Eine Liebeserklärung an Berlin

Jens Bisky schreibt die „Biographie einer großen Stadt“

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Büchern über Heinrich von Kleist und Friedrich den Großen hat Jens Bisky eine Biographie über Berlin verfasst. Sowohl der Titel als auch die Gattungsbestimmung verheißen ungewöhnlich Großes.

Worum geht es? Der Buchtitel, in dem Berlin als „groß“ attribuiert wird, weckt Assoziationen: Eine flächen- und einwohnermäßig große Stadt? Oder eine Stadt mit großer Geschichte? Eine Stadt von weltgeschichtlich großer Bedeutung? Irgendwie von allem etwas. Es besteht kein Zweifel, dieses Stadtbuch ist mit großer Zuneigung geschrieben und liest sich wie eine tausendseitige Liebeserklärung. Es ist aber auch, wie Bisky betont, der Versuch, die persönliche, biographische Enteignung rückgängig zu machen.

Aby Warburgs Maxime „Der liebe Gott steckt im Detail“ dürfte Jens Bisky ernst genommen haben, denn er entfaltet ein monumentales Stadtbekenntnis, beginnend 1650 im märkischen Umland an der Spree, um dann fast sagenhaft, jedenfalls von Mythen umrankt, den Weg zur heutigen europäischen Weltstadt zu skizzieren. Als Journalist setzt Bisky auf eine klare und chronologische Erzählweise, gespickt mit literatur-, kunst- und kulturgeschichtlichen Details zur Stadtgeschichte. Der streng chronologische Aufbau erleichtert die Lektüre nicht nur, er erlaubt auch kleine Schlenker und Abkürzungen beim Lesen zu nehmen, desgleichen lädt er ein, an manchen Stellen zu verweilen.

Man kann die Liebeserklärung in der Vorliebe zum Detail erkennen, denn oft sind es anekdotische Marginalien, die den Unterschied ausmachen und der Stadt im Ganzen zu einer außergewöhnlichen Signatur verhelfen. Gleichwohl geht der Detailreichtum stellenweise zulasten der Gesamtlektüre. Unschätzbar ist hingegen der Umstand, dass Bisky grandios erzählen kann. Wenn er von Lessing zum armen Mann aus dem Toggenburg, Ulrich Bräger, springt, dann leitet er dessen Auftritt 1756 mit großem Staunen ein: „Berlin war die größte Stadt, die Bräker je gesehen hatte.“ Es ist eine Geschichte aus Geschichten.

Dass die Biographie einem erzählerischen Duktus folgt, verdeutlicht der erste Satz: „Am Anfang war die Spree.“ Das klingt zu biblisch nach Johannesprolog. Es hat auch etwas Märchenhaftes. Etwas wird zu unbestimmter Zeit lokalisiert. Am Ende schließt sich der Spannungsbogen wieder an der Spree. Die eingängige Darstellung der Stadtgeschichte wird freilich mit weiteren Höhepunkten versehen; etwa zur Zeit der Aufklärung. Eine Vorliebe hegt der Autor für die Literaten, deren Epigonen nicht nur in den historischen Verlauf eingeebnet sind, sondern aus der Geschichte herausstechen. So wird Friedrich der Große eher im Zeichen der Macht als der Aufklärung geschildert, dessen Größe aber vielleicht darin bestand, dass er dem aufklärerischen Dreigestirn Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai Raum zur Entfaltung gewährte. Von dort spinnt Bisky die Fäden weiter von der Berliner Aufklärung zu Voltaire und führt in die Tiefen der Epochen: Aufklärung nicht als Entdeckung des Wertbewusstseins und auch weniger als Ausgang aus der Unmündigkeit, sondern vielmehr als deren „Entdeckung“.

Mehr oder weniger ungewöhnliche, adjektivische Nominalisierungen, wie etwa das Chaotische, Babylonische, Preußische, Großstädtische, Jüdische und Gewaltige, charakterisieren den herausragendenden Wesenszug der Stadt: ihre Vielfalt. Ein Buch über Berlin muss zwangsläufig auch starke, teils gegensätzliche Begriffspaare beinhalten, ohne diese vorschnell zu vereinheitlichen: Ost und West, Entfremdung und Heimat, Kommunismus und Nationalsozialismus, Besonderheit und Abnormität, Tradition und Mystifikation. Oder in der prägnanten Begrifflichkeit des Autors: „Werkstatt der Einheit“, „Exerzierfeld der Moderne“, „Schaufenster der Freiheit“…

Liest man die Biographie vom Ende her, dann blickt man durch das „Schaufenster der Freiheit“ auf eine lange Geschichte. Wie an kaum einer anderen Weltstadt haften an Berlin historische Zäsuren wie 1945, 1968 und 1989, feste Narrative wie die Trümmerzeit und die Einheit. Während Kontraste zwischen Ossis und Wessis, zwischen Achtundsechzigern und Springer-Lesern das städtische Selbstverständnis ausprägte, trug nach den Neunzigern ein Hang zum Besonderen zur Selbstmystifikation bei – Berlin als „Ort für Individualisten, die gern in Gesellschaft anderer Freigeister leben“. Wiewohl Bisky seinen Kapiteln paratextuell Zitate voranstellt, im tausendseitigen Seitengewirr blitzen immer wieder Sätze hervor, bei denen man hängen bleibt und die Zitatcharakter haben: „Die Stadt ist ein Sehnsuchtsort für jene geworden, die ihr Leben gern selbst definieren.“

Und damit ist das Buch, was es im Titel vorgibt zu sein – eine Biographie, die über und aus dem Leben (bíos) geschrieben (gráphein) ist und von einer Stadt lebendig, mit langem Atem und viel Liebe zum Detail erzählt.

Titelbild

Jens Bisky: Berlin. Biographie einer großen Stadt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
975 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783871348143

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