Der ewige Kreislauf

In Bov Bjergs Roman „Serpentinen“ versucht ein Vater in Begleitung seines Sohns, die Geister der Vergangenheit zu bändigen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Vater fährt mit seinem Sohn durch die Schwäbische Alb und erinnert sich an seine eigene Kindheit. In diesem kurzen Satz lässt sich auf sichtbar banale Weise die Handlung von Bov Bjergs zweitem Roman Serpentinen zusammenfassen. Der Autor hat vor ein paar Jahren mit Auerhaus für großes Aufsehen und sehr gute Verkaufszahlen gesorgt; ein Buch, dem viele Kritiker äußerst wohlwollend gegenüberstanden, dem man aber auch mit einer gewissen Portion Skepsis begegnen konnte. Zu deutlich versuchte Bjerg es mehreren Lesergruppen recht zu machen: Jenen, die einen Coming-of-Age-Roman aus dem Popliteratur-Kosmos erwarteten (immerhin basiert der Titel auf einem berühmten Song der britischen Band Madness), aber auch jenen, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit komplexen Themen wie Depression und Selbstmord erwarteten – denn um all das ging es in dem Roman.

Für Serpentinen lässt Bjerg nun die schwungvolle Pop-Maskierung fallen und zeichnet ein erschütterndes Porträt einer verletzten Seele und deren vergeblichen Versuchen, aus einem scheinbar festgelegten, generationenübergreifenden Kreislauf aus Depression, Alkoholismus und Selbstmord auszubrechen. Wie bereits anfangs erwähnt: Der Ich-Erzähler fährt mit seinem Sohn durch die Schwäbische Alb, seiner Herkunftsregion. Zunächst denkt man an einen gemeinsamen Urlaub; sie besuchen die Großmutter in einem Pflegeheim, einen alten Jugendfreund, der als Landwirt arbeitet. Sie sehen sich die Orte der Kindheit des Vaters an und albern herum. Der Ich-Erzähler ist – so erfahren wir im Laufe des Romans – Soziologie-Professor in Berlin, mit einer erfolgreichen, jungen Anwältin verheiratet, und erst spät Vater geworden. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, der Vater war Bauarbeiter und oft arbeitslos, schlug die Kinder, war Alkoholiker. Als der Ich-Erzähler sieben Jahre alt war, erhängte sich der Vater, der Junge hat ihn womöglich gefunden, doch hier spielt das Gedächtnis ihm oft einen Streich, wie auch, dies wird im Laufe des Romans klar, bei anderen Erinnerungen.

Langsam erfährt man, dass die Reise mit dem Sohn wohl nur den Zweck erfüllt, das Schicksal herauszufordern: Über mehrere Generationen hinweg haben sich die Väter in der Familie umgebracht, sie hatten mit Depressionen zu kämpfen, die sie versuchten, mit Alkohol zu ertränken. Auch der Erzähler trinkt ununterbrochen – und zwar ausschließlich Dosenbier, weil er sich nur damit seiner proletarischen Herkunft versichern kann in seinem steten Versuch, aus einer verlorenen Kindheit eine Identität zu konstruieren. Auch eine Identität als Vater, die er stets anzweifelt, an der er zu zerbrechen glaubt. Dies geht so weit, dass er eines Abends in einer Pension versucht, den elfjährigen Sohn mit einem Kissen zu ersticken. Oder sich dies zumindest ausmalt, so genau weiß man das nicht.

Die große Stärke des Romans ist jedoch weniger sein Plot als seine Sprache. Bjerg entscheidet sich für eine Art Anekdotensammlung – kurze, manchmal fast im Telegrammstil verfasste Passagen, in denen er zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her pendelt, den Leser teilhaben lässt an dem verzweifelten Versuch der Identitätskonstruktion. Er geht damit den umgekehrten Weg von Auerhaus, das schwungvoll und unterhaltsam beginnt und gegen Ende immer ernster, verzweifelter, und damit auch unzugänglicher wird. Serpentinen läuft schleppend an, man kommt unheimlich schwer in diese zähe, kalte Erzählweise hinein. Doch wie bei aller guten Literatur liegt in dieser Hermetik der besondere Reiz. Und es ist erstaunlich, dass Serpentinen trotz des etwas konstruierten Showdowns bis zum Ende nichts von diesem Reiz verliert – auch wenn es dem Leser nur eine momentane, vergängliche Katharsis bietet, bei einem zeitgleichen Blick in eine mögliche Zukunft, die ebenso trostlos erscheint wie die Gegenwart.

Titelbild

Bov Bjerg: Serpentinen. Roman.
Claassen Verlag, Berlin 2020.
272 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783546100038

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