Binnenerzählung ihre Beziehung zu Marek: zwei Urlaube in Südengland und Südfrankreich sowie der Versuch, in einer nicht näher bezeichneten Großstadt endlich zusammenzuziehen und so etwas wie eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. All diese Begebenheiten erzählen vom Scheitern einer von Grund auf ambivalenten Paarkonstellation: außer einer körperlichen Anziehung sowie einer Vorliebe für Hunde und unfertig bleibende Umweltprojekte scheint die beiden nicht allzu viel zu verbinden; vor allem Mareks Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit ein Haar in der Suppe zu finden, löst offenbar immer wieder Streit aus. Dass Clara hinter das Verhältnis Mareks zu ihrer gemeinsamen Freundin Helena kommt, trägt auch nicht zur Verbesserung der Situation bei. Beide ziehen wieder in getrennte Haushalte in der Kleinstadt, aus der sie kamen. Anlässlich einer weiteren gemeinsamen Reise – eben jener nach Ligurien – wollen sie einen Neuanfang wagen:

„Warum denn ausgerechnet jetzt noch einmal?“, fragte ich, „das wäre der vierte Versuch.“ „Eben“, er lachte, „keine Zahl aus dem Märchen. Kein Wunsch mehr frei. Diesmal klappt es wirklich.“

Doch wieder eskaliert es zwischen ihnen, Clara erkennt, dass es nur ein mögliches Ende für den unerträglichen Schwebezustand ihrer Beziehung geben kann:

Ich stieß zu. Rasch. Aber überlegt. Wohlüberlegt. Ohne Bedauern. Schweigend. Mit weit offenen Augen. Bei vollem Bewusstsein.
Wie schön er war, als er fiel, wie still er war, er schrie nicht, er war sicher nicht einmal überrascht. Wunderschön war er.
Ich erinnere mich an diesen Augenblick mit Freude zurück.

Unmittelbar nach diesem Bekenntnis hat die Freundesgruppe im Bergdorf eine Art gemeinsame Erscheinung. Eine „konturlose Gestalt“, mutmaßlich der verschwundene und totgeglaubte Marek, kommt auf die Gruppe zu, Clara erhebt sich, geht ihm entgegen, die beiden scheinen miteinander in einiger Entfernung zu den anderen zu kommunizieren. Ob das Geschehnis real oder eine Einbildung ist, bleibt unklar. In der Folge kommen sich jedoch der Rahmenerzähler und Clara näher und werden selbst ein Paar.

Ein weiterer Urlaub in den Alpen zwei Jahre später wird nun aus der Sicht der heranwachsenden Tochter berichtet: Im Bergdorf taucht Marek mit Meike auf, die er nach  seinem Verschwinden in Südamerika kennengelernt hat. Er bekennt, seinen vermeintlichen Tod für einen weiteren Neuanfang, ein weiteres Sozial- und Umweltprojekt, genutzt zu haben. Clara reagiert ambivalent, fühlt einerseits die Schuld der Tötung aufgehoben, andererseits kann sie die Rückkehr Mareks nicht als Realität verarbeiten. Die Tochter kommentiert:

Vielleicht gibt es ja Gespenster, kann schon sein. Clara behauptet steif und fest, dass dieser Marek und diese Meike zwei Gespenster gewesen seien. Ziemlich abgespacet. Aber warum eigentlich nicht?

Regula Bigler, die Autorin der Novelle, lässt ihre Lesegemeinde am Ende mit vielen Fragen zurück. Das müsste an und für sich nichts Schlechtes sein – insbesondere für die fantastische Literatur gilt ja das sinngemäße Diktum von Todorov, dass nur das weder ins Wirkliche noch ins Wunderbare gewendete Geschehen tatsächlich als fantastisch im engeren Sinne bezeichnet werden könne. Und doch stellt sich Unbehagen ein, denn die Geschichte behauptet mehr ihren übersinnlichen Anteil als dass sie ihn zeigt: lediglich die erste Begegnung zwischen Clara und Marek nach ihrer Erzählung von seinem vermeintlichen Tod umweht ein Hauch von mysteriöser Erscheinung. Das zweite Auftauchen Mareks, noch dazu während einer so alltäglichen Situation wie beim Einkaufen im Bergdorf, wirkt so banal und realitätsnah, dass es dann doch schwerfällt, auf der Ebene der Rezeption an ein Trugbild zu glauben. Eine rein psychologisierende Deutung steht allerdings auf ähnlich schwachen Beinen, da die Fallhöhe für Claras Tötungsabsicht eher gering ausfällt und insgesamt konstruiert erscheint, was vor allem der nur wenig Tiefe vermittelnden Figurenzeichnung von Clara und Marek geschuldet ist. Auch der Versuch der Multiperspektivität kann dieses Manko letztlich nicht auffangen. Die im Text immer wieder auftauchenden Sujets von Umwelt- und Klimarettung einerseits und der Beziehungen von Mensch und Hund andererseits stehen zudem in einem eher locker verbundenen Verhältnis zur Handlung und erscheinen austauschbar.

Immerhin liest sich Lautlos, die erste fiktionale Arbeit der Bernerin Regula Bigler, die bisher in erster Linie wissenschaftliche Texte zu intermedialen Fragen veröffentlicht hat, insgesamt erstaunlich flüssig und bläht vor allem den Plot nicht auf Romanlänge auf, wie man es leider so oft erleben muss, sondern weiß auf rund hundert Seiten alles Wesentliche zu erzählen.

Titelbild

Regula Bigler: Lautlos. Novelle.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
101 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-13: 9783826081132

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